Kapitel 13, Unwetter
Von den 200 Knochen, die ein Mensch besaß, taten Astrid ungelogen jeder einzelne von ihnen in den nächsten Tagen weh, zusätzlich zu dem ungeheuren Muskelkater, den sie überall hatte, wo es Muskeln gab und an Stellen, an denen sie nicht einmal Muskeln vermutet hätte. Bei jedem Schritt verkrampfte sie sich unter solchen Schmerzen, die sie nie für möglich gehalten hatte. Doch zu ihrem Glück kannte sie Mr. Winters, der ja ein begabter Heiler war und ihre Schmerzen mindern konnte, als Astrid am Dienstag direkt nach der Schule in den kleinen Buchladen kam.
Das Wetter wurde in den kommenden Tagen nicht besser, sondern entschloss sich, gemäß dem Ort und der Jahreszeit, stürmisch und regnerisch den Tag aller Bewohner und Touristen Londons zu vermiesen. Leider entschlossen die Wolken selbst am Samstag keine Regenpause einzulegen, um zwei Menschen, die anfingen, sich sehr zu mögen, einen romantischen Tag am Strand zu gönnen. Es wurde also alles andere als romantisch und gemütlich, als Sunny und Tobias sich wie verabredet trafen, um nach Brighton zu fahren, was eigentlich ihr Ziel gewesen war. Doch ihre neue Schwester klärte Astrid darüber auf, dass die beiden nun bei dem Wetter zusammen auf eine Rollschuhbahn gehen würden, so zumindest war das der Plan, obwohl Sunny noch nicht oft in Schuhen gestanden hatte, mit denen man sich rollend von einem zum anderen Standpunkt fortbewegte. Astrid versicherte jedoch Sunny, dass es eigentlich völlig egal war, denn immerhin hatte sie ein Date mit dem Jungen, den sie schon seit einer Ewigkeit mochte, und konnte ihr so ein wenig Mut zusprechen. Schade nur, dass sie das bei sich selbst nicht konnte. Neben der Schule und der Arbeit hatte Astrid nun sehr viel Training. Oft schaffte sie es nicht, zu meditieren, oder auch, pünktlich in der Schule zu erscheinen. Da sie ein Mehrwaffler war, hatte sie viermal so viel Training wie die anderen, denn sie musste lernen, mit jeder möglichen Waffe zu trainieren, die sie aus ihren Flügeln gezogen bekam. Neben Dolchen und andere Kleinwaffen und sowas wie Schlagringe war alles dabei: vom Schwert, bis zur Armbrust und einem Gewehr. Einmal zog sie sogar ein Schild. Doch neben Selbstverteidigung und Waffentraining mussten die Dämonen zusätzlich lernen, mit ihren Flügeln zu fliegen, sie als Schutzschilder zu benutzen, wie Astrids an dem einen Abend, und sie auch im Kampf effizient zu nutzen. Leaga war auch nicht sehr feinfühlig, was das Training um einiges erschwerte. Pausen kannte sie nicht und schlapp machen erst recht nicht. Obwohl es nur eine Woche gewesen war, hatte Astrid mehr als einmal den verlockenden Gedanken gehabt, einfach aus der ganzen Sache auszusteigen, schließlich hatte das bis zu ihrem 16. Geburtstag ja auch prima funktioniert. Durch den großen, neuaufkommenden Stress hatte Astrid keine Zeit für zusätzlichen Grübeleien, die sie am Anfang noch gehabt hatte. Ihre Zweifel und ihre Spekulationen über ihre Herkunft, die Engel und die Dämonen rückten weiter und weiter in den Hintergrund, da sie auch keine Gelegenheit mehr hatte, Mr. Winters zu sprechen. Sie sah nur einige Male, wenn sie mit Ca in der Schule an der großen Buche stand, den neuen Klassenkameraden, dem so viele Geheimnisse umwoben zu schienen wie Astrids Vergangenheit selbst. Doch auch er hatte bis jetzt keine auffälligen Schachzüge gemacht.
Während also ihre Schwester ein tolles Date mit einem Typen hatte, der einst ziemlich großes Interesse an Astrid gezeigt hatte, unterzog Leaga ihrer Truppe eine weitere Trainingseinheit. Es war hart. Astrid merkte, dass Leaga deutlich angespannter war, und das konnte nur Gefahr bedeuten. Immer wieder huschte der Blick der Lehrerin zu ihrer Schülerin, sodass Astrid das Gefühl hatte, es gäbe mal wieder ein Problem, was eng mit ihr in Verbindung lag. Und mit diesem Gedanken sollte sie so ziemlich ins Schwarze treffen. An diesem Tag trainierten sie vier Stunden, Astrid zog wieder ihr Langschwert aus einer Feder, mit dem sie bis jetzt am besten umgehen konnte, Robin war mit seinem Schwert oft ihr Trainingspartner und Astrid musste feststellen, dass er extrem gut in seinem Element war. Sein Talent war sehr beeindruckend und sie musste sich eingestehen, dass ihn das irgendwie attraktiv machte.
„Du scheinst ein Naturtalent zu sein", meinte Astrid zu ihm, als sie nach drei Stunden Schwertkampf eine Pause einlegten. Dieses Mal war Aiden bei ihnen in der Dreiergruppe und legte sich erschöpft auf den Boden. Den anderen ging es nicht viel anders. Astrid sehnte sich nach einer Dusche, die den ekelhaften Schweißgestank wieder neutralisieren würde.
„Naturtalent bin ich nicht, nein", antwortete er ein weniger aus der Puste vom Training zuvor auf ihre Frage, „Aber ich habe als kleines Kind schon mit Holzschwertern trainiert. Ich hatte gehofft, dass sie meine Flügelwaffen werden, sonst hätte ich immer eins dabeigehabt. Aber ich hatte ja Glück. Außerdem", fügte er noch hinzu, mit einem schelmischen Grinsen, „Kann ja nicht jeder eine ungeahnte Begabung haben. Ich muss zusehen, dich immer noch beim Schwertkampf schlagen zu müssen. Du bist besser als du denkst."
„Stimmt gar nicht. Du hast ja schließlich bis jetzt jeden Kampf gewonnen", meinte Astrid ein wenig niedergeschlagen.
„Ich hatte keine Chance."
„Aber du bist ein Mehrwaffler. Ich nicht", argumentierte er, um sie ein wenig aufzumuntern.
„Wow. Du hast ja so recht. Es reicht nicht, mit einer Waffe schon vollkommen zu versagen. Erinnere mich das nächste Mal bitte daran, wenn wir uns wieder gegenüberstehen", murrte sie.
„Jeder muss was für sein Glück machen, kleiner Miesepeter, schließlich kommen meine Schwertkünste nicht von irgendwo her", lachte er.
„Du hattest ja auch den Vorteil, schon immer zu wissen, wer du bist. Du hast trainiert und dein Ehrgeiz zahlt sich aus."
„Ja...", flüsterte er und Astrid hörte die Bedeutung heraus, die in seinen Worten mitschwang. Vergangenheit. Sie hatte bei allen eine zentrale Bedeutung, war aber nie sonderlich positiv, zumindest bei den Erzählungen, die Astrid schon kannte oder vermutete. Was für ein Trauerspiel musste doch das Leben eines jeden hier sein, der um seine Existenz kämpfen musste, ohne Aussicht auf Frieden. Einen Kampf, den schon Generationen vor ihnen führten, und vielleicht auch Generationen nach ihnen noch führen würden.
Astrids Blick traf den von Robin. Er hatte heute wieder seine Augenklappe aufgesetzt und weckte Astrids Neugier, was sich wohl darunter verbarg, was Robin nie den anderen zeigte. Hatte wohl was mit der Vergangenheit zu tun, dachte sie seufzend und wandte den Blick ab. Er war wirklich faszinierend.
„Was ist los, Miesepeter?", fragte Robin auf ihr Seufzen und schupste sie leicht an.
„Nichts, es ist nur... Ich frage mich nur manchmal...", begann sie, doch Leagas Ruf hallte durch den Lagerraum und unterbrach somit Astrids Satz.
„Tja, ich denke, wir sollten sie nicht warten lassen, sonst dürfen wir noch eine Stunde länger bleiben", sagte Robin, stand auf und reichte Astrid wieder die Hand. Sie nahm das Angebot sehr gerne an, denn ihre Beine fühlten sich an, als könnten sie ihre Besitzerin keine Minute länger mehr tragen. Mehr schlurfend als gehend machte Astrid sich mit Robin auf zu weiteren drei Stunden Selbstverteidigung. Irgendwie verliefen diese Minuten der Pause im Sand, während sich die Trainingsminuten wie zähes Kaugummi dahinzogen und einfach kein Ende zu nehmen schienen.
Dank der Bewegung spürte Astrid die eisige Kälte nicht, doch als sie am Ende ihres Trainings angelangt waren und die Geräte wegräumten, bemerkte sie, wie kalt es inzwischen draußen und in der unbeheizten Halle geworden war. Fröstelnd schlang sie ihre Arme um ihren Körper, als sie in die kalte Außenluft trat. Es war inzwischen früher Abend und die Tage wurden immer kürzer, die Nächte immer länger und das Wetter immer nässer und kälter. Eigentlich mochte Astrid den Herbst, doch auch ihr war die Kombination aus kaltem Wind und Nieselregen äußerst unangenehm, weswegen sie sich tiefer in ihren Schal kuschelte.
„Das typische Londoner Wetter, passend zum Herbst", stellte auch Ca fest, die neben Astrid trat und ihre Hände in die Taschen ihres schwarzen Mantels schob.
„So ein Mistwetter."
„Nur für denjenigen, der es als solches empfindet."
Astrid und Ca drehten sich um und sahen Ash, der lässig zu ihnen trat und dem das miserable Wetter nichts auszumachen schien. Zur Vorsicht bildeten sie weiterhin einzelne Gruppen, um kein Aufsehen zu erregen. Heute ging Robin allein vor, Astrid, Ca und Ash bildeten die zweite Gruppe und Aiden und Thomas die letzte.
„Wie kann man denn so ein Nieselwetter schön finden?", widersprach Ca und verdrehte die Augen.
„Wieso denn nicht?", stellte Ash die Gegenfrage und sein Blick ging zu Astrid.
„Sieht aber so aus, als hätte auch das Verräterblut kalte Füße."
„Sieht so aus, als wärst du in guter Stimmung, Sprücheklopfer", entgegnete Astrid zur Selbstverteidigung.
„Allerdings, und ich hätte noch bessere Laune, wenn ich nicht schon wieder mit dir eine Gruppe bilden müsste."
„Es steht dir frei, mich zu ignorieren oder einfach zu gehen."
„Dann wähle ich doch lieber letzteres, dein Gestank weht bis hier rüber."
„Ich kann es nicht glauben, dass Leaga euch zwei wieder und wieder gemeinsam in eine Gruppe steckt", seufzte Ca und sah Ash hinterher, als er sich in Bewegung setzte und losging. Sie und Astrid folgten ihm auf geringen Abstand.
„Ich kann auch nichts dafür, dass er mich nicht leiden kann", meinte Astrid und zweifelte an ihren eigenen Worten. Aber sie sollte sich nicht beschweren, schließlich war ihre derzeitige Situation vielleicht besser, als sie es jemals hätte sein können. Sie hatte Freunde und eine, naja, halbe Familie. Wer weiß, vielleicht könnte sie es sogar schaffen, die Dämonen endlich von den Engeln zu befreien, natürlich mit Hilfe ihrer Freunde. Sie könnte die Zukunft für alle verbessern, wenn sie nur hart genug trainierte, so wie Robin. Bei dem Gedanken, weiter mit ihm ihre Schwertkünste auszubauen, musste sie schmunzeln. Der Gedanke gefiel ihr irgendwie. Astrid sah Ca an, blickte zu Ash und dachte an all die anderen, die ihr plötzlich was bedeuteten: Mr. Winters, Sunny, die Rogue Six, Fire, ja, vielleicht sogar Tobias. Sie musste zugeben, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wenn auch nur einer von ihnen nicht mehr wäre. Zu diesem Zeitpunkt schwor sie sich, so hart zu trainieren, wie sie nur konnte, um alle beschützen zu können, die ihr am Herzen lagen.
Sie hatte kaum die Türschwelle in den Flur überquert, als ein Ruf vom Wohnzimmer ertönte.
„Astrid, Schätzchen, bist du das?", rief Mrs Walsers zur Begrüßung. Astrid hatte mit ihrer Ziehmutter über ihre Gefühlslage gegenüber Mr. Walsers gesprochen, nachdem Sunny nochmals auf sie eingeredet hatte, weil Mrs Walsers immer noch nur das Nötigste mit Astrid geredet hatte. Seitdem schien sich die Lage zwischen ihnen wieder normalisiert zu haben. Fire konnte ihr sowieso nicht lange böse sein. Mr. Walsers ignorierte sie nach wie vor.
