Kapitel 5, Verunsicherung
In der Küche saß Mr. Walsers wie immer vor seiner Zeitung, doch dieses Mal schien etwas Ungewöhnliches drinzustehen, welchem er seiner ganzen Aufmerksamkeit widmete.
„... wurden fünf Tote mit unerklärlich brutaler Todesursache gefunden...Hast du das gehört, Pearl?", rief er zwischendurch zu seiner Frau, „...viele Schnittwunden, Schusswunden...wahrscheinlich ein Straßenkampf... Hintergründe noch unklar... Außerdem wurden am Tatort einige ungewöhnlich große Federn gefunden. Ob diese etwas mit dem Fall zu tun hat, sei allerdings unklar und unwahrscheinlich, so Polizeiermittler... Pah! Solche Idioten! Können sie es nicht wenigstens versuchen, das Ganze der Öffentlichkeit vorzuenthalten?"
Astrid merkte, dass sie nur Bahnhof verstand, abgesehen davon, dass sich ein schlimmer Mordfall in London ereignet hatte, während sie Mrs Walsers half, die Teller auf den Tisch zu verteilen.
„Selbst diese Kleinraumdenker werden irgendwann merken, dass da etwas nicht stimmt!"
„Lars, nun reg dich bitte nicht auf", versuchte Mrs Walsers mit einem Seitenblick zu Astrid ihren Mann zu beruhigen. Versuchte sie herauszufinden, wie Astrid darauf reagierte? Warum?
„Es wird schlimmer in letzter Zeit", seufzte sie und schnippele den Salat.
„Und ich kann mir auch gut vorstellen, warum das so ist", meinte Mr. Walsers grimmig mit düsterer Stimme und sah dabei Astrid an, die plötzlich verstand, dass alle hier etwas wussten, etwas über sie selbst, was aber nicht auch im Bereich ihres, Astrids Wissens war. Hatte es etwas damit zu tun, warum sie so abschreckend war? Astrid musste sich die Frage immer wieder stellen, ohne irgendetwas plausibles zur Erklärung zu finden.
„Ach Astrid Schätzchen? Stell doch bitte schon einmal den Salat auf den Tisch, ja?", unterbrach Mrs Walsers ihren Blickkontakt, ehe Astrid irgendeine Bedeutung darin lesen konnte. Auch Fire und Sun kamen nun, während Fire sie wie üblich angrinste und bat, sich neben ihn zu setzten und Sun einen fragenden Blick zu Astrid warf, ob alles in Ordnung sein, was sie mit einem kurzen Nicken und Lächeln bejahte. Alles in Ordnung, glaubte sie. Doch Astrid wurde das Gefühl nicht los, dass Mrs Walsers versuchte, von dem Thema und dem Mordfall abzulenken, vor allem, nachdem der "fertige" Salat nur aus den grünen Blättern bestand.
Später spekulierte Astrid weiter herum, was denn mit ihr sein könnte. Wegen ihr sollten sich fünf Menschen umgebracht haben? Das kam ihr sehr irreal und unlogisch vor. Wieso sollte soetwas passieren? Wieso wegen ihr? Astrid musste dran denken, als Carol sie nach ihren Flügeln fragte. Vielleicht wollte sie Astrid nur auf den Arm nehmen, oder aber es hing damit zusammen. Nein, unmöglich. Wie sollte das denn miteinander zusammenhängen, das war doch völliger Quatsch. Carol war ohnehin ein wenig seltsam, da war solch eine Bemerkung wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches für sie. Und die Sache mit Astrids plötzlichen Kraftausbrüchen? Obwohl sie sich nicht einmal selbst glaubte, dachte sie, dass alles irgendwie miteinander zusammenhing, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wie, warum, weshalb. Wahrscheinlich war dieses Gefühl nur Einbildung, oder? Vielleicht hatte das Ganze etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun, ihren Eltern? Vielleicht waren sie ja mal berühmt berüchtigte Gangmitglieder, die viel Unruhe gestiftet und Gewalt verbreitet hatten, und nach ihrer Geburt ins Gefängnis kamen, und nun erwartete jeder von ihr, dass sie auch einmal so werden würde. Astrid lachte über sich und ihrer dummen Fantasie. Wahrscheinlich war das alles nicht so bedeutend, wie sie dachte, vielleicht spielte sie sich nur wieder hoch. Sie hatte keine Ahnung. Ja, sie spürte regelrecht das Gefühl der totalen Ahnungslosigkeit und wollte es sofort loswerden, auch wenn sie wusste, dass das nicht so einfach war, und das verschlimmerte die ganze Sache nur noch mehr. Ungewissheit, Ahnungslosigkeit, Hilflosigkeit. Vom ganzen Denken bekam Astrid Kopfschmerzen und sie beschloss, schlafen zu gehen.
In der Nacht träumte sie einen merkwürdigen Traum. Er war verschwommen, doch Astrid wusste, dass es sich so zugetragen hatte.
Sie saß auf der Treppe ganz oben und lehnte sich vor, um durch das Geländer zu schauen. Unten standen Mike und Susann und redeten seltsam leise miteinander. Eigentlich war Astrid nur zufällig vorbeigekommen, doch als sie ihren Namen fallen hörte, beschloss sie, unehrenhaft und viel zu neugierig ihre Zieheltern zu belauschen. Hoffentlich wurde sie nicht schon wieder abgegeben, nachdem sie ausversehen ein paar Spielzeuge kaputt und ein Glas zerdrückt hatte. Astrid wollte nicht gehen, sie hatte es doch schon acht Wochen geschafft und eine Freundin gefunden. Diana war wirklich sehr nett zu ihr.
„...zu riskant", hörte sie Mike so leise murmeln, sodass sie nur Bruchstücke verstand, „Ihr Verhalten .... aufgefallen. ... nicht blöd, Susann."
„Das weiß ich doch" – „Pst!" – „Das ... doch, Mike", flüsterte nun Susann noch leiser und Astrid musste sich anstrengen, jedes Wort mitzuhören.
„Aber ... nicht zumuten ... neue Familie ... andere Möglichkeit ..."
„Ich weiß ... aber ... merkst doch auch, dass ...", Astrid hätte zu gerne die letzten Worte gehört, aber in dem Moment sprach Mike so leise, dass man auch hätte denken können, niemand stünde in dem Raum unter ihr.
„...sicherer ... Standort wechselt ...?"
„Ja, .... recht, ... Astrid abgeben."
Astrid verriet sich durch einen Schluchzer. Und der Traum endete damit, dass beide Elternteile erschrocken zur Treppe hochsahen.
Astrid hatte beschlossen, ihre kalte Seite Stück für Stück hinter sich zu lassen, den ganzen „Ich möchte keine Freundschaften schließen, weil ich nicht so sehr verletzt werden will, wenn ich wieder umziehe"- Konzept den Rücken zu kehren und sich auf Carol einzulassen, auch wenn sie für den Anfang etwas schwer von Begriff schien, da sie ja nicht kapiert hatte, oder es vielleicht auch einfach nur ignorierte, dass Astrid nicht mit ihr befreundet sein wollte. Doch vielleicht war ja gerade das die positive Seite an ihr und Astrid verstand es nur einfach nicht, wie gut sie wirklich war. Nur Tobias ließ sie noch „zappeln". Irgendwie hatte Astrid den Reiz daran gefunden, und diese Tatsache erschreckte sie ein wenig, weil sie sich gleichzeitig fragte, wann sie nur so gesellig und "normal" geworden war.
Mindestens einmal am Tag nervte Tobias Astrid mit Fragen und betonte immer wieder, dass das Angebot mit dem Kino immer noch stand und Astrid musste immer wieder beteuern, dass sie kein Interesse hatte, obwohl sie genau wusste, dass sie damit Tobias nur noch mehr Anreiz gab, es weiter zu versuchen.
Astrid hatte erneut den Platz unter der Buche aufgesucht und Carol sich wieder einmal neben sie gesetzt. Dieses Mal hatte sie mehr Zeit, um Astrid voll zu quasseln, und halb genervt unterbrach Astrid sie.
„Hast du eigentlich keine anderen Freunde?"
Carol lachte.
„Naja, Robin und Marc, der in Bio neben mir sitzt und noch ein paar andere, die gehen aber nicht hier auf die Schule. Ich pick mir halt nur die Besonderen raus", erklärte sie, und betonte dabei das Wort in Astrids Sinn irgendwie seltsam, dazu kam der unergründliche Gesichtsausdruck. Der Blickkontakt hielt weiter an, während Astrid versuchte, etwas aus Carols Augen zu lesen, als Sun dazu stoß, die sich von ihren Freundinnen verabschiedet hatte, um aus irgendeinem unerklärlichen Grunde zu den beiden Mädchen zu gehen, die auf der kleinen Wiese saßen.
„Hey Carol. "
„Oh, hi Sunny!", rief Carol zurück.
„Ihr kennt euch?", fragte Astrid, die sehr überrascht darüber war, und dann aber auch wieder nicht, denn sie kannte ja weder Carol noch Sun bis jetzt richtig gut, da sollten unbekannte Begebenheiten ja eher weniger überraschend als eher erahnt sein.
„Oh, ähm ja", meinte Sun, während sie sich zu den anderen beiden niederließ, „Konntest du ja nicht wissen."
„Wie kommt es denn dazu, dass ihr...", fing Astrid an, doch wurde von Carol unterbrochen, die für sie aufregende Neuigkeiten berichtete und Astrid beschlich das leichte Gefühl, dass man sie nicht hatte ausreden lassen wollen. Themawechsel. Hatte Sun bei ihr ja auch schon angewandt.
„Hört zu, Leute. Am Montag ist frei, habt ihr schon irgendwelche Ideen?"
„Nun, Astrid hat am Montag Geburtstag und...", fing Sun an.
„Woher...?", fiel ihr Astrid ins Wort, wurde aber sogleich selbst von Carol unterbrochen.
„Oh, wie aufregend!"
„Was ist daran aufregend? Es ist nichts Besonderes, ehrlich. Und woher kennst du meinen Geburtstag und musstest es Ca verraten?", fragte Astrid ein wenig wütend an Sun gewandt. Das Gespräch nahm eindeutig eine falsche Richtung an, mit der sie nicht klarkam und was sie auch nicht wollte.
„Dein Geburtsdatum steht in deiner Beschreibung, die wir von dir bekommen haben, als wir beziehungsweise Mum beschlossen hatte, dich aufzunehmen. Und ich dachte, es wäre nicht schlecht, wenn..."
„Wenn man so einen wundervollen Tag...", wollte Ca den Satz beenden, doch Astrid kam ihr noch zuvor.
„Einfach einen Tag wie jeden anderen aussehen lässt, weil es ja auch schließlich so ist."
Von beiden Seiten erntete Astrid seltsame Blicke, die sie wieder überhaupt nicht zuordnen konnte. Irgendwas war schon immer seltsam gewesen. Nicht nur diese Sachen, die Astrid passierten, wie das mit dem Mamorstück, sondern auch die Menschen aus ihrem Umfeld benahmen sich sonderbar und seltsam, und gaben Aussagen von sich, die Astrid einfach nur verwirrten und keinen Sinn ergaben. Was war es denn, was Astrid nun so anders machte? Was war denn an ihr so besonders, so abstoßend? Und warum sahen ihre beiden Freundinnen sie an, als wäre ihr Geburtstag wirklich ein bedeutungsvoller Trauertag in der Geschichte? Astrid hatte so allmählich das Gefühl, dass einige Personen hier vielmehr wussten, als sie zugaben, sie viel mehr als Astrid wussten, was Astrid selbst betraf.
Plötzlich läutete es zur nächsten Stunde und Astrid bemerkte, dass Ca und Sun schnell aufsprangen. Etwas zu schnell, so, als wären sie erleichtert, endlich einen Grund zu haben, dass Thema wieder fallen zu lassen und nicht darüber reden zu müssen. Astrid wusste genau, dass es so war und das brachte sie noch mehr ins Grübeln. Zuerst war es ihr nie so aufgefallen, doch jetzt häuften sich die seltsamen Vorkommnisse, die sie sich einfach nicht mehr erklären konnte, dass konnte sie nicht mehr länger ignorieren, sie war ja nicht blöd. Sie häuften sich genauso wie ihre seltsamen Träume. Irgendetwas war da und sie wusste einfach nicht was.
„Ach übrigens, Ada", begann Ca, während sie sich -im Klassenraum angekommen- wieder einmal neben Astrid setzte, die alles für etwas Alleinsein zum Grübeln gegeben hätte.
„An Halloween steigt hier in der Schule eine Feier, zu der immer alle hingehen, bevor sie die anderen Hauspartys und Clubs besuchen. Die meisten suchen sich jetzt schon ihren Partner, denn am Anfang müssen alle aus der Oberstufe eintanzen. Ist hier Tradition. Ich persönlich denke, dass ich Marc fragen werde. Weißt du schon, wenn du fragen wirst?", plapperte Ca und schien erst jetzt wieder Luft zu holen, auch wenn es für Astrid unerklärlich war, wie man so viel reden konnte, ohne dabei seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen.
„Nun, ich weiß ja schon, wer mich fragen wird", seufzte sie und vergrub ihren pochenden Kopf in ihre Hände. Dann sah sie noch einmal Ca an.
„Ich hätte jetzt aber eher gedacht, dass du mit Robin gehst. Ihr seid ja so gut befreundet."
„Tja, weißt du", begann Ca mit ihrer Erklärung, „Robin ist zwar mein Kumpel und so, aber Marc sieht einfach zu gut aus", schwärmte sie. „Und außerdem weiß ich nicht einmal, ob er hingehen möchte. Er hat's nicht so sonderlich mit Tanzen."
„Ich auch nicht", murmelte Astrid.
„Ach Quatsch, das wird lustig!"
„Ich vertraue deinem Urteilsvermögen nicht."
„Wirklich! Darauf freuen sich immer alle."
„Dann bin ich wohl die Ausnahme."
„Du weißt doch gar nicht, wie es wird. Vielleicht wird es ja ganz lustig und..."
Ca wollte noch weiterreden, doch da betrat der Lehrer den Raum. Astrid war ziemlich froh, über dessen Erscheinen, denn es schien hoffnungslos, sich gegen Ca behaupten zu wollen. In ihrem inneren Auge sah sie sich schon gelangweilt in einem billigen schwarzen Kleid an einem Tisch in der hintersten Ecke sitzen und die anderen Schüler dabei beobachten, wie sie tanzten und Spaß hatten. Und dann, wie sie gezwungenen Maßen mit Tobias auf der Tanzfläche stand und ihn ein paar Male auf die Füße tratt, weil sie nicht tanzen konnte. Astrid kicherte bei dem Gedanken. Er wäre selbst schuld, wenn er sie fragen würde, ob sie mit ihm auf diesen bescheuerten Ball gehen wöllte. Aber noch bestand ihre Hoffnung, dass er erst gar nicht auf diese idiotische Idee kam, sie zu fragen. Aber nein, die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fall eintreten sollte, lag ziemlich nahe bei null.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro