Kapitel 6, Geheimnisse
Astrid versuchte das Wochenende über die Kunst des Krankspielens zu meistern, um auf das Höchstlevel der Überzeugung zu kommen, wenn es erst einmal Montag war und Ca und Sun sie nerven wollten, ihren Geburtstag zu feiern, denn dafür brauchte sie eine Menge an Überzeugungskraft und Schauspielkunst, außer natürlich sie wurde, wie sie unweigerlich hoffte, wirklich krank und musste nicht so tun als ob. Dennoch bezweifelte sie nicht, dass vor allem Ca es als unbedeutend sah, ob sie nun krank war oder nicht.
16 Jahre war es ungefähr her, seit ihre Eltern tot waren, sie in ein Waisenhaus kam und immer wieder neue Zieheltern gesucht hatte. Seit 16 Jahren, oder eben seit sie denken konnte, wünschte sie sich Liebe und träumte von Freiheit.
Seufzend legte Astrid ihr neu angefangenes Buch aus der Hand und knipste die Tischlampe aus, die zuvor Astrids Schatten an die hellblaue Wand geworfen hatte. Morgen, und das wusste sie mit absoluter Überzeugung, würde ein anstrengender Tag werden. Eigentlich hatte sie gehofft, einfach aufzustehen, Buch zu lesen und ihren Geburtstag wie jeden anderen Tag im Jahr zu verbringen – mit Nichtstun. Die letzten paar Jahre hatte sie ihn sogar manchmal vergessen, und dieses Jahr wäre es sicher auch nicht anders gewesen, wenn nicht ihre neuen Freunde irgendwie davon mitbekommen und so eine große Sache daraus gemacht hätten. Ihre Freunde, die sowieso viel zu seltsam waren. Astrid wollte sich nicht mehr weiter den Kopf darüber zerbrechen, wie komisch sie sich manchmal benahmen, denn das hatte sie schon in den vergangenen Tagen gemacht und ihr nicht ein Stück weitergeholfen. Fakt war jedoch, dass Astrid auf jeden Fall infrage stellen musste, ob es etwas Überirdisches oder Fantastisches gab, was sie noch nicht wusste, und, ob sie davon ein Teil war. Sie zweifelte zwar nicht an die Normalität, aber einiges kam ihr doch subtil vor, was sie nicht länger ignorieren konnte. Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Die wiederkehrenden Kopfschmerzen erinnerten Astrid daran, nicht länger darüber zu grübeln und zu schlafen, doch auch ihre Träume wurden immer seltsamer, seit jener Nacht, in der sie von ihrem widerkehrenden Traum, aber auch von ihren früheren Zieheltern geträumt hatte.
Am nächsten Tag zogen Ca und Sun Astrid durch die Londoner Straßen, um den Tag mit ihr zu verbringen, denn sie hatten, wie Astrid schon vorausgesagt hatte, ihre kläglichen Versuche, ihre beiden Freundinnen zu überzeugen, sie sei krank, ignoriert und sie kurzerhand nach London verschleppt. Und die seltsamen, beobachtenden und musternden Blicke seitens Sun und Ca ließen Astrid nicht gerade besser fühlen, sondern eher, als wäre sie irgendeine Bombe, die vor Wut oder sonstigen jederzeit hochgehen konnte. Ein Tag voller Spaß, fand Astrid, verbrachte sie damit, alleine mit einem Buch hinter verschlossener Tür zu verbringen als hier in London von zwei außerordentlich geheimnistuerischen Mädchen durch die Straßen, Einkaufsläden und Parks gezogen zu werden.
„Freu dich doch!", meinte Sunny zu ihr, „Schließlich habe ich meinen ganzen Freunden abgesagt, um mit dir einen schönen Tag zu verbringen."
„Du hättest dich für deine Freunde entscheiden sollen", entgegnete Astrid daraufhin.
„Ach nun komm schon, Miesepeter, so schlimm ist es doch mit uns gar nicht", grinste Carol.
„Ja, aber mit mir", argumentierte Astrid wieder dagegen, musste aber dennoch auch lächeln.
