
o3. Tut es nicht
Harry
„Ich habe deinen Bericht gelesen", sagte Louis zu ihm, „In der Zeitung, die du mir verkauft hast."
Harry schluckte. Er nickte und setzte nachdenklich ein Bein vor das Andere. „Ich möchte dein Mitleid nicht. Ich wollte es heute Vormittag nicht, und ich will es auch jetzt nicht."
Louis schüttelte energisch seinen Kopf, wenngleich er sehen konnte, dass Harry ihn keines Blickes würdigte. „Ich habe kein Mitleid mit dir."
Ein energisches Nicken. „Gut."
Harry's wortkarge Art brachte Louis schon jetzt an den Rand seiner Geduld. Wie sollte er sich auf diese Art und Weise anständig mit ihm unterhalten? War das überhaupt möglich?
„Darf ich dich etwas fragen?"
Harry sah ihn zum ersten Mal in diesem Gespräch an. „Sicher."
Er fragte sich, was dieser Mann eigentlich von ihm wollte - er hatte ihn behandelt wie ein minderwertiges Stück Dreck, und jetzt - nur einige Stunden später - wollte er dringend mit ihm sprechen, weil er seine Geschichte kennengelernt hatte?
Das hatte mit Mitleid vielleicht nichts zu tun, da gab er ihm recht. Aber mit einem schlechten Gewissen hatte das sehr wohl etwas zu tun, aber ganz bestimmt nicht mit einer aufrichtigen Entschuldigung.
Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er jemanden mit einer beschissenen Vorgeschichte zusätzlich gedemütigt hatte. Vielleicht hatte er Angst, deswegen in Ärger zu geraten, wer weiß. Das war das, was Harry am meisten störte. Dieses ganze Getue, es täte ihm sehr leid seitdem er seine Geschichte gelesen hätte - natürlich war das ehrlich. Aber es hatte nichts damit zu tun, dass es ihm wirklich leid tat. Es kam nicht von Herzen.
Harry wartete noch immer auf die Frage, die Louis ihm eigentlich hatte stellen wollen. Dass er sich offensichtlich zierte, sie auszusprechen, untermauerte Harry's Ärger nur.
„Hör mir zu", sagte er schließlich, „Ich kann mir denken, was du mich fragen willst. Armer Junge, wie konntest du nur so abstürzen? Aber soll ich dir mal was sagen?"
Louis sah ihn im ersten Moment so verwirrt an, dass selbst Harry begann, zu zögern. Schließlich rang er sich allerdings doch dazu durch, ehrlich zu sein. „Nicht jeder hat reiche Eltern und die Möglichkeit, irgendeinen Dreck zu studieren, nur um sich etwas besseres nennen zu können. Manche Menschen wachsen eben in bescheidenen Verhältnissen auf, für manch andere ist sogar das noch eine Untertreibung. Menschen wie dich kenne ich schon mein ganzes Leben lang. Ihr bekommt alles in die Wiege gelegt und fühlt euch, als wärt ihr etwas besseres, und wir der Abschaum der Gesellschaft."
Louis schüttelte irritiert seinen Kopf. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was er darauf noch hätte sagen sollen.
„Wie kommst du denn darauf, dass meine Eltern reich waren?"
Obwohl sie das gewesen waren, fragte er sich doch ernstlich, woher Harry davon gewusst hatte.
„Sieh dich doch an!", rief er aus und blieb einen Moment lang stehen. „Du trägst diese teuren Anzüge, hast in deinem Alter bedeutend mehr erreicht als der Durchschnitt und willst dann noch ernsthaft wissen, woher der Rest weiß, dass deine Eltern viel Geld haben?"
Ein seufzten drängte sich aus seiner Brust. „Obwohl du mit dieser Sache recht hast, heißt das noch lange nicht, dass ich mich nicht auch habe anstrengen müssen."
Harry hob abwehrend beide Hände. „Das habe ich nie gesagt", stellte er klar, „Ich habe lediglich gesagt, dass du die besten Grundvorraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere hattest. Du hast dir nicht alles selbst erkämpfen müssen."
„Das musstest du auch nicht."
Ein mehr oder weniger verachtender Laut drängte sich aus Harry's Brust. „Du hast keine Ahnung."
Nun war Louis derjenige, der ihm ein spöttisches Lachen entgegenwarf. „Willst du mir erzählen, dass sich deine Eltern gar nicht um deine Bildung gekümmert haben?"
Harry's Augen verzogen sich zu zwei Schlitzen, die Louis musterten, als könnten sie ihm jeden Moment an die Gurgel springen. „Ich habe keine Eltern."
Louis schluckte. Es war ihm noch nie schwer gefallen, in ein Fettnäpfchen nach dem anderen zu treten, aber heute war wohl, was das anbetraf, sein absoluter Glückstag.
„Oh", machte er nur, „Das tut mir leid."
„Tut es nicht", kam es prompt zurück, „Würde es das tatsächlich tun, hättest du heute Vormittag anders mit mir gesprochen. Du hättest mich nicht von Anfang an behandelt, wie jemanden aus der gesellschaftlichen Unterschicht - auch wenn ich da für dich hingehöre -, sondern wie einen ganz normalen englischen Staatsbürger, der genauso ein Recht auf einen Sitz in der U-Bahn hat, wie du auch."
Louis wollte zu einem neuen Satz ansetzen, aber Harry unterbrach ihn: „Daran ändert weder dein Geld etwas, noch dein Status in irgendwelchen Firmen, die stolz auf dich sind, weil deine Eltern viel Geld haben."
Natürlich war ihm bewusst, dass das, was er sagte, nicht ganz fair war. Er wusste, dass es auch mit gegebenem Startkapital schwer war, zu studieren. In diesem Moment verhielt er sich nicht bedeutend besser als Louis an diesem Vormittag.
Er seufzte. „Vielleicht ist das, was ich sage, nicht fair. Das mag sein. Aber weißt du, was mich richtig wütend macht?"
Louis schüttelte seinen Kopf.
„Dass dir nur wegen diesem Artikel in der Zeitschrift aufgefallen ist, dass du einen Fehler gemacht hast. Dass du noch nicht einmal von selbst darauf gekommen bist, dich bei mir zu entschuldigen. Folglich kannst du das ja nicht sonderlich ernst meinen."
Louis hob abwehrend beide Arme. „Das ist nicht wahr."
„Sondern?"
„Falsch. Es tut mir wirklich leid. Ich habe-"
Er unterbrach sich selbst, als er Harry's nach oben gezogene Augenbrauen sah. Die vielen Tattoos auf seinem Körper, die langen Haare, die Art und Weise, wie er sich kleidete - Vielleicht war es auch nur seine Optik gewesen, die Louis an diesem Morgen etwas verstört hatte.
„Hör zu", sagte Harry irgendwann, „Ich glaube nicht, dass dieses Gespräch noch zu irgendetwas führt."
Louis wollte ihm widersprechen, sah dann aber ein, dass es keinen wirklichen Sinn hatte. Also griff er in seine Tasche und reichte seinem Gegenüber ein Stück bläuliche Pappe.
„Falls du es dir anders überlegst", sagte er schließlich und wich einen Schritt zurück.
„Weshalb um alles in der Welt sollte ich das tun?"
Louis zuckte beide Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht bemerkst du früher oder später doch, dass deine Geschichte mir nicht mehr aus dem Kopf geht."
Ein verächtliches Lachen drängte sich aus Harry's Brust, als er die Karte einsteckte. „Wenn du meinst."
Mit diesen Worten winkte er ihm zu und entfernte sich Schritt um Schritt von ihm und machte sich auf den Weg zur U-Bahn Station. Dass das nicht die berüchtigte ‚feine, englische Art' gewesen war, wusste er auch. Aber dieses geheuchelte Mitgefühl hatte er beinahe als persönliche Beleidigung aufgefasst.
Zurück in seinem eigentlichen zu Hause fand er auf seinem Zimmer niemand vor. Die Jungs waren im Aufenthaltsraum, spielten Karten oder sahen fern, unterhielten sich oder saßen einfach nur erschöpft und teilnahmslos in einer Ecke. Für Harry war es nicht schwer zu erkennen, dass einige von ihnen schon wieder drauf waren.
Prickelndes Verlangen steig in ihm nach oben. Allein das Wissen, dass er sich jeden Moment Heroin hätte beschaffen können, machte ihn verrückt. Er war hier aufgewachsen, er kannte jeden Winkel der Stadt, folglich auch der Drogenszene. Ob das gut oder schlecht war, lag ihm Auge des Betrachters. Die Vernunft appellierte allerdings an ihm, das Ganze sein zu lassen. Immerhin hatte er schon Monate ohne Heroin durchgestanden, ohne rückfällig zu werden.
„Was hat der Typ gesagt?", wollte Liam wissen, als Harry sich neben ihm auf das Sofa fallen ließ. Er zuckte beide Schultern.
„Keine Ahnung. Er meinte, meine Geschichte wäre ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen."
Liam's Augen wurden größer. „Woher kannte er die denn?"
„Aus der Zeitschrift, die ich ausgetragen habe", murmelte Harry und strich sich eine Strähne des Schulterlangen Haares aus dem Gesicht. „Er wollte sich entschuldigen, und ich wollte sein geheucheltes Mitleid nicht. So einfach ist das."
Liam schüttelte seinen Kopf. „So wie ich dich kenne, hast du ihm das nicht besonders nett mitgeteilt."
„Wofür auch? Der Typ schuldet mir eine Fahrkarte durch halb London."
Liam musste unwillkürlich lachen. „Vielleicht solltest du dich gerade deswegen noch einmal mit ihm treffen."
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