Kapitel 8, Normalität
Ihre Gedanken wurden von einem Schatten unterbrochen, der Astrid plötzlich die warme Herbstsonne raubte und dessen Besitzer sie sowieso schon die ganze Zeit über zu verfolgen schien, zumindest, was die letzten Tage anging. Irgendwie spürte Astrid schon, wer da vor ihr stand noch ehe sie nach oben in das ihr wohlbekannte, grinsende Gesicht von Tobias Brown sah.
„Wusste gar nicht, dass du die Schule schwänzt", begrüßte er sie.
„Und ich nicht, dass du scheinbar dazu angeheuert wurdest, Schulschwänzer zu finden und wieder in den Käfig namens Schule zu stecken, oder verfolgst du mich etwa?", grüßte Astrid sarkastisch zurück.
„Wie kommst du denn darauf? Ich könnte doch auch einfach nur eine Freistunde haben und zufällig hier vorbeigekommen sein."
„Unwahrscheinlich. Erstens hättest du bei einer Freistunde zu wenig Zeit, in London zufällig in den Hyde Park zu gehen, wo doch unsere Schule fast am anderen Ende der Stadt liegt. Und hättest du zweitens jetzt mehrere Stunden Zeit, würde jeder normale Mensch diese mit etwas Anderen verbringen als extra nach London, und dazu noch alleine, zu fahren. Normale Menschen würden vermutlich ihre gewonnene Freizeit damit verbringen, Hausaufgaben nachzuholen, noch einmal zu lernen, auszuschlafen oder mit den Freunden in der Gegend irgendetwas anderes zu machen. Essen oder so. Oder liege ich da falsch?"
Tobias lachte über Astrids langen Vortrag über ihre Schlussfolgerungen.
„Und was, wenn es so ist? Wenn ich wirklich zufällig allein hier vorbeigekommen bin?"
„Dann gehörst du definitiv zu den seltsamen Menschen. Außerdem glaube ich dir sowieso nicht."
„Ich schätze mal, du hast es erfasst, Sherlock Holmes", lachte Tobias weiter, während er sich neben Astrid auf das Gras setzte. Irgendwie war Astrid froh, ein wenig Gesellschaft zu haben, auch wenn sie sich in ihrer absoluten Ruhe nicht unwohl und allein gefühlt hatte.
„Tatsächlich", sprach Tobias weiter, „habe ich heute deine Freunde allein auf den Schulhof gesehen und mir Sorgen gemacht"- an dieser Stelle gab Astrid ein ungläubiges Geräusch von sich- „und habe sie nach dir gefragt. Sie sagten, es ginge dir nicht so gut, aber dass ich bei dir zu Hause wohl keinen anfinden würde, da du ausgegangen bist."
„Und anhand dieser Informationen hast du mich gefunden?", fragte Astrid verblüffend.
„Naja, nein. Ich bin natürlich trotzdem bei dir Zuhause gewesen. Konnte deinen Freunden nicht vertrauen, sorry. Jedenfalls hat so ein kleiner Junge die Tür aufgemacht. War scheinbar auch krank."
„Fire ist krank?", unterbrach ihn Astrid, „Und niemand war sonst da?"
Tobias schüttelte den Kopf.
„Er war dick eingemummelt und sah aus, als wäre er frisch aus dem Bett gestiegen. Den Anschein nach also eine Erkältung, vielleicht sogar Fieber. Aber unwichtig jetzt. Jedenfalls habe ich ihn gefragt und er meinte, dass du nicht im Haus seist. Da habe ich nachgefragt, ob er denn trotzdem weiß, wo du stecken könntest, und er verriet mir allerhand Orte in London."
„Also hast du einfach nur richtig geraten?"
Tobias lachte ein wenig verlegen.
„Nein, habe einfach nur überlegt, wo der beste Rückzugsort für dich wäre, und da konnte ich außer den Hyde Park eigentlich alles ausschließen. Und eigentlich dachte ich, jetzt eine kränkliche Astrid vor mir zu haben, die dringend ins Bett müsste als in London herumzulaufen, aber dann saßt du vor mir, scheinbar kerngesund. Naja, bis auf dein blaues Auge. Hast dich wohl mit irgendjemanden angelegt?"
„Falsch. Ich bin gegen einen Türrahmen gelaufen und habe jetzt Kopfschmerzen", grummelte Astrid ihre improvisierte Lüge. Tobias war ihrer Meinung nach eindeutig zu schlau und zu unnachgiebig. Genau wie sie. Keine gute Mischung.
Er sah sie besorgt an, sodass Astrid unwillkürlich lachen musste.
„Guck nicht so scheinheilig mit geheuchelter Sorge."
„Aber ich mache mir Sorgen."
„Dann hör damit auf."
„Wieso?"
„Weil sie völlig unbegründet sind."
Plötzlich kam Astrid ein Gedanke. Was wenn Tobias auch ein Engel oder Dämon war? Konnte das möglich sein? Eigentlich nicht. Alle, die bisher zu diesen Rubriken dazugehört hatten, wussten von Astrids wahrer Identität und haben sich auffällig seltsam verhalten. Klar, Tobias war auch seltsam, aber auf einer anderen Weise. Er hatte noch nie irgendwelche komischen Andeutungen gemacht, sondern schien einfach immer nur ein wenig sonderbar zu handeln. Astrid betete, dass er einfach normal war, dann konnte sie sich wenigstens in seiner Gegenwart normal fühlen.
„Weißt du was, Brown?", fing Astrid aus den Nichts an, „Ich werde mit dir am Samstag ins Kino gehen."
Astrid sah ihn zwar nicht an, aber sie spürte sein Grinsen, dass er ihr zuwarf.
„Wirklich? Hätte nicht gedacht, dass du so schnell aufgibst, Evers."
„Nenn es nicht aufgeben. Du hast mich doch eingeladen, oder etwa nicht? Wie könnte ich eine kostenlose Portion Popcorn abschlagen?"
Astrid erwiderte sein Grinsen.
„Nenn es also lieber Ergreifen einer günstigen Gelegenheit."
Tobias lachte.
„Ich habe dich allerdings eingeladen. Das heißt aber auch, dass ich den Film aussuchen werde."
„Ein Glück nur, dass ich offen für alles bin, solange es gut ist, und ich will für dich hoffen, dass du dir einen guten Film aussuchst."
„Sonst was?"
Astrid wandte sich von seinem Gesicht ab und beobachtete einen Vogel dabei zu, wie er auf den Rasen umherhüpfte um nach Fressen zu suchen.
„Sonst was?", hakte Tobias ungeduldig nach. Astrid lachte.
„Sonst kannst du es dir abschminken, dass ich mich je wieder von dir einladen lasse. Ich denke schon, dass man ein Minimum an guten Geschmack haben sollte."
„Schließt das auch das Halloweenfest mit ein?"
„Warum überrascht es mich nicht, dass du fragst?"
„Wie du am Anfang wahrscheinlich schon feststellen musstest, ich bin zu lesen wie ein offenes Buch."
„Und genauso vorhersehbar."
„Wie lautet also deine Antwort?"
„Ich kann nicht tanzen."
Tobias lachte, während Astrid dabei zusah, wie sich der Vogel, wahrscheinlich enttäuscht, nichts Brauchbares zum fressen gefunden zu haben, in die Lüfte erhob und davonflog. Konnte Astrid mit ihren Flügeln jetzt eigentlich auch fliegen?
„Dann bringe ich es dir eben bei."
„Was?", fragte Astrid, aus ihrer Überlegung gerissen, noch einmal nach.
„Ich kann dir tanzen beibringen, wenn du magst."
„Oh bitte nicht", lehnte Astrid das Angebot ab. Tobias ging ihr nun wirklich schon eine ganze Weile lang auf die Nerven, sie war es nicht gewohnt, so viel und so lange mit einem Menschen zu tun zu haben, sie war ja mit Ca und Sun schon völlig überfordert.
„Wieso? Du könntest..."
„Tobias, bitte. Ich habe wirklich noch nicht die Nerven dazu. Ich bin es normalerweise gewohnt, niemanden um mich herum zu haben. Das wird echt ein wenig zu viel für mich, verstehe das bitte."
Ein wenig gekränkt löste er den Blickkontakt mit Astrid.
„Okay."
„Hey, jetzt spiel hier nicht den Traurigen. Du warst derjenige, der zu mir gekommen ist und du wusstest auch genau, dass ich ziemlich ungesellig bin, also gib dich einfach damit zufrieden, dass ich noch mit dir rede und sogar mit dir ins Kino gehe."
Tobias nickte.
„Du hast recht. Ist okay."
Danach schwiegen Astrid und Tobias eine ganze Weile. Astrid versank unweigerlich wieder in ihre Gedanken. Sie hatte über all die Jahre eine ziemlich harte Schale aufgebaut. Hoffentlich hatte sie Tobias nicht zu sehr verletzt, er meinte es ja nur gut. Aber zu diesen Fest würden eine Menge Leute kommen, wenn nicht sogar die ganze Schule und sie konnte nicht tanzen. Sie stellte sich diesen Abend wieder einmal so vor, ein Buch zu lesen und einfach zu schlafen. Nichts ging doch über einen gemütlichen Abend im weichen Bett.
Ihre Gedanken schweiften ab zu Ca. Hoffentlich war sie ihr nicht böse, weil sie am Morgen so gut wie kein Wort mit ihr geredet hatte. Aber Astrid war einfach sauer gewesen, dass alle ihr Geheimnis wussten außer sie selbst. War das nicht berechtigt? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich sollte Astrid nur auf denjenigen sauer sein, der wollte, dass sie nichts erfährt, denn mit Sicherheit mussten sowohl Ca als auch Sun nach der Pfeife desjenigen tanzen und durften es ihr aus irgendwelchen absurden Gründen nicht sagen. So wie alle anderen aus ihrem Umfeld, die ihre wirkliche Abstammung wussten. War vielleicht sogar Mr. Winters derjenige, der das Sagen hatte? Möglich wäre es auf jeden Fall. Er hatte es ihr ja auch immerhin erzählt, aber da musste sie es ja auch langsam erfahren, schließlich waren ihr ein paar Stunden zuvor Flügel gewachsen und sie war von irgendeinem Typen verprügelt worden. Jetzt, wo sie die Geschichte kannte, war es nur logisch, dass dieser Mann ein Engel war. Aber warum war er hinter ihr her? Nur weil sie ein Dämon war? Irgendwie hatte Astrid die Befürchtung, da wäre noch mehr, als hätte sie noch immer nicht alles erfahren. Was war zum Beispiel mit ihren Eltern? Hatte sie Geschwister, die sie nie kennenlernen durfte? Was in ihren Leben war gespielt?
„Tobias?", unterbrach Astrid das Schweigen.
„Hm?"
„Warum genau willst du eigentlich so viel mit mir zu tun haben?"
Tobias kratzte sich am Nacken. War er nervös?
„Kannst du das nicht wieder präzise deduzieren und schlussfolgern?"
Als Astrid nicht darauf einging, fuhr er fort.
„Naja, keine Ahnung. Zuerst kam halt ein Lehrer auf mich zu und meinte, ich solle doch mal als Vertrauensschüler auf dich zugehen, so wie wir das mit allen Neulingen machen, denen es schwerfällt, sich in unserer Schule einzuleben. Und dann... keine Ahnung... hattest du einfach eine positive Ausstrahlung auf mich. Irgendwie hab ich dich gleich gemocht."
„Kaum zu glauben, dass du meine Ausstrahlung als positiv empfindest."
„Nein. Es war irgendwie die Art, wie du so mit der ganzen Situation umgehst. Dass du immer einen Spruch parat hast, so schlagfertig bist, so ehrlich..."
„Glaub mir, so toll bin ich nicht. Ich bin ungesellig und wahrscheinlich einfach hochnäsig. Eigentlich wundert es mich, dass ich schon zwei Freundinnen habe, denn ich habe sie nicht verdient. Wirklich nicht."
„Aber sollten die Tatsachen nicht dagegensprechen?"
„Ich weiß auch nicht was los ist. Früher war das nie so. Ist nur die Frage, ob die Menschen hier einfach komisch drauf sind- und davon bin ich wirklich überzeugt- oder ob ich mich einfach nur verändert habe."
Tobias lachte auf.
„Ich schätze einfach, dass du dich verändert hast, weil die Menschen hier so komisch sind, und du nichts dagegen machen kannst."
„Ja, wahrscheinlich. Ihr Londoner seid viel zu nervig. Ihr bekommt es ja sogar hin, dass ich viel rede. Ich glaube, so viel wie ich in den letzten Tagen geredet habe, habe ich das ganze letzte Jahr nicht."
Tobias schwieg und sah Astrid mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an.
„Was ist?", fragte Astrid irritiert.
