67. Tilidin
Harry
Am nächsten Morgen stand Harry früh auf, um der erste Patient in der Praxis seines Hausarztes zu sein.
Er hatte keine Lust, den halben Vormittag in dessen Wartezimmer zu verbringen.
Als er im Behandlungszimmer auf den Arzt wartete, sah er sich einen Moment lang um.
Alle möglichen Medikamente, vor allem Antidepressiva, standen hinter einer Glaswand in einem Regal.
Vor ihm stand ein weiteres, offenes Regal in dem sich blutdrucksenkende Medikamente und