Kapitel 9, Dämonentraining
Nachdem der Freitag völlig normal begonnen hatte und auch Tobias wieder zu nerven begann, da ja am nächsten Tag Samstag war und er sie ins Kino eingeladen hatte, ging Astrid wie neuerdings üblich zu Winters, obwohl der Laden für heute geschlossen hatte. Astrid kannte den Grund und trat trotzdem durch die Tür. Ca und auch Robin waren zusammen mit ihr gekommen und es schien, als wären sie die Ersten. Die anderen drei, so erklärte Ca Astrid, waren von anderen Schulen in London.
„Wo haben Dämonen eigentlich noch ihre Stützpunkte?", hatte Astrid auf den Weg zu Winters interessiert gefragt.
„Nun, so ziemlich überall, meist in Großstädten. Dämonen, die irgendwo auf dem Land leben,
erlernen solche Sachen, wie wir jetzt in einer Gruppe, allein von ihren Eltern. Die meisten ziehen sich meistens auch einfach zurück und versuchen, nicht von Engeln aufgespürt zu werden, aber manche schließen sich dann den anderen Dämonen an. Als Kind von Dämonen gibt es nur diese Möglichkeiten. Einmal Dämonenblut, immer Dämonenblut. Die Engel würden Hackfleisch aus denen machen", hatte Ca erklärt.
„Weißt du eigentlich schon, welche Waffe dir deine Flügel geben?"
Astrid war irritiert, zum einen über den komischen Inhalt der Frage, zum anderen über den plötzlichen Themenwechsel. Waffen... Mr. Winters hatte doch letztens etwas über Waffen erzählt, erinnerte sie sich.
„Waffe?"
„Ja, ich habe einen Bogen, Robin hier hat ein Schwert..."
„Keine Ahnung."
„Was kannst du denn so gut?", fragte Robin und das war das erste Mal, dass Astrids Banknachbar in Geschichte persönlich mit ihr sprach.
„Ähm... keine Ahnung."
„Kannst du gut Treffen aus Entfernungen oder sonst irgendetwas?"
„Ich denke, dass ich schon relativ zielsicher bin, was Entfernungen angeht, aber ich war früher auch mal in einem Fechtkurs und bei der Selbstverteidigung..."
„Dann werden es vermutlich Dolche und Wurfmesser, die man sowohl werfen, als auch für den Nahkampf verwenden kann, je nachdem, in welcher Situation du dich befindest. Vielleicht sogar ein Scharfschützengewehr, mit dem kann man sich auch auf kurze Distanz verteidigen."
„Man kann ein Scharfschützengewehr aus seinen Flügeln machen?", fragte Astrid ungläubig.
„Dass du eins bekommst ist ziemlich unwahrscheinlich, da man schon von vornerein sehr talentiert sein muss, um mit einem umzugehen."
Astrid nahm dies nicht als Beleidigung auf, schließlich war sie ja nicht sonderlich talentiert, wie auch? Aber cool wäre es schon, wenn sie eine tolle Waffe bekommen würde...
„Aber wie kann das sein, dass man neumodische Waffen bekommen kann, wenn es Engel und Dämonen schon seit jeher gibt?", fragte Astrid nach längerer Überlegung.
Ca zuckte mit den Schultern.
„Schätze, unsere Flügel spiegeln nicht nur unsere Seele, sondern auch unseren Zeitgeist wieder. Wie sie funktionieren bleibt wohl ein ungeklärtes Mysterium."
„Guten Tag, junge Schüler", lächelte ihnen Mr. Winters entgegen.
„Leaga scheint sich wie erwartet zu verspäten", stellte Robin fest, „Ich kenne ja schon die ein oder andere Geschichte", fügte er als Antwort Astrids fragenden Blick hinzu und der alte Mann nickte zustimmend, als hinter den Dreien die Türglocke erneut erklang, und Thomas den Laden betrat. Als er Astrid erblickte, verdüsterte sich sein Blick kurz. Warum hassten alle Astrid von Anfang an nur so sehr? Daran, dass sie ein Dämon war, konnte es ja nun nicht liegen, denn wenn sie Astrid deswegen verurteilten, verurteilten sie ihre eigenen Leute. Aber irgendetwas musste es doch geben, und das sollten sie Astrid doch einfach direkt sagen. Vermutlich steckte wieder viel mehr dahinter, oder? Wieder etwas, dass ihr keiner sagen durfte, wie Sun schon einmal angedeutet hatte.
Die Tür wurde erneut aufgestoßen und die Zwillinge hasteten völlig aus der Puste in den Laden.
„Ist Leaga denn noch nicht da?", schnaufte der eine und Mr. Walsers schüttelte zur Antwort den Kopf.
„Holt erstmal Luft, Jungs."
„Wir haben uns extra beeilt, weil wir dachten, wir wären zu spät", meinte der andere Zwilling außer Atem, „Wenigstens für uns könnte sie sich ein bisschen mehr Mühe geben."
Mr. Winters lächelte entschuldigend.
„Ich denke, das ist einer ihrer Angewohnheiten, an denen ihr euch jetzt schon einmal besser gewöhnen solltet."
Alle in dem Raum seufzten genervt oder verdrehten die Augen.
„Na toll. Ich wusste schon von Anfang an, dass wir mit Leaga die schlimmste Lehrerin abbekommen haben", jammerte Thomas und Robin stimmte ihm zu.
„Ich habe ja gehört, dass ihr Zuspätkommen das Harmloseste an ihr wäre."
„Warum erklärt sie sich eigentlich bereit, diesen Job zu übernehmen, wenn sie ihn nicht einmal ernst nimmt?", beschwerte sich wieder einer der Zwillinge. Astrid versuchte einen Unterschied bei den Beiden zu finden, damit sie sie endlich mal auseinanderhalten konnte. Tatsächlich hatte einer der beiden etwas größere Augen, die auch ein klein wenig enger zueinanderstanden, während der andere die roten Haare wuscheliger trug. Jetzt nur noch herausfinden, wer Aiden und wer Ash war.
Nach einer halben Stunde dummen Herumsitzens, in denen Astrid in Erfahrung bringen konnte, dass Ash der mit den größeren Augen und Aiden der mit den wuscheligeren Haaren war, ertönte ein viertes und letztes Mal die kleide Ladenglocke und eine hochgewachsene Frau Mitte Dreißig betrat den Laden.
Ihr von kurzem braunem Haar umrahmtes, gleichgültiges Gesicht schweifte im Laden umher und ihre Augen schienen trotz des kalten Blickes jedes kleinste Detail zu fokussieren und zu analysieren. Sie sah dabei jeden ihrer neuen Schüler eine Weile in die Augen, sodass man das Gefühl hatte, dass diese Frau alle Gedanken und Gefühle aus nur einem Augenkontakt lesen konnte. Ein durchbohrender Blick und Leaga schien schon alles über ihre neuen Schüler zu wissen. Doch an Astrid blieben ihre Augen länger hängen als bei den anderen, so kam es Astrid zumindest vor. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sich ihre grünen und die forschenden blauen Augen Leagas trafen. Kurz glaubte Astrid, dass etwas in diesen Augen aufzublitzen zu sehen, doch nur so kurz, dass Astrid es für Einbildung hielt.
„Hallo Leaga", begrüßte Mr. Winters sie freundlich und brach die angespannte Stille, die sich wie eisige Kälte im Raum ausgebreitet hatte.
„Guten Tag, Paul. Viele sind es ja dieses Mal nicht, die du mir anvertraust. Haben wohl ein paar Mummensausen bekommen, als sie gehört hatten, wer sie trainiert?", gab sie zurück und Astrid hatte das Gefühl, dass Leaga einen harten und kalten Eindruck bei ihren Schülern schinden wollte.
„Was soll ich sagen, Leaga, es werden immer weniger, die den Mut aufbringen, sich überhaupt den Widerstand anzuschließen", erklärte Mr. Winters, „Es ist erschreckend, aber umso wichtiger ist es, jetzt nicht nachzulassen."
„Wir haben es zum Glück geschafft, ein paar Strippenzieher in die Finger zu bekommen, aber nur kleine. An die großen Fische kommen wir einfach nicht ran."
Neben Astrid räusperte sich Ash und fing dafür einen kalten Blick seitens Leaga ein.
„Sie sind zu spät, wir mussten lange warten", sprach er das aus, was eigentlich alle Jugendlichen in diesem Raum dachten, aber es einfach dabei belassen hätten.
„Was willst du von mir, Scheißerchen? Dass ich mich von euch rumkommandieren lasse? Sei froh, dass ich überhaupt gekommen bin", entgegnete ihn Leaga mit eiskalter Stimme.
„Aber...", wollte nun sein Bruder Aiden anfangen, doch Mr. Winters hob die Hand.
„Ich überlasse die Truppe dir, Leaga, du hast mein Vertrauen."
„Ich weiß."
„Ich weiß, dass sie gut bei dir aufgehoben sind."
„Das allerdings bezweifle ich."
Die Schüler tauschten sich untereinander Blicke des Ärgers und des Unwohlseins aus. Auf den ersten Blick schien Leaga eine Persönlichkeit von strenger Härte und Kälte zu sein, mit einen Hauch Abscheulichkeit, mit der sie zu versuchen schien, alle ihrer Schüler in die Flucht zu schlagen. Und doch hatte sie etwas Geheimnisvolles an sich, etwas, dass hinter ihrer harten Schale versteckt blieb, bis sie einer durchbrechen vermochte.
Mr. Winters nickte schließlich Leaga zu, die daraufhin die Türklinke in die Hand nahm und wieder nach draußen marschierte. Zögerlich folgte ihr die Truppe von Schülern. Niemand sprach ein Wort, nicht einmal Ca. Eingeschüchtert von der kalten Ausstrahlung ihrer Lehrerin trauten sie es sich nur, verunsicherte Blicke zuzuwerfen. Nur einmal wurde die Stille von Leaga unterbrochen.
„Die nächsten Male joggen wir hierher."
Nach dieser Aussage war jeden zum Seufzen zumute, doch niemand wagte es, auch nur ein Geräusch des Widerstandes von sich zu geben.
Der lange, einstündige Weg führte sie in ein verlassenes Lagerhaus, welches abgelegen der Stadt groß, grau und dunkel vor ihnen emporragte. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, Wände mit Graffiti besprüht und Efeu bahnte sich schon einen Weg die Mauern hoch. Die schwere Eisentür, die den Eingang bildete, war für Leaga kein Hindernis, auch wenn Astrid den Anschein hatte, dass sie verschlossen gewesen war. Im Inneren war es dunkel, nur das durch die zerbrochenen Fenster einfallende schwache Licht des späten Nachmittags durchflutete die große Halle, sodass fahle Helligkeit entstand und Staubpartikel in den schwachen Strahlen tanzten. Doch ganz sicher ließ es nicht Leagas Gesicht freundlicher erscheinen, sondern bewirkte eher das Gegenteil.
Sie stellte sich in die Mitte der Halle und wandte sich ihren Schülern zu. Ihre Stimme hallte im leeren Raum, was dem Gesagten noch mehr Ausdruck verlieh.
„Wem mein Training oder meine Lektionen zu hart sind, den rate ich gleich, die Gruppe zu verlassen, denn als andere Option wäre der Tod. Erwartet ja nicht von mir, sanft behandelt zu werden oder faul zu sein, denn ein schwaches Mitglied ist eine Gefahr für die Gruppe. Seid ihr also zu schwach, trainiert ihr lieber härter oder ihr fliegt."
„Meinst du nicht, dass du wieder deine Sachen packen solltest, Giftblut?", hänselte Ash wieder Astrid und spuckte aus. Thomas und Aiden lachten, Ca funkelte ihn böse an und Robin sah teilnahmslos weg. Na Danke, dachte Astrid, die den Gruppenzusammenhalt jetzt schon für 'n Arsch hielt.
„Gibt es ein Problem, Ash?", fragte Leaga mit strengem Ton.
„Ja. Ich glaube nämlich, dass diese Verräterin nicht hierhergehört."
„Und was lässt dich das annehmen?"
„Habe ich das nicht gesagt? Sie hat Verräterblut in sich."
Verräterblut... sollte das vielleicht heißen, dass Astrid irgendetwas mit den Engeln zu tun hatte? Eigentlich unwahrscheinlich, aber sie kannte ja nicht einmal ihre ganze Vergangenheit, also war es doch möglich. Ihr Verlangen und Neugier nach Antworten wuchsen mit jedem neuen Geheimnis, dass sie zu betreffen schien.
Leaga trat an Ash heran, ihre Nasenspitzen berührten sich fast.
„Ich kann Verräter nicht leiden. Aber sie ist definitiv keiner. Hör also auf so einen gequirlten Dünnschiss von dir zu geben. Es tut der Gruppe nicht gut, wenn Zwiespalt und Uneinigkeit herrschen, und bemerke ich noch einmal, dass du mutmaßlich versucht, auch nur einen in der Gruppe zu beleidigen, zu hintergehen oder ihm absichtlich wehzutun, dann fliegst du nicht nur aus der Gruppe, sondern bekommst es auch mit mir zu tun!"
Eingeschüchtert nickte Ash. Der Anblick hatte weder etwas Genugtuendes noch Befriedigendes für Astrid, nur Scham, den sie für Ash empfand. Manche Idioten lernten es manchmal einfach nie, und Astrid wusste, dass Ash sich nicht davon abbringen lassen würde, ja nicht einmal von Leaga, bei jeder günstigen Gelegenheit Astrid wieder eins reinzuwürgen.
„Und wenn ihr nochmal über solch einen vulgären Witz lacht", wandte sich sie nun auch Thomas und Aiden zu, „werdet ihr gleich mit ihm rausgeworfen, habt ihr mich verstanden?"
Die beiden nickten eifrig.
Dann sah Leaga Astrid an.
„Denk ja nicht, dass du von mir in Schutz genommen oder besser behandelt wirst. Mir geht es nur um das Wohl der Gruppe und dass keine Chance besteht, dass ihr irgendwann wegen irgendeiner Dummheit sterbt. Wegen Fehler oder Nachsichtigkeit. So etwas hatten wir schon zu oft. Und deswegen bin ich hier. Um euch auszubilden, damit ihr überlebt und euch zu lehren, wie das am besten geht. Und wenn man sich nicht untereinander trauen kann, sind alle von Anfang an dem Untergang geweiht. Die Seraph brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen kann, denn die Zahl der aktiven Widerständler ist rapide gesunken. Sie brauchen keine Kleinkinder von Dämonen, die nicht wissen, wie Gruppenzusammenhalt und Vertrauen funktioniert, im Gegenteil. Wenn ihr das also nicht lernen könnt, seid ihr dem Widerstand ein Klotz am Bein. Ich will damit nicht, dass ihr für ewig beste Freunde sein müsst, die nie voneinander ablassen können, sondern einfach aufeinander zählen könnt. "
Leaga hatte ihren Vortrag beendet und kam auf das Training zurück. Doch auf Astrid hatte ihre Rede einen tiefen und ehrenvollen Eindruck hinterlassen. Mit Bestimmtheit konnte sie behaupten, dass ihre Lehrerin diese Sachen nicht ohne Grund klargestellt hatte und das Beste für alle wollte, auch wenn man das eindeutig angenehmer gestalten konnte und nicht so, dass gleich alle vor ihr Angst bekamen. Dennoch würde Astrid versuchen, immer nach den Worten von Leaga zu handeln.
„Zuerst möchte ich sehen, wie ihr eure Flügel wachsen lässt. Los!", erteilte ihre Lehrerin die erste Anweisung.
Jeder schaffte es, die Flügel sofort erscheinen zu lassen. Alle außer Astrid.
„Versuch einfach, deinen Rücken kribbeln zu lassen. Denk an das erste Mal, als du deine Flügel hervorgerufen hast", half ihr Ca und Astrid versuchte sich zu konzentrieren, was allerdings nicht so leicht war, wenn ihr hänselnde Seitenblicke von Ash zugeworfen wurden. Kurz bemerkte sie, wie Thomas sich die Hände vor den Mund hielt, um nicht laut los zu lachen.
„Was ist mit dir, Astrid? Schaffst du schon die erste Aufgabe nicht?", fragte Leaga genervt.
Jetzt konnte sich Thomas nicht mehr halten, erntete dafür jedoch einen weiteren tadelnden Blick von ihr.
Astrid versuchte an den Tipp von Ca zu denken und versuchte es, während sie die hämischen Blicke einiger Gruppenmitglieder zu ignorieren versuchte. Kribbeln auf den Rücken, Wärme... spürte sie da etwas? Zuerst spürte sie ganz leicht die ausbreitende Hitze, bis sie irgendwann explodierte und sie eindeutig ihre Flügel auf dem Rücken spürte. Sie hatte es geschafft!
„Bravo, nach ganzen fünf Minuten", kommentierte Leaga ihre schwache Leistung und Astrid fragte sich, ob sie das extra machte, nachdem sie zuvor Astrid in Schutz genommen hatte.
Astrid blickte über ihre eigenen Schultern, verdrängte die Beleidigung seitens ihrer Lehrerin, und bestaunte diesmal ohne Schmerzen oder schwindendes Bewusstsein ihre Flügel. Wie beim ersten Mal war der Anblick atemberaubend, die bläulich schimmernden Federn wunderschön...
Sie sah zu ihren Mitschülern und erkannte, dass Ca große weiße Flügel mit rosa Spitzen besaß. Die Zwillinge hatten tatsächlich schwarze Flügel mit einer Spur orange, und Astrid hätte nicht gedacht, dass es auch schwarze Flügel bei Engeln gab, sie sahen auch längst nicht so elegant wie die weißen Flügel aus. Thomas hatte hingegen wieder weiße Federn mit blassblauen Spitzen und Robin wieder schwarze mit einer Spur grün. Aus der Tasche holte er einen Ein-Augenverbannt heraus und legte ihn an, sodass Astrid sich unweigerlich nach dem Grund fragte, warum er sich ein Auge verdecken musste.
„Jetzt entnehmt eine Waffe aus euren Federn!", wies Leaga sie an, sodass Astrid die Flügel nicht weiter bewundern konnte.
Ca entnahm ihren Flügeln zwei Federn, die kurz aufleuchteten und aus denen ein Bogen und ein Pfeil wurden. Astrid sah sich um und stellte fest, dass auch alle anderen aus der Gruppe es Ca gleichmachten, indem sie einfach eine Feder aus ihren Flügeln rupften und daraus eine Waffe wurde. Binnen weniger Sekunden hatte jeder von ihnen eine Waffe in der Hand, Thomas eine Pistole, Robin ein Schwer, Ash Schlagringe und Aiden ein Tomahawk. Anscheinend konnte man alle möglichen Waffen aus seinen Federn ziehen.
„Was ist mit dir wieder?"
Leagas kalter Ton ließ Astrid aufschrecken und in das prüfende Gesicht ihrer Lehrerin schauen. „Entschuldigung", stammelte Astrid.
„Starr nicht so dumm in der Gegend rum!"
Astrid hörte Ash und Thomas wieder kichern und sah gerade noch, wie sie sich ein weiteres Mal hämische Blicke zuwarfen, als sie unter Leagas Blick erneut ernst wurden.
Astrid fasste an ihren Flügel und berührte ihre weichen Federn. Musste sie wirklich eine Feder herausziehen? Sie vertrieb schnell ihre Zweifel aus dem Kopf und zog sich unter einem kurzen Zucken eine Feder heraus, die daraufhin zu leuchten begann. Eine Sekunde später hielt Astrid ein Langschwert in den Händen. Die Scheide war dunkelgrün und der Griff mit einem blauen Saphir versehen, der die Form eines Mondes hatte.
„Gut", machte Leaga weiter, „Die Trainingsstunden werden in zwei Lektionen aufgeteilt. Einmal der Kampf mit eurer Waffe und der Kampf ohne eure Waffe. Außerdem werden wir sehen, welche weiteren Fähigkeiten ihr besitzt, aber dazu kommen wir später. Um euren Kampfgeist zu stärken, würde ich euch vor allem vor dem Training der Selbstverteidigung raten, zu meditieren, da es den Geist stärkt und die Konzentration fördert. Versucht jetzt, mit euren Flügeln zu fliegen! Die Waffen behaltet ihr in der Hand, einige wissen ja noch nicht, dass sie erst verschwinden, wenn auch die Flügel verschwinden. Aber jetzt, fliegen!"
Die nächste Aufforderung. Astrid konzentrierte sich auf das Gefühl ihrer Flügel, versuchte zu spüren, wie sie an ihren Rücken gewachsen waren und sich mit dem Rest ihres Körpers verbanden. Ihre Rückenmuskeln bewegten sich. Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, wie es ist, zu fliegen, doch als ihre Füße keinen Kontakt mehr zum Boden hatten, wusste sie, dass sie es geschafft hatte. Sie flog! Sie bemerkte, wie die anderen schon umherflogen, doch sie ließ sich davon nicht runterziehen. Außerdem lernte sie schnell. Zwar brauchte sie etwas, sich an das Gefühl zu gewöhnen und sah wahrscheinlich wie ein umherstrampelndes Kleinkind aus, dass zum ersten Mal in ein Schwimmerbecken ging. Aber nachdem sie langsam versuchte, nach vorne, links, rechts hoch und runter zu fliegen und dabei ihren Körper unter Kontrolle zu halten, konnte sie in kurzer Zeit mühelos von einem Ort zum anderen schweben und war dabei nach einigen Minuten sogar schneller als Thomas. Das war das beste Gefühl, dass sie je verspürt hatte, Freiheit und Leichtigkeit.
„Gut, dass reicht jetzt", orderte Leaga sie wieder auf den Boden zurück, doch Astrid hätte es alles andere als ausgemacht, ein wenig weiter durch die Lüfte zu fliegen.
„Das Training ist für heute beendet, nachdem ich jetzt einschätzen konnte, wie weit ihr seid, was die Flügelbeherrschung angeht, und das ist leider nicht so berauschend. Wenigstens konntet ihr heute noch einmal ein Gefühl für Form und Größe eure Flügel bekommen, nachdem wir nicht so mir nichts dir nichts in der Gegend rumfliegen können. Die Flügel mussten genauso beherrscht werden wie der Körper. Nächste Woche geht es länger und härter zu. Bevor ihr geht, noch ein paar Hinweise und Regeln für den Kampf, merkt sie euch gut. Versucht alles, was ihr hier lernt mitzunehmen. Alles was ich sage, alles was ihr macht und alles, was ihr seht. Hintergeht nie eure Gruppe, auch wenn ihr euch untereinander nicht ausstehen könnt. Stellt euer Leben unter das der Gruppe, auch wenn ihr gefoltert, misshandelt oder verstümmelt werdet. Verratet ihr die Gruppe, verratet ihr alle aus dem Widerstand. Wenn ihr kämpfen müsst, versucht niemanden zu töten, sonst seid ihr nicht besser als Itrof oder den Cherub. Tötet nur, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt, glaubt mir, euer Gewissen wird mir danken. Spielt aber auch nicht mit den Gegnern, denn man weiß nie, was noch kommt, das ist sehr wichtig." Bei dieser Aussage machte sie eine Pause, um alle eindringlich anzuschauen.
„Seid vorsichtig und wachsam, denkt daran, euren Schutz aufrecht zu erhalten. Auch wenn ihr trainiert, seid ihr human zueinander. Ehrlichkeit und Vertrauen müssen in der Gruppe herrschen. Keine Schuldzuweisungen, kein Herumkommandieren, und kein Herumnörgeln, wenn man nicht zum Leiter einer Mission ernannt wurde. Vertraut niemanden, von dem ihr nicht wisst, ob er ein Engel ist oder nicht. Ist sowieso egal, denn traut auch keinen Menschen. Je mehr Menschen euer Geheimnis verraten könnten, desto größer ist die Gefahr, von Engeln identifiziert zu werden. Das war's. Ab mit euch."
Astrid wandte sich unauffällig Ca zu, während sie bemerkte, dass die anderen ihre Flügel zurück in ihren Rücken wachsen ließen.
„Wie lässt man denn seine Flügel wieder verschwinden?", fragte sie mit gesenkter Stimme, damit nicht gleich wieder alle mitbekamen, wie wenig sie doch Ahnung hatte.
„Stell dir einfach vor, wie sie wieder in deinen Körper einziehen", antwortete sie und blickte sie ermunternd an.
Astrid bemerkte aber nach einiger Konzentration, wie ihre Flügel wieder in ihren Rücken wuchsen und Wärme hinterließen. Auch das Langschwert verschwand mit einem kurzen leuchten aus ihrer Hand, wie Leaga gesagt hatte.
„Übrigens", wandte sich Ca nochmal an sie, „Ist es irgendwie lustig, dass sich deine Augen nach dem Erscheinen deiner Flügel blau färben. Das heißt, dass du die Augen von dem einen, die Flügel von dem anderen Elternteil geerbt hast."
„Und das bedeutet...?", fragte Astrid gedehnt.
„Die Augen spiegeln die Seele der Flügel wieder, wenn sie einmal zum Vorschein treten. Bei Robin färbt sich lustigerweise nur ein Auge, aber das liegt auch vielleicht daran, dass..."
„Ca!", rief Robin, als hätte er mitbekommen, dass die Mädchen gerade über ihn geredet hatten, aber Astrid war schon wieder in Gedanken versunken.
Grün und Blau. Das erinnerte sie an was.
„Astrid, kommst du? Wir gehen", rief Ca ihr zu und riss Astrid aus ihrem Gedankengang und sie verlor ihren roten Faden. Ein wenig bedrückt, unterbrochen worden zu sein, bevor sie auf einen Schluss gekommen war, lief sie neben Ca und Robin nach draußen und verließ die dunkle Fabrikhalle, in der sie ihre erste Trainingsstunde hatte und zum ersten Mal geflogen war. Draußen regnete es.
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