„Nichts, ich... finde es nur so faszinierend, wie leichtfertig du mit deiner Vergangenheit umgehst, die offenkundig nicht sonderlich schön war, den Informationen nach zu urteilen, die ich bis jetzt bekam und erschließen konnte."
Astrid zuckte mit den Schultern.
„Hast du nicht noch Unterricht?", wechselte sie das Thema.
Tobias sah auf seine Armbanduhr und musste feststellen, dass es offensichtlich schon sehr spät war.
„Oh verdammt... Ähm, war schön, Astrid", er rappelte sich schnell auf, „Wir sehen uns doch hoffentlich morgen wieder", verabschiedete er sich und rannte wieder weg.
Astrid atmete laut aus. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Stunde Ausdauerlauf hinter sich. Früher hätte sie sich wohl noch einmal selbst getadelt, sich nicht zu sehr an die Menschen zu binden, zu enge Freundschaften zu schließen, doch nun war das ja nicht mehr von Bedeutung, jetzt, wo sie wusste, was der Grund für die ganzen Umzüge war. Die letzten zwei Wochen hatten Astrids Leben von Grund auf verändert, aber sie war keineswegs dankbar dafür. Sie hatte zwar Freunde gefunden, wusste nun, dass man sich durchaus um sie sorgte, doch für die neue helle Seite musste sie nun auch den Schatten in Kauf nehmen, der sich über sie gelegt hatte, wie als hätte sich eine dunkle Gewitterwolke über sie gebildet und den Himmel verdüstert. Irgendwann würde das Gewitter losgehen, doch Astrid hatte keine Ahnung, wie groß das Unheil sein würde, dass es anrichten, wo die Blitze einschlagen und was der starke Wind des Sturms alles mit sich reißen würde.
Sie war gerade mal am Anfang eines Weges, den sie nun beschreiten sollte. Ein Weg, der in völliger Dunkelheit lag, den sie aber dennoch gehen musste, auch wenn er sie nicht dorthin bringen würde, wohin sie gerne wöllte.
Astrid stand schließlich auf – es musste schon nach Mittag sein – und ging zu Mr. Winters Buchladen zurück.
„Ich habe dich nicht so früh erwartet", grüßte der alte Mann, nachdem Astrid seinen Laden betreten und zu ihn an die Kasse getreten war, während er die frisch gekauften Bücher eines kleinen Mädchens mit blonden Zöpfen in eine Tüte verpackte und sie ihr reichte.
„Danke, auf Wiedersehen", verabschiedete sie sich und verschwand aus den kleinen Laden.
Als Astrid ihn betreten hatte, war ihr das Schild über den Laden aufgefallen, auf den groß „Winters" draufstand. Es war eine niedliche, kleine Bücherei mit einer alten, aber schönen Fassade und einer verzierten Holztür und Fensterläden, in denen viele Bücher ausgestellt waren und jeden in den Bann zogen, der einmal an den Laden vorbeiging und ein Mindestinteresse an Büchern hatte.
„Ich könnte ja meinen, dass du heute gar nicht in der Schule warst, aber so voreingenommen möchte ich dann doch nicht sein", sprach Mr. Winters weiter.
„Auch wenn Sie damit alles andere als falsch liegen würden", entgegnete Astrid.
Er sah sie, entgegen Astrids Erwartungen, nicht vorwurfsvoll an, sondern winkte sie in ein kleines Hinterzimmer des Ladens.
„Warum sollte ich jetzt noch einmal vorbeikommen?", rückte Astrid gleich mit der Sprache raus.
„Ich schätze mal, du hast noch einige Fragen."
„Allerdings."
„Jetzt kannst du mir sie stellen."
Kurz zögerte Astrid.
„Wann genau hat sich Airolg zum alleinigen Herrscher erklärt?"
„Vor ungefähr zweitausend Jahren."
„Und seitdem gibt es Engel und Dämonen?"
„Nein. Erst seitdem sich einige Engel aus seinen Machenschaften befreien wollten. Das waren ein paar Jahrhunderte danach."
„Wer regiert jetzt?"
„Ein Engel namens Bartholomeus Itrof, Nachfahre von Airolg Itrof."
„Wie kann es eine Diktatur bei den Engeln geben, wenn die Menschen sie zum Teil schon abschaffen konnten?"
„Weil kein Engel stark genug dazu war, dem ein Ende zu setzten."
„Wie? Die Menschen haben das doch auch geschafft."
„Engel besitzen andere Mittel und Wege, um an der Macht zu bleiben."
„Und wie herrscht Bartholomeus so? Ich meine, was genau macht er eigentlich? Müsste seine Kraft nicht eigentlich geschwächt sein, da nicht mehr viele Menschen an einen Gott glauben?"
„Das stimmt, und das merken auch immer mehr Engel. Das macht ihn gerade wütend. Auf der anderen Seite gibt es dennoch Menschen, die an Engel glauben. Er manipuliert sie. Man könnte sagen, die Diktatur ist eher auf eine Organisation umgestiegen. Eine Organisation, Widersacher zu bezwingen. Schon früher haben die Menschen sich wegen Religion und Glauben bekriegt. Im Grunde möchte er eine Einheit. Einen Glauben. Und zwar den, dass die Menschen an ihn glauben und ihn vergöttern. Aber durch andere Glaubensrichtungen geht das nicht. Er will sie vernichten und somit alles kontrollieren. Zum alleinigen Herrscher werden. Deswegen müssen andere Religionen... ausgelöscht werden."
„Sie meinen, wie im zweiten Weltkrieg? Mit den Juden? Da stand Itrof dahinter?"
Mr. Winters nickte.
„Auch, ja. Seine Leute waren die höchsten Offiziere. Aber trotzdem, die Macht der Itrofs ist durchaus immer schwächer geworden, weil immer mehr Menschen anfangen haben, zu begreifen. Aber auch, weil sich die Engel einfach nicht mehr zeigen können. Feinde und Gefahren lauern überall, da wäre es zu riskant, seine Identität preiszugeben. Und außerdem kann und will sich keiner vorstellen, was passiert, wenn Menschen wirklich herausfinden, wer wir sind. Aber wir vermuten, dass Itrof einen Plan hat. Natürlich haben wir Dämonen aber keinen genaueren Überblick mehr, was seine näheren Ziele sind. Wir vermuten, dass er und seine engsten Verbündeten in der Regierung mitmischen und rechte Bewegungen in Gang setzten, kräftigen und unterstützen."
„Und Dämonen wollen den Menschen diese Freiheit, zu glauben, an was sie denken glauben zu müssen, lassen?"
„Zum einen. Zum anderen wäre es natürlich noch besserer, den Menschen zu zeigen, dass wir miteinander leben können, ohne irgendwelche Rangordnungen aufzustellen und uns Geflügelte als höhere Mächte anzusehen. Dann müssten wir uns und unsere Kräfte nicht verstecken."
„Und was ist mit anderen Ländern? Sprechen alle Engel eine Sprache?"
„Engel sprechen die gleiche Sprache wie in ihrem Land, aber Itrof hat nur seine Fäden in Europa. In allen anderen Kontinenten gibt es Engel nicht wirklich, deswegen findet der Glaube daran auch nur im Nahen Osten ihren Ursprung. In andere Länder zu vershwinden wäre jedoch auch eine Gefahr, da überall Spione und Agenten von Itrof auch im Ausland herumlungern."
„Und wie leben die Engel jetzt?"
„Wir leben inmitten der Menschen, wie wir es immer taten. Wir können unsere Flügel ja nach beliebigen offenbaren, machen es aber nicht. Du kannst dir wie bereits erwähnt sicher vorstellen, wie Menschen reagieren würden. Außerdem halten Dämonen ihre Identität vor Itrof und seine Armee versteckt, während Engel ein halbwegs normales Leben führen können, aber auch sie müssen sich vor den Cherub in Acht nehmen. Im Grunde geht es allen nur noch darum, entweder die Dämonen zu vernichten oder eben Itrof, obwohl diese Fehde weitaus komplizierter ist."
„Warum zeigt sich Itrof eigentlich nicht? Das würde doch alle Menschen wieder an Engel glauben lassen."
„So einfach ist das mittlerweile nicht. Zum einen würden die Menschen merken, dass wir ganz reale Wesen sind und anstatt uns zu vergöttern unsere Existenz akzeptieren, oder eher Experimente mit uns machen. Itrofs Plan wäre dahin, außer für ein paar Spinner, die dann denken, wir wären von Gott gesendet. Aber sobald sie herausfinden, dass wir so natürlich sind, wie alle anderen, werden Engel nicht mehr als übernatürliche Kräfte angebetet."
„Aber wir haben doch übernatürliche Fähigkeiten, sonst hätte ich Fire nie retten können, und all diese Kraftausbrüche..."
„Das kommt daher, weil unser Instinkt, sobald Gefahr da ist, uns Unmenschliche Kräfte gibt, soetwas wie ein Adrenalinstoß bei Menschen. Das mit den Waffen war eine Anpassung... aber dazu erfährst du später mehr."
„Ist es denn überhaupt nicht möglich, in Frieden zu leben? Ohne Gewalt?"
Mr. Winters schwieg eine Weile, eher er Astrid eine Antwort schenkte.
„Ich möchte nicht pessimistisch sein, aber ich fürchte nein. Itrof ist dazu viel zu kompromisslos, Itrof und seine ganzen Anhänger. Viele teilen eine Meinung mit ihm, und wie du sicher schon mitbekommen hast, sehen es auch Dämonen nicht ein, sich seinem Willen zu beugen. Jede Seite denkt, sie macht das richtige. Deshalb ist es auch so schwer, Gut von Böse zu unterscheiden. Und dann muss man bedenken, dass diese Situation nun schon seit Jahrhunderten so ist. Die Wunden sind schon zu tief. Ich denke, dass man heute keinen Engel und keinen Dämonen blind vertrauen könnte, nachdem sie sich zwar vereinigt aber über so lange Zeit sich bekämpft haben. Noch nicht zumindest. Du verstehst doch, was ich meine?"
Astrid nickte. Es war eine komplizierte Geschichte, und obwohl sie Mr. Winters Recht geben musste, wollte sie an einen dritten Weg glauben. Mr. Winters schien ihre Gedanken zu lesen und schüttelte traurig den Kopf.
„Solange niemand einen Gewinn sieht, Frieden zu schließen, wird niemand aufgeben, bis nicht eine der beiden Seiten endgültig besiegt wurde."
In dem Moment klingelte wieder das kleine Glöckchen an der Eingangstür und Mr. Winters und Astrid erhoben sich.
„Wenn du Fragen hast, kannst du jederzeit zu mir kommen", erklärte Mr. Winters und wollte gehen, doch Astrid hielt ihn noch kurz zurück.
„Ähm, kurze Frage noch. Wäre es den möglich, bei Ihnen zu arbeiten?"
Zum Teil überrascht und zum Teil erfreut sah er sie an.
„Natürlich, ich habe kein Problem damit. Komm einfach jeden Tag nach der Schule zu mir", willigte er ein und lächelte sie an.
„Ich freue mich über jede helfende Hand."
„Und ich mich über jede klärende Antwort auf meine Fragen", erwiderte Astrid.
Astrid versuchte so normal weiter zu machen, wie es im Bereich des Möglichen war. Sie ging zur Schule, dann zu Mr. Winters arbeiten und spät am Abend nach Hause. Sie spürte, dass vor allem Mrs Walsers mit Astrid reden wollte, doch irgendwie wollte Astrid das nicht. Nur vor ihren immer widerkehrenden Träumen konnte sie nicht fliehen, und Astrid wachte fast jede Nacht schweißgebadet auf. Inzwischen sollte sie sich eigentlich daran gewöhnt haben, doch das gelang ihr nicht. Mit Fire, der tatsächlich krank am Bett gebunden war, redete sie über ihre dämonische Herkunft und wie es für sie war, als plötzlich Flügel aus ihrem Rücken gewachsen waren. Er war schon immer ein aufmerksamer Zuhörer gewesen, der trotz voreiligen und unbedachten Antworten und Ratschlägen immer eine Hilfe war. Sie war auch eine gute Ablenkung, da er nicht viel machen konnte, außer den ganzen Tag im Bett liegen oder malen, wenn er sich besser fühlte, und Astrid fragte ihn nach einem Gemälde vom Sonnenaufgang, was er bereitwillig bejahte. Ca und Sun gegenüber verhielt sie sich normal und war dankbar dafür, dass es ihr die beiden gleichtaten. Durch Mr. Winters erfuhr sie, dass am Freitag die nächste Versammlung für die Seraph-Gruppe war, mehr Zeit zum reden und Fragen stellen hatte Astrid dank ihrer Arbeitszeit nicht mehr, da erstaunlich viele Kunden in den Laden kamen und Astrid immer die Hände voll zu tun hatte, sie zu bedienen und Bücher zu sortieren, während Mr. Winters seine neu erworbene Zeit damit verbrachte, Papierkram zu erledigen und Astrid fragte sich oftmals, wie der alte Mann das ganz allein hinbekommen hatte.
Am Donnerstagabend schließlich, als Astrid müde von ihrem langen Tag sich an ihre Hausaufgaben setzten wollte, fing Mrs Walsers sie ab.
„Wie war dein Tag, Astrid?", fragte sie, während Astrid die Küche passierte, um sich etwas zu trinken zu holen.
„Gut", antwortete sie kurz.
„Ich habe gehört, du arbeitest jetzt bei Mr. Winters?"
„Ja, ich helfe ein wenig aus."
„Hör zu", kam Mrs Walsers zu Sache und wandte sich Astrid zu.
„Wenn du irgendwelche Fragen hast oder mit irgendwem über die... Dämonensache reden willst, kannst du gerne zu mir kommen."
„Warum hat Mr. Walsers den einen Abend so getan, als wäre ich schuld an diesen Mordfall in London, der letztens in der Zeitung stand?", fragte Astrid direkt und ohne Umschweife. Es gab so viele Fragen, so viel Unerklärtes noch, und die Sache in der Zeitung gehörte definitiv dazu. An Mrs Walsers Seufzen erkannte Astrid, dass sie wohl keine Antwort bekommen würde.
„Vielleicht sollte ich es dir sagen, aber nicht jetzt. Ich denke, dass du mit den Informationen, die du hast, erst einmal versorgt bist."
„Ist es denn so schlimm, dass ich es nicht gleich erfahren darf? Habe ich denn nicht das Recht dazu?"
„Na schön, sagen wir es so: die Engel wollen dich und andere Dämonen unbedingt finden, du weißt ja schon warum. Aber da Dämonen nun einmal zusammenhalten und wir alle dein ganzes Leben lang versucht haben, dich vor den Engeln zu schützen, kam es auch zu einem Kampf. Im Grunde ist es egal, ob sie für dich oder für wen anders gekämpft haben, aber..."
„Mr. Walsers lässt keine Chance aus, mir, aus einen mir unerklärlichen Grund alles, was passiert, mir in die Schuhe zu schieben."
Als Mrs. Walsers keine Antwort darauf gab, drehte sich Astrid auf den Absatz um und machte sich an den Berg Schulaufgaben. Man kämpfe tatsächlich um ihr Wohlergehen? War das überhaupt möglich? Astrid war der Meinung, dass niemand für sie oder ihren Schutz kämpfen sollte, das wollte sie nicht. Waren bei den Straßenkampf Engel umgekommen, oder auch Dämonen? Wenn ja, und sie hätten wirklich für Astrid gekämpft, dann waren sie auch aufgrund Astrids Existenz gestorben, oder? Der Gedanke, wenn es denn tatsächlich so wäre, erschwerte ihr Herz und sie wollte sich bei allen entschuldigen, die das Risiko wegen Astrid aufnahmen, obwohl sie sicher nicht nur für sie, sondern auch für ihre anderen Liebsten, allen Dämonen und ihrer Freiheit kämpften. Eigentlich sollte sie auch den Walsers danken, da sie eigentlich, wie auch alle anderen Zieheltern, Astrid einfach ihrem Schicksal hätten überlassen können. Was sie wieder zu ihrer Herkunftsfrage führte. Ihren Eltern, von denen sie nicht einmal das Geringste wusste. Abwarten, Geduld haben, das war alles, was Astrid mit ihrer ganzen Situation anfangen konnte und irgendwann vielleicht, würde man ihr endlich die ganze Wahrheit erzählen, alles, was noch im Verborgenen war.
Vorm Schlafengehen schrieb Astrid wie immer ihren Tagebucheintrag, die in den letzten Tagen länger und nachdenklicher geworden waren. Als sie die Lampe wieder ausknipsen wollte, fiel ihr die Kette ihrer Mutter ins Auge. Smaragd und Saphir. Bestimmt auch irgendeinen dämonischen Hintergrund. Müde fielen ihr die Augen zu. Morgen würde der Tag noch anstrengender werden, denn sie hatte ihre erste Stunde in... Dämonentraining? Nannte man das so? Und sie würde wieder diejenigen treffen, die sie das letzte Mal nicht sonderlich freundlich behandelt hatten.
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