Nachdem sich die Drei Sandwiches zum Abendbrot kauften, setzten sie sich noch bis zum späten Abend an einen Brunnen im Park und Astrid musste zugeben, dass das wohl der angenehmste Part an ihrem Geburtstag war und sie es gar nicht einmal so schlecht fand.
„So Mädels, war heute schön mit euch", sagte Ca und grinste sie an.
„Du willst schon gehen?", fragte Sun und sah auf ihre Uhr, die, wie Astrid verblüffend feststellen musste, schon 9.21 Uhr anzeigte. Ca lachte.
„Aber hallo, morgen ist doch Schule!"
„Oh, stimmt. Ich denke wir sollten dann auch mal nach Hause, oder As?"
Astrid nickte zur Zustimmung und dachte daran, dass sich vor allem Suns Vater schon große Sorgen machen müsste.
„Dann bis morgen", verabschiedete sich Ca, nicht ohne die beiden nochmal zu drücken, was bei ihrem verrückten Charakter selbstverständlich war.
„Du Ada?", fing die plötzlich ernst gewordene Sun gedehnt an, während sie sich auf den Heimweg machten. „Hast du heute irgendetwas gespürt?"
„Gespürt? Außer dem Verlangen, wieder in mein Bett zu kriechen und mich vor euch beiden zu verstecken, nein, eigentlich nicht. Was meinst du?", hakte Astrid nach, die merkte, dass es wieder so geheimnisvoll wurde.
„Naja vielleicht, irgendetwas am Rücken, ein Kribbeln...?"
„Ein Kribbel? Nö, warum fragst du? Habt ihr mir irgendeinen Scherz gespielt?"
Misstrauisch blickte Astrid ihre Freundin an. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit und sie hatte das Gefühl, ihre Herzfrequens stieg auch auf ein ungesundes Level. Sie glaubt nicht an einen Scherz, aber sie wollte ihre Freundin testen, die nun lange darüber nachzudenken schien, denn andauernd machte sie den Mund auf, nur um ihn anschließend wieder zu schließen und ihn wieder zu öffnen.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, zerrte eine Hand sie zurück, während die andere Astrids Mund zupresste und ihren erschreckten Schrei erstickte, sodass nur ein unverständliches leises Geräusch dabei herauskam. Sie hörte nur noch Sunnys Ruf, als sie hochgehoben und in irgendeine unbelebte Straße getragen wurde. Das alles ging so schnell, dass Astrid erst begriff, was vor sich ging, bis der Mann sie unsanft auf den Boden warf und Astrid denjenigen ansehen konnte, der dafür verantwortlich war, dass Astrid völlig verängstigt in einer dunklen Gasse kauerte. Unbeholfen stand sie auf und spührte die kalte Wand an ihren Rücken. Wo war Sunny? Sie hatte doch mitbekommen, dass sie plötzlich weggezerrt worden war. Oder hatte sich ein zweiter Mann um sie gekümmert? Was war gerade überhaupt passiert? Ihr Herz klopfte bis zum Hals, kalter Schweiß bildete sich an ihren Händen. Sie überlegte, wegzurennen, und nach Hilfe zu schreien, zweifelte aber nicht daran, dass der Mann sie sofort dafür büßen lassen würde. Außerdem fühlte sie sich gerade unfähig, auch nur ein anständiges Wort aus ihren Mund zu bekommen. So hatte sich Fire wohl gefühlt, als das Auto auf ihn zuraste.
„Ich wusste, dass sie dieses Mal nicht schnell und nicht vorsichtig genug sein würden. Wir waren besser", brummte der fremde, furchteinflößende Mann mit rauer Stimme, dass es Astrid kalt den Rücken hinunter lief und sie fragte sich, ob es wohl daran lag, dass sie es gerade mit der Angst zu tun bekam oder es einfach an den Worten lag, die er zu ihr gesprochen hatte, denn sie waren für Astrid vollkommen sonderbar und unverständlich.
„Aber sag mir noch mal zur Sicherheit, wie du heißt!"
Der mindestens eins-neunzig großer Schrank von Mensch fasste sie am Handgelenk und Astrid merkte, wie kaum noch Blut in ihre Finger floss. Als Astrid nicht antwortete, weil sie ohnehin kein Wort aus ihrem Mund bekam und zweitens sie nicht nachgab, sich den Willen des Mannes vor ihr zu beugen, klatschte er ihr eine, so fest, dass Astrid mit dem Gesicht auf den Boden landete.
„Antworte mir!", rief er wutentbrannt und zerrte sie unsanft am Arm wieder auf die Beine.
Astrids Wange glühte wie Feuer.
„Astrid Evers."
Kurz verfluchte sie sich für ihre ängstliche Seite, die ihr nicht zugelassen hatte, einfach einen falschen Namen zu nennen. Aber wahrscheinlich hätte Astrid in dieser Situation sowieso nicht das mögliche Denkvermögen besessen, sich einen kreativen und glaubwürdigen Namen auszudenken. Sowieso schien ihr Gehirn gerade nur Loopings zu schlagen.
„Hast du heute Geburtstag?", insistierte der Mann weiter auf Antworten.
„Warum?"
Auf diese Frage steckte sie wieder eine Ohrfeige ein, dieses Mal auf der anderen Seite und ein wenig fester.
„Antworte mir, du freches Gör!", rief der Mann noch lauter als zuvor und seine Schlagadern traten durch seine Wut hervor.
Astrid, deren Angst nun zwar nicht abgefallen, aber wenigstens ein wenig durch ihren Stolz ersetzt worden war, schaffte es nun, sich dem Mann zu trotzen, auch wenn sie mehr als deutlich im Nachteil war, das wusste sie. Warum kamen auch nie andere Menschen durch dunkle Gassen? So ein Klischee.
„Du behandelst mich aber nicht gerade so, als würdest du dir Antworten von mir verdienen", gab sie zu ihren Besten, was natürlich ein fataler Fehler war, denn ihr Kopf wurde gegen die Wand geschlagen und ihr Körper anschließend auf den Boden geworfen, wo der Mann anfing, auf sie einzutreten.
„Was"-Tritt-„Denkst"-Tritt-„Du"-Tritt-„Eigentlich"-Tritt-„Wer"-Tritt-„Du"-Tritt-„Bist!?"-Tritt.
Astrid spürte inzwischen warmes Blut ihrem Gesicht herunterlaufen und fragte sich, wie sie nur hier hineingeraten war. Plötzlich spürte sie etwas. Ganz leicht. Ein Krippeln auf ihren Rücken. Nicht stark oder von Bedeutung anfangs, aber es wurde immer schlimmer, bis sie schrie, nicht wegen der Tritte des Mannes, sondern der Schmerzen im Rücken. Sie konnte kaum glauben, wie noch niemand auf sie aufmerksam geworden war. Vielleicht waren ja alle Bewohner Londons gerade kurzerhand taub geworden. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Der Schmerz an ihrem Rücken allerdings nahm Astrids ganze Gedanken ein, bevor sie ihre Überlegungen weiterführen konnte.
„Na, wirst du mir jetzt Antworten geben?!", lachte der Mann höhnisch. „Aber schön, mir egal, ob du es bist, oder nicht. Ich nehme dich mit, und wenn ich dich in bewusstlosen Zustand mitschleifen muss!"
Er holte zu einem weiteren, vermutlich sehr schmerzhaften Tritt aus, als mit Astrid etwas geschah, was sie sich selbst nicht erklären konnte. Denn Tritt spürte sie nie. Etwas hatte sie geschützt und sie wusste, dass irgendetwas aus ihrem Rücken geschossen kam. Als sie die Augen öffnete, sah sie nichts als Federn. Weiße, bläulich schimmernde Federn. Sie waren so schön...
Im nächsten Moment merkte sie, wie jemand versuchte, durch die Feder-Blockade zu kommen, wahrscheinlich der Fremde, und Astrid spürte, dass die Federn zu Flügeln gehörten, Flügel, welche die ihre waren. Als sie den Schmerz merkte, der durch ihre Flügel zuckte, wollte sie sich nur dagegen wehren, doch irgendwie verhärteten sich stattdessen ihre Flügel und ein metallisches Geräusch erklang in Astrids Ohren, fast so, als würden zwei Klingen aufeinandertreffen. Konnte sie die Flügel etwa erhärten lassen? Sie musste sich ein Lachen verkneifen. Wurde sie jetzt verrückt? Hallluzinierte sie? Hatte der Mann ihr irgendetwas eingeflößt oder wieso zur Hölle hatte sie Flügel? Wusste der er überhaupt, das es soetwas gab? Wenn nicht, würde sie jetzt gern sein Gesicht sehen.
„Ada!"
Suns und Cas Rufe hallten durch die Gasse zu ihr, und Astrid wollte ihnen zurufen, wegzurennen, aber sie fühlte sich völlig außerstande, sich zu bewegen noch irgendetwas von sich zu geben, denn in ihrem Kopf drehte sich noch immer alles und wahrscheinlich wurden ihr mehrere Rippen gebrochen. Als sie plötzlich Blut spucken musste war ihr klar, dass sie wohl schon längst das Bewusstsein verloren hätte, wenn sie nicht... ja, was war sie eigentlich? Die Flügel gehörten zu ihr, das spürte sie, aber wie war das möglich? Und was würden Ca und Sun dazu sagen? Warum war Ca eigentlich wieder da? Astrids Kopf schmerzte von alldem und sie wünschte sich nichts sehentlicher, als dass dies nur ein schlimmer Traum war und sie jeden Moment daraus erwachen würde.
„Oh, wen haben wir denn da? Heute muss echt mein Glückstag sein!", rief der Mann selbstbewusst und Astrids Herz krampfte sich vor Angst zusammen. Anscheinend hatte er sich nicht von ihren Flügeln beeindrucken lassen, was sie auch ein wenig enttäuschte. Nun konnte sie sich jedoch denken, dass es für ihn keine Überraschung war, dass Astrid soetwas konnte. Sie wusste nicht, wie stark ihr Angreifer war, aber drei Mädchen wären vermutlich keine Herausforderung für ihn. Drei normale Mädchen jedenfalls. Schmerzhaft versuchte sie sich aufzusetzen, was ihr mehrere Anläufe kostete.
„Diese kleinen Gören hier wollen dich anscheinend verteidigen", hörte sie den Fremden lachen.
„Ada! Beweg dich nicht! Ich schaffe das schon", rief Ca ihr zu.
Nein, nicht alleine, er ist zu stark!, wollte Astrid schreien, spuckte aber stattdessen noch mehr Blut aus. Inzwischen hatte sie sich auf allen Vieren hochgekämpft. Der Mann lachte über ihren kläglichen Versuch und Astrid bemerkte, wie er an ihr vorbeiging, geradewegs auf ihre Freunde zu.
„Du willst mich allein besiegen? Wie denn? Ihr traut euch ja nicht einmal, eine Fliege zu töten!", verhöhnte er Ca.
Ihr? Wer waren Ihr? Sich nicht trauen zu töten... was ging nur hier vor sich? Astrid sah gerade schnell nach vorne, um zu sehen, dass plötzlich bei Ca ein Pfeil aufblitze und denn Man in der Schulter traf. Fluchend wich er ein paar Schritte zurück. Ca mit Bogen? Wann hatte sie sich denn den geholt? Dann erst erkannte sie, dass auch Ca plötzlich Flügel hatte, ganz weiße und genauso schön. Das war's, dachte Astrid, sie lag wahrscheinlich gerade krankenhausreif in irgendeiner Gasse und halluzinierte vor sich hin. Oder sie war bereits tot, im Himmel. Das würde die Flügel auch irgendwie erklären, nur den ganzen Rest nicht.
„Bist du okay, As?", fragte Sun, die währenddessen zu Astrid geeilt war und nun neben sie kniete.
Ihr Angreifer stattdessen hatte plötzlich schwarze Flügel bekommen und lachte hämisch.
„Das Überraschungsmoment war zwar gerade auf deiner Seite, sonst hätte ich den Pfeil mit Leichtigkeit abwehren können, aber selbst so macht er mir nichts aus."
„Ganz sicher?", konterte Ca scheinbar siegessicher.
Plötzlich sackte der Mann neben ihr zusammen.
„Verdammt, Lähmungsgift", presste er hervor, allerdings sehr undeutlich.
Astrid hievte sich zur Wand und lehnte sich dagegen, was sie nur mit Suns Hilfe schaffte, ihre Brust hob und senkte sich schnell von der Anstrengung und es hatten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn gebildet.
„Überanstrenge dich nicht, As!", riet Sun ihr, als sie einen sorgenvollen Blick auf ihre Freundin warf. Astrid winkte ab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Flügel verschwunden waren. Die Gefahr war anscheinend vorbei.
An beiden Enden der Gasse erschienen nun zwei weitere Männer, die Astrid einmal zunickten, bevor sie den Fremden nahmen, der bis vor wenigen Minuten noch seinen Stiefel in Astrids Seite gerammt hatte und schleppten ihn irgendwo hin. Ca hingegen kam nun auch zu Astrid, ihr Gesicht sprach Bände, denn so konnte Astrid erraten, wie zugerichtet sie gerade aussah.
„Hey, As. Alles klar?", versuchte sie es mit einem leichten Lächeln.
Astrid musste lachen und verschluckte sich gleichzeitig wieder an Blut. „Was für eine bescheuerte Frage. Natürlich geht es mir super, nachdem ich verprügelt wurde, plötzlich Flügel aus meinen Rücken gewachsen sind und meine Freundin, übrigens auch mit Flügeln, den Mann K.O. bringt, der dafür verantwortlich ist, dass ich wahrscheinlich einige gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung habe. Würde mich nicht wundern, wenn ich mir das alles nur eingebildet habe."
„Für ein paar gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung bist du aber noch echt gut drauf", grinste Sun.
„Liegt wahrscheinlich am Adrenalin", brachte Astrid gerade noch so hervor, bevor alles um sie herum in tiefster Dunkelheit versank.
Zwei Gestalten, grüne Augen, Blut, ihr Blut, die starren Augen, die sie anblickten.
Astrid träumte wieder den Traum, doch dieses Mal war er lebhafter als jemals zuvor. Aber sie konnte weder aufwachen, noch weiterträumen. Irgendwas hinderte sie daran, und sie wusste, dass sie selbst der Grund war, warum sie nicht weiterträumen konnte.
Also versank sie wieder ins Schwarze.
Das nächste, was sie merkte, waren die schlimmsten Kopfschmerzen, die sie je in ihren ganzen Leben hatte. Blinzelnd öffnete sie die Augen, was durchaus anstrengend war, denn Astrid spürte die pochende Härte in ihrem Kopf. Dann dachte sie an letzte Nacht, doch dadurch wurden die Schmerzen noch schlimmer. Fast musste sie bei den Gedanken daran lachen, dass das genau die Symptome eines Hang-Overs gewesen wären, wäre Astrid sich nicht zu hundert Prozent sicher, dass das, was gestern passiert war, der Grund ihrer Schmerzen war und keine Folge von Alkohol, zumal sie erstens keinen Alkohol getrunken hatte und zweitens ihr Gehirn selbst im betrunkenen Zustand nicht einmal die Fantasie dazu gehabt hätte, Astrid das sehen zu lassen.
„Oh, du bist wach."
Astrid erschrak und blickte zu einem älteren Mann um die fünfzig, der schon die ein oder andere graue Strähne hatte, aber durchaus freundlich wirkte. Sein Gesicht war vom Alter gezeichnet, viele Falten und auch Narben durchzogen es und Astrid fragte sich vor allem, woher die Narben kamen.
„Wer sind Sie? Und wo bin ich?", krächzte Astrid, während sie sich in ihrer Umgebung umsah. Sie lag auf einer Couch in einem kleinen Wohnzimmer mit Anschluss zu einer Küche. Es war ihr definitiv fremd und das machte ihr ein wenig Angst.
„Nun", begann der Alte, „Mein Name ist James Winters und das hier ist meine Wohnung über der kleinen Buchhandlung, die ich führe."
„Ich kenne sie nicht. Was wollen sie also von mir? Werden sie mich auch gleich verprügeln?"
James Winters lachte leise.
„Es ist gerade noch um vier. Möchtest du dich nicht noch einmal hinlegen?"
„Antworten sie mir!", rief Astrid wütend, woraufhin Winters den Finger auf die Lippen legte und auf den Sessel neben Astrid zeigte. Im schwachen Licht der Tischlampe konnte Astrid ihre schlafenden Freundinnen erkennen und nahm sich vor, nicht auszurasten. Sie wusste nicht, was sie von alldem halten sollte. Klar, Mr. Winters machte keinen unsympathischen und gefährlichen Eindruck, aber Astrid dachte auch nie, dass Carol mal einen Bogen zücken und damit auf einen Menschen schießen würde.
„Ich erzähle es dir, aber ich mache uns vorher noch einen Kaffee. Oder bevorzugst du lieber Tee?", ergänzte er noch, während er schon auf den Weg in die Küche war.
„Kaffee klingt gut, danke."
Ein wenig komisch war die Situation schon. Da saß sie hier, eingehüllt in einer warmen Decke, zusammen mit Sun und Ca, die schliefen und einem alten Mann, den sie nicht kannte, in seiner noch für Astrid unbekannteren Wohnung. Sie wusste ja noch nicht einmal, wer sie selber war. Entgegen der Kopfschmerzen versuchte sie nachzudenken. Sie hatte Flügel, Ca hatte Flügel und der Typ, der Astrid angegriffen auch. Carol war eine spitze Bogenschützin, während Astrid... scheinbar erstaunliche Selbstheilungskräfte hatte! Sie spürte tatsächlich nichts mehr von den gebrochenen Rippen, nur ein paar von denn von den unzähligen blauen Flecken, die sie überall am Körper hatte. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein Regenbogen. Vorsichtig tastete sie sich am Kopf ab und fühlte eine kahle Stelle hinten und eine Narbe an der Schläfe, wo ihre Platzwunden zugenäht wurde. Ansonsten fühlte sie sich ganz normal. Astrid zweifelte jedoch inzwischen daran, dass sie normal war. Die Kraftausbrüche, die Schnelligkeit, ihre Vergangenheit, Flügel... Die Puzzleteile lagen da, wo sie hingefallen waren, doch Astrid erkannte so langsam die Umrisse und kleine Stückchen fügten sich zusammen. Sie war anders, das wurde ihr immer nur allzu deutlich klargemacht, und sie wusste es auch schon immer. Aber dass sie so anders war...
Sunny hatte immer so geheimnisvoll angedeutet, dass sie etwas an sich hatte, was viele in die Flucht schlagen ließ. Jetzt ergab auch Carols Satz „Welche Farbe haben deine Flügel" einen Sinn, denn Astrid hatte Flügel. Sie war für die Familie, die sie aufnahm, gefährlich, weshalb Sunny sie anfangs und Mr. Walsers immer noch nicht mochten und irgendwie hatte sie etwas mit Kriminalgeschehen in London zu tun. Federn am Tatort... Definitiv auch von Flügeln. Und dann Mr. Walsers Kommentar, Astrid sei daran schuld... Da hörte es auf, da kam sie nicht weiter. Wie konnte das nun zusammenhängen...
Astrid wurde schlagartig aus ihren Überlegungen gerissen, als sie eine Tasse heißen Kaffee vor die Nase gesetzt bekam. Dunkelbraune Flüssigkeit schwappte in der Tasse hin und her, während leichter Dampf in ihre Nase stieg und den Geruch von Koffein mit sich brachte. Unwillkürlich atmete Astrid tief ein, um ein paar Glücksgefühle wieder zu wecken und nahm einen Schluck, während ein wenig Leben in sie kam.
„Also, wo soll ich nur anfangen?", sagte Winters, nachdem er selbst an seinen Kaffee einige Male genippt hatte.
„Beginnen Sie doch einfach damit, wer oder was ich bin", schlug Astrid vor.
„Auch das ist etwas kompliziert. Lass mich besser so anfangen..."
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