
80. Du willst nicht, dass ich noch etwas sage
Harry
Es dauerte keine Woche, bis auch das Geld aus der Haushaltskasse aufgebraucht war.
Harry stieß ein abgrundtiefes Seufzen aus, als er die letzten fünfzig Pfund herausnahm.
Wie sollte er das bitte Louis erklären?
Natürlich würde es ihm früher oder später auffallen, er war schließlich nicht auf den Kopf gefallen.
Es gab kaum eine glaubhafte Ausrede, schon gar nicht in der heiklen Situation, in der sich ihre Beziehung momentan befand.
Er durchsuchte die Schränke nach weiterem Bargeld, aber natürlich fand er nichts.
Louis hatte sein gesamtes Geld auf der Bank, und Harry verdiente kein eigenes mehr.
Das Einzige, was er finden konnte, war der Goldschmuck von Louis' verstorbener Großmutter.
Kann ich das wirklich machen?, fragte sich Harry einen Moment lang.
Die Antwort war natürlich einfach.
Selbstverständlich konnte er das nicht machen.
Das war nicht nur respektlos, das war absolut unmöglich und allein der Gedanke widerte ihn selbst an.
Aber wie sollte er sonst an das Geld für Heroin kommen?
Er wollte schließlich nicht wieder auf dem Straßenstrich landen, davon hatte er noch heute regelmäßig Alpträume.
Ganz abgesehen davon, dass er Louis damit betrügen würde.
Was natürlich ebenfalls der Fall war, wenn er den Schmuck seiner Großmutter verkaufte.
Harry wusste, dass Louis seiner Großmutter sehr nahe gestanden hatte, aber wozu sollte er ihren Goldschmuck brauchen?
Er konnte ihn schließlich ohnehin nicht tragen.
Und bevor er sinnlos in der Schublade herumlag ...
Mit diesen und anderen Erklärungen versuchte Harry, sich die Sache schön zu reden.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er den Schmuck einpackte und zum nächsten Pfandleihaus marschierte.
Ihm war klar, dass Louis früher oder später herausfinden würde, was er getan hatte.
Aber darüber konnte er sich jetzt keine Sorgen machen.
Er brauchte Heroin, und das dringend.
Alles andere konnte er später regeln.
Louis
Die letzten Wochen waren eine emotionale Talfahrt gewesen.
Harry und er hatten kaum ein Wort miteinander gesprochen.
Natürlich war ihm aufgefallen, dass Harry sich neues Heroin besorgt hatte, schließlich hatte er Augen im Kopf.
Aber er hatte keine Kraft mehr, mit ihm darüber zu diskutieren.
Er war erschöpft.
Die Arbeit verlangte ihm einiges ab, das Projekt war in vollem Gange und der Auftraggeber erwartete Ergebnisse.
Und dann war da noch Harry, der sein junges Leben gerade in den Abgrund warf, und Louis war sich nicht sicher, ob er sich den Konsequenzen seines Handelns wirklich bewusst war.
Louis hatte keine Ahnung mehr, was er noch tun sollte.
Er wollte Harry helfen, das wollte er wirklich – aber er konnte nicht.
Er fühlte sich so ohnmächtig, weil Harry selbst keinerlei Motivation zeigte, das Heroin loszulassen.
Aber warum?
Das war die Frage, die ihn nachts wach hielt, die Frage, die ihn rund um die Uhr beschäftigte.
Warum ließ er sich nicht helfen?
Warum nahm er Louis' Hilfe nicht an?
Warum warf er alles weg, was er sich so hart erarbeitet hatte?
Was war so toll an einem Leben mit einer tödlichen Droge?
Was war so toll daran, dass man dafür alles aufgab?
So sehr er sich auch bemühte, er verstand es nicht.
Und das konnte er auch nicht, denn er steckte nicht in Harry's Schuhen.
Doch er war sich nicht mehr sicher, wie viel länger er das noch ertragen konnte.
Harry
Die Tage vergingen, und Harry hatte aufgehört, sie zu zählen.
Jeder Tag schien gleich.
Louis ging zur Arbeit, Harry dröhnte sich zu, Louis kam nach Hause, sie schliefen getrennt.
Am Wochenende war Harry meistens unterwegs, und er wunderte sich jedes Mal aufs Neue, dass Louis nichts dazu sagte.
Es schien, als hätte er ihn aufgegeben.
Das schmerzte.
Aber das Heroin fing einen großen Teil des Schmerzes ab und raubte ihm jegliche Kraft, darüber nachzudenken.
Mittlerweile war die ganze Sache in Stress ausgeartet – die ständige Jagd nach dem nächsten Schuss ließ ihm keine Ruhe.
Er war ständig auf dem Sprung, und mittlerweile hatte er große Not, sich weiterhin Geld zu beschaffen.
Wenn Louis schlief, klaute er ihm hin und wieder fünfzig Pfund aus seinem Portemonnaie, aber er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, ob er ihn jemals darauf angesprochen hatte, bevor er es woanders versteckte.
Als Harry an diesem Abend nach Hause kam, war er überrascht, dass Louis schon da war.
Er saß mit verschränkten Armen am Küchentisch und schien bereits auf ihn zu warten.
Harry erstarrte im Türrahmen, als er seinen kühlen Blick sah. Es war beinahe, als könne es jeden Moment beginnen, zu schneien. „Hast du mir etwas zu sagen?"
Harry ging in die Küche und sah ihn über die Kochinsel hinweg an. Er nahm sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser. „Worauf willst du hinaus?"
Louis konnte seinen Zorn kaum noch kontrollieren.
Er stand ruckartig auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Harry zuckte erschrocken zusammen und ließ das Glas fast fallen.
„Du weißt ganz genau, wovon ich rede", gab Louis zurück, jetzt in einem lauteren Tonfall. „Also sag mir besser gleich die Wahrheit."
Harry wich seinem Blick aus und heftete ihn stattdessen starr auf den Boden.
„Gib mir eine Antwort!", schrie Louis durch das Apartment, und Harry zuckte erneut zusammen.
Louis brauchte keine drei Sekunden, um zu erkennen, dass er komplett drauf war.
„Ich weiß nicht, wovon du redest", antwortete Harry und zuckte die Schultern.
Die Gelassenheit, mit der er das sagte, machte Louis noch rasender.
„Okay, dann werde ich dir mal ein bisschen auf die Sprünge helfen", antwortete er mit unterdrückter Wut. „Du hast mir allein in der letzten Woche dreihundert Pfund gestohlen. Und der Goldschmuck meiner Großmutter fehlt."
Harry schluckte.
Eigentlich war es ihm klar gewesen, dass dieses Gespräch irgendwann kommen würde.
Aber jetzt, wo der Moment gekommen war, hatte er keine Ahnung, was er sagen sollte.
„Ich...", stammelte er also, während er noch immer nach einer Antwort suchte. „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll... Es tut mir leid."
Louis schüttelte fassungslos den Kopf. „Es tut dir leid?"
„Ja, ich-"
„Weißt du was", brüllte Louis und schob den Jüngeren in Richtung der Wohnzimmertür. „Ich möchte, dass du deine Sachen packst."
Erst jetzt sickerte die Erkenntnis zu Harry hindurch.
„Nein...", sagte er und sah den jungen Geschäftsmann beinahe flehend an. „Ich kann mich ändern, Louis. Ich verspreche es dir."
Entnervt verdrehte Louis die Augen. „Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört?"
„Ich mein's ernst", beteuerte Harry und spürte, wie seine Augen feucht wurden.
Das Heroin fing einen Teil des Schmerzes ab, aber es konnte ihn nicht vor der bitteren Erkenntnis bewahren, dass Louis ihn gerade vor die Tür setzte.
„Jaja, ich weiß", gab Louis resigniert zurück. „Und nächste Woche überlegst du es dir wieder anders. Sieh' zu, dass du verschwindest."
Dicke Tränen kullerten über Harry's Wangen, und er spürte, wie durch den dichten Nebel des Heroins langsam Schuldgefühle zu ihm hindurchdrangen.
„Was hätte ich denn tun sollen?", schrie Harry da plötzlich zurück, „Du bist den ganzen Tag unterwegs! Ich sehe dich teilweise drei Tage am Stück nicht, und dir ist wochenlang nicht aufgefallen, wie es mir wirklich geht."
Louis presste vor Wut die Lippen zusammen. „Willst du mich eigentlich verarschen? Ich habe die letzten Jahre nichts anderes getan, als mich zu fragen, wie es dir geht und wie ich dir am besten helfen könnte. Und du besitzt die Dreistigkeit, vor mir zu stehen und mir zu erzählen, ich würde mich nicht für dich interessieren?"
„Ich kann so schwer alleine sein", gab Harry mit brüchiger Stimme zurück, „Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll."
Louis schüttelte ungläubig den Kopf. „Und dann glaubst du, ist es eine gute Idee, sich mit Heroin vollzupumpen?"
Harry zitterte am ganzen Körper. „Ich kann nicht anders", gestand er unter Tränen, „Ich weiß nicht, wie gesunde Leute das aushalten."
Louis tippte sich an die Stirn. „Du hast sie doch nicht mehr alle."
„Genau das meine ich!", rief Harry aufgebracht aus, „Wie kannst du sowas sagen?"
„Harry", gab Louis zornig zurück, „Du hast mir mehrmals Geld gestohlen, den Schmuck meiner toten Großmutter verkauft und in meiner Wohnung überall deine benutzten Spritzen liegen gelassen. Willst du dich jetzt wirklich wundern, warum ich wütend bin?"
Louis hob die Hand und zog auf, um Harry eine Ohrfeige zu geben. Er war so wütend, dass das fast automatisch passierte.
Harry zuckte zurück. Bilder aus einer längst vergangenen Zeit blitzten vor seinem inneren Auge auf, und hielt sich den Arm vor das Gesicht. „Bitte nicht."
Louis ließ seine Hand augenblicklich sinken.
Natürlich wollte er ihm keine Ohrfeige geben.
Er war schließlich kein Unmensch.
Als er das Häufchen Elend vor sich sah, das in diesem Moment wirklich ernsthaft Angst vor ihm hatte, wurde sein Herz fast wieder weich.
Harry spürte, wie ihm das Atmen plötzlich schwerer fiel. „Liebst du mich noch?"
Louis sah sein Gegenüber einen Moment lang ratlos an.
Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet.
Also antwortete er auch nicht.
Denn er hatte keine Ahnung wie.
Harry's Stimme zitterte verdächtig. „Louis", wimmerte er, „Bitte sag doch was."
Der junge Geschäftsmann schüttelte den Kopf. „Glaub mir, du willst nicht, dass ich noch etwas sage."
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Hallo meine Lieben,
und einen guten Start ins Wochenende wünsch ich euch.🤍
All the love,
Helena xx
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