„Jaha", antwortete Astrid, während sie ihre nassen Schuhe auszog und die vom Regen feucht gewordene Jacke an einen Haken hing, bevor sie ins Wohnzimmer ging.
„Oh, gut, Essen ist nämlich fertig", sagte Mrs Walsers, als sie gerade ein paar Teller auf dem Tisch verteilte.
„Astrid!"
Astrid drehte sich um und wurde sogleich fast mit einem uff, welches eindeutig aus ihrem Mund kam, umgestoßen. Der Grund dafür war ein kleiner blondhaariger Junge, Fire.
„Du und Sunny wart heute den ganzen Tag unterwegs, ich war total alleine", jammerte er, löste sich aber kein bisschen von ihr, sondern starrte nur hoch, um ihr ins Gesicht zu sehen.
„Hast du denn keine anderen Freunde, mit denen du etwas unternehmen kannst?", fragte Astrid lächelnd ihren kleinen Stiefbruder.
„Doch, aber die konnten heute alle auch nicht. Felix war krank, Maxi mit seinen Eltern bei irgendeinem Familientreffen und die anderen konnten auch alle nicht."
„Das war aber gar nicht schlimm", mischte sich nun Mrs Walsers ein.
„So konnte er wenigstens ein wenig im Haushalt mithelfen."
„Ja, toll", entgegnete Fire und klang dabei ganz und gar nicht erfreut, sondern eher wie jemand, der dazu gezwungen wurde, etwas zu machen, was langweilig und lästig war.
„Ist Sunny denn noch nicht zurück?", fragte Astrid.
„Oh, doch schon, aber die sitzt in ihrem Zimmer und telefoniert mit ihren Freundinnen", erklärte Fire und ein leicht beleidigter Unterton schwang mit.
„Keine Sorge Fire, sie muss jetzt sowieso runterkommen, weil es jetzt Essen gibt, und dann wird sie dir schon alles noch erzählen", besänftigte Mrs Walsers ihren Sohn.
„Bestimmt nicht. Die erzählt mir ja nie irgendetwas. Aber Astrid, du kannst mir ja wieder von deinem Training erzählen!"
„Naja, so spannend ist das gar nicht. Anstrengend, ja, aber so viel zu erzählen gibt es da nicht."
„Na klar! Welche Waffe hattest du heute zum Trainieren? War es wieder eine neue?"
Natürlich wusste Astrids Familie davon, dass sie ein Mehrwaffler war, was bei Mr. Walsers weniger, aber bei Fire umso mehr Begeisterung hervorgerufen hatte.
„Nein, wieder mein Langschwert", antwortete Astrid, die etwas genervt von dem Tag und Fires zusätzlicher Fragerei war.
„So kleine Nervensäge, es gibt jetzt Abendbrot und da solltest du deinen Mund dafür benutzen, Essen zu dir zu nehmen und keine nervenden Fragen zu stellen", meinte sie und befreite sich von Fires Fängen, der beleidigt ihr die Zunge raustreckte.
„Könntest du bitte Sunny holen, Astrid? Ich sollte vielleicht nicht stören", meinte Mrs Walsers und Astrid nickte, bevor sie die Treppe hoch zu Suns Zimmer lief.
Von draußen hörte man, wie sie noch mit einer Freundin telefonierte, um ihr aufgeregt jede noch so unwichtige Kleinigkeit und jedes noch so wichtige Detail so genau wie möglich zu schildern. Leise anklopfend drückte Astrid die Türklinke herunter und betrat das Zimmer ihrer Stiefschwester, in dem sie noch nicht oft gewesen war. Es war in einem Stil eingerichtet, was viele für ‚typisch mädchenhaft' betitelt hätten, aber Astrid hatte nicht solch ein Schubladendenken. Als sie eintrat sah Sun auf, beendete das Gespräch und grinste ihre Freundin breit an.
„Wow, da scheint ja jemand sehr glücklich zu sein. Ich würde mal raten, dein Tag heute lief gut?", lachte Astrid.
„Noch viel besser! Es lief perfekt! Und das habe ich nur dir zu verdanken, Astrid. Danke!"
„Perfekt, also. Bekomme ich auch ein paar mehr Details?", fragte Astrid provozierend.
„Ich erzähle dir alles, nur..."
„Nur was?"
„Sollten wir nicht zum Essen runter?", grinste Sun.
„Na schön, aber danach erfahre ich alles", meinte Astrid mit gespielt drohenden Blick.
„Natürlich", entgegnete Sun lachend und zog Astrid an der Hand hinter sich her, als sie wieder in die Küche liefen. Doch eine Person fehlte.
„Wo ist Mr. Walsers?", fragte Astrid, als sie sein grimmiges Gesicht und die abwertenden Kommentare von ihm vermisste.
„Oh, der muss ein paar wichtige Sachen erledigen", meinte Mrs Walsers, die versuchte ein neutrales und unbesorgtes Gesicht aufzusetzen, was nicht wirklich funktionierte und Astrid konnte daraus schlussfolgern, dass es irgendwas mit den Engeln zu tun hatte.
Seufzend setzte sie sich an den Tisch und mit bedrücktem Schweigen versuchte jeder was in den Magen zu bekommen. Eigentlich sollte sie das gar nicht fühlen, denn eigentlich hasste sie Mr. Walsers, aber irgendwie hatte sie Sorge. Weniger um ihn als um die Folgen für die Familie, für Fire und Sun. Sie wollte sie doch beschützen, nicht nur vor physischen, sondern auch psychischen Schäden, vor Trauer, vor Verlust. Doch war das nicht eine zu große Bürde? Sun hatte ihr erzählt, dass sie das auch wollte, der Grund, warum sie Astrid auch nicht in ihrer Familie haben wollte. Und jetzt hatte Astrid die gleichen Empfindungen. Die Bedeutung wusste Astrid nicht zu bestimmen.
Der Stift kratzte auf dem Blatt Papier, als er schnell und geschwungen über die Seiten gezogen wurde und Buchstaben hinterließ, deren Wörter die Sätze von Astrids neuesten Tagebucheintrag vervollständigten. Sie schrieb das letzte Wort, als ihr etwas sehr Bedeutendes auffiel. Wie viele Tage hatte sie nun schon bei den Walsers verbracht? Sie hatte tatsächlich vergessen, mitzuzählen. Jetzt musste sie wohl in ihren früheren Tagebucheinträgen nachsehen, aber das sollte ja nicht schlimm sein. Doch allein die Tatsache überraschte sie und bestätigte nur einmal mehr Astrids Vermutung, sich in ihrer jetzigen Familie sehr wohl und willkommen zu fühlen. Naja, von den meisten zumindest. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und starrte aus dem Fenster. Regen peitschte an die Scheiben, während sie sich fragte, wie es ihrem Ziehvater wohl erging. War er gerade in einem Kampf mit Engeln? Irgendwann würde Astrid auch auf Missionen geschickt werden, um den Seraphs zu helfen und um die Cherub ein wenig Einhalt zu gebieten. Astrid konnte jedoch sehr wohl nachempfinden, warum die Cherub Gewalt anwandten. Sie waren einfach frustriert, ungeduldig, rachsüchtig und wollten Vergeltung üben. Astrid konnte irgendwie nachvollziehen, warum man so handelte und die Cherub in irgendeiner Weise verstehen. Doch man musste doch einen anderen Weg finden könnten, einen Weg ohne Gewalt. Doch gab es einen solchen Weg überhaupt? Gab es einen anderen Weg, als Feuer mit Feuer zu bekämpfen? Sicherlich war es schwer, aber man konnte doch von keinen sicheren Frieden reden, der auf Gewalt beruhte. Die Seraphs bemühten sich um solch einen Weg. Und wenn die Dämonen endlich den Keil zwischen ihnen und den Engeln austreiben konnten? Was dann? Astrid war sich nicht sicher, was aus den Engeln werden sollte. Aber vielleicht hatten die Dämonen schon längst eine Idee, schließlich konnte sie ja nicht für alles eine Verantwortung übernehmen. Aber wenn alle so denken würden, würde es ja keiner tun. Also machte sie sich lieber doch Gedanken, auch wenn sie eventuell ziemlich unnütz waren. Es würde doch immer irgendeinen Zwiespalt geben, irgendjemand, der der Meinung war, Dämonen und Engel müssten sich hassen. Man könnte es niemanden recht machen. Würde es denn überhaupt jemals Frieden geben, wenn der Stachel der Gewalt und des Verrats so tief steckte? Würden nicht alle verbluten, wenn man ihn herausziehen würde?
Astrid schob ihre Gedanken beiseite. Sie hätte gut und gerne darauf verzichtet, in einen so komplizierten Konflikt hineingezogen zu werden, aber es war nicht zu ändern.
Einzig bei Sunny und Tobias schien es gut zu laufen, und das machte Astrid froh. Um ehrlich zu sein, konnte sie sich eine Freundschaft mit ihm besser vorstellen, als irgendeine Beziehung. Nein, Astrid hätte es nie so weit kommen lassen, da war sie sich sicher. Aber es war schon irgendwie amüsant zu sehen, dass der Typ, der offensichtlich Interesse an ihr gezeigt hatte, nun plötzlich Sun datete. Vermutlich hatte er aber immer gehofft, mit ihr zusammenzukommen, denn Astrid wollte es nicht als Zufall sehen, dass er gerade sie so unbedingt kennenlernen wollte. Sicherlich hatte er nur gehofft, dadurch mit Sun in Kontakt treten zu können, auch wenn er sich das niemals eingestehen würde.
Astrid grinste bei den Gedanken an die beiden, und ein weiteres Bild versuchte, sich in ihren Kopf zu bilden, als ein lautes Grollen sie zusammenzucken ließ. Gewitter. Sie machte auch das kleine Licht ihrer Tischlampe aus und trat ans Fenster. Eigentlich liebte sie Gewitter, aber nun verstärkte es irgendwie ihre Sorge um Mr. Walsers, die sie einfach nicht loswerden wollte. Sie hasste dieses Gefühl und verspürte den Drang, es sofort loswerden zu wollen. Irgendetwas musste sie dagegen tun, dachte sie, während sie nervös mit dem abgebrochenen Marmorstück spielte, das ihr am ersten Tag bei den Walsers aus der Fensterbank gebrochen war.
Sie wollte sich schon ihren Mantel greifen, als sie im Augenwinkel eine Bewegung von draußen wahrnahm. Schnell huschte sie außer Sehweite neben dem Fenster, drückte sich an die Wand und lugte über die Schulter in die schwarze regnerische Nacht. Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Astrid nichts außer Dunkelheit sah und schon dachte, sie hätte sich die Bewegung nur eingebildet, doch da blitzte es und für den Bruchteil einer Sekunde wurde eine Gestalt vor dem Haus erhellt. Astrid riss erschrocken die Augen auf, als sie in das wohlbekannte Gesicht ihrer Stiefschwester sah, die mit übergestülpter Kapuze hinter einem Busch hockte und noch einmal zum blauen Haus zurückblickte, um sich zu vergewissern, dass auch niemand sie gesehen hatte. Obwohl Astrid wusste, dass es sowieso keinerlei Sinn hatte, hielt sie den Atem an und sah, wie Sun, ihrer gelungenen Flucht sicher, die Straße hinunterhuschte. Anscheinend hatte sie das Gleiche vor wie ihre Freundin, dachte Astrid. Aber sie müsste Sun unbedingt vor irgendwelchen Dummheiten abhalten, ansonsten wäre da eine Person mehr, um die man sich Sorgen machen sollte.
Nachdem sie ihren schwarzen Mantel anzog, schlich sie leise aus ihrem Zimmer, schloss es sicherheitshalber ab, und bewegte sich auf Zehenspitzen Richtung Küche. Es war alles dunkel, Mrs Walsers musste also schon schlafen, wenn sie das überhaupt konnte. Nur hin und wieder wurde der große Raum, der mit dem Wohnzimmer verbunden war, durch einen Blitz erhellt und die Stille von einem Donnergrollen unterbrochen. Astrid schlich sich gerade zur Tür zum Flur, als sie hörte, wie jemand sich scheinbar an einem Stuhl stoß und zuckte vor Schreck zusammen. Sie dachte schon, Mrs Walsers hätte sie bemerkt, doch dann hörte sie den verräterischen Klang der Stimme von Fire.
„Autsch, verdammt!", fluchte er leise vor sich hin.
„Ich will gar nicht wissen was du vorhast. Aber egal was es ist, unbemerkt wirst du nicht aus dem Haus kommen, so, wie du wie ein Elefant hier durch die Dunkelheit trampelst", flüsterte Astrid hörbar und Fire entfuhr ein kleiner Schreckensschrei, weswegen Astrid sofort die Finger an seinem Mund hielt.
„Schhhhhh! Ich bin es doch nur!"
„Astrid?! Was willst du hier?", fragte Fire, als Astrid wieder die Finger runternahm.
„Wahrscheinlich dasselbe wie du. Aus dem Haus brechen."
„Und wieso? Ich meine... Ich habe Sunny aus ihrem Zimmer raus gehen sehen! Sie wird sicher etwas Dummes tun und ich kann nicht hierbleiben und nichts tun, während auch noch mein Vater da draußen ist", erklärte Fire mit gesenkter Stimme. Er sprach zwar sehr leise, dafür aber aufgeregt und schnell, sodass Astrid sich anstrengen musste, ihm folgen zu können.
„Kommt gar nicht in die Tüte! Wage es ja nicht, genau solche Dummheiten begehen zu wollen wie deine Schwester, zumal du noch viel jünger bist!"
„Und du? Was wolltest du? Du willst sicher nicht nur wegen Sunny raus, stimmt's?", erriet Fire, und ohne sein Gesicht wirklich zu erkennen, wusste Astrid, dass er jetzt grinste, wohlwissend, ins Schwarze getroffen zu haben.
Astrid zuckte nur die Schultern.
„Ich schätze mal, ich habe auch ein wenig Sorgen."
„Echt?"
„Schhh!"
„'tschuldige, es ist nur..."
„Ich weiß, aber die Tatsache, dass ich nicht ruhig sitzen kann, spricht für sich."
„Wow, wenn er das wüsste...", fing Fire an.
„Ich denke, er würde mich in die nächstbeste Anstalt befördern und wäre froh, mich endlich los zu sein", beendete Astrid seinen Satz.
Er kicherte leise.
„Aber...", flüsterte Astrid weiter, „Du solltest echt wieder zurück. Es wird nichts bringen, jetzt da raus zu gehen."
„Sagt genau die Richtige!", gab Fire beleidigt zurück.
„Bei mir ist das was anderes, schließlich weiß ich schon, wie ich mich verteidigen kann und bin auch viel älter und erfahrener als du kleiner Knirps."
„Du klingst ja fast schon, als wärst du meine große Schwester."
„Im Grunde genommen bin ich das ja auch."
„Dann gehe ich mit dir!"
„Nein!", widersprach Astrid sofort, „Es ist zu gefährlich! Wer weiß, ob die Engel uns auflauern. Ich weiß nicht, ob ich schon stark genug bin, uns beide zu beschützen."
Fire schwieg. Astrid spürte förmlich, wie er mit sich rang, was nun die Oberhand gewinnen sollte: die Vernunft oder der sture Wille. Astrid überlegte, wie sie ihn überzeugen konnte.
„Na schön, Fire. Hör zu. Du hast doch sicher schon ein Telefon. Ich werde jetzt losgehen und Sunny suchen und halte dich durch das Telefon auf dem laufenden. Klar?"
Fire überlegte kurz, nickte jedoch schließlich einsehend.
„Gut. Ich verlasse mich auf dich, dass du keinen Blödsinn machst. Und wenn du merkst, dass Mrs Walsers Verdacht schöpft, schlägst du Alarm, sodass sie nichts merkt, okay? Schaffst du das?"
„Klar!", rief er euphorisch, sodass Astrid ihn wieder die Finger auf den Mund legen musste.
„Klar!", sagte er wider, dieses Mal leiser, aber Astrid konnte sein Grinsen wieder heraushören.
„Wenn ich bis Morgengrauen nicht zurücksein sollte, sagst du Mrs Walsers Bescheid", gab sie noch die letzte Anweisung, bevor sie ihre Schuhe anzog und nach draußen eilen wollte. Doch plötzlich musste sie mit einem Uff nach hinten taumeln, als Fire sie noch einmal stürmisch und fest umarmte.
„Pass auf dich auf und bring dich, Sunny und Dad sicher wieder nach Hause."
Astrid umarmte ihn zurück.
„Ich werde mein Bestes versuchen."
Sie drückte ihn noch einmal fest an sich, ehe sie die Tür aufriss und in die dunkle stürmische Nacht heraustrat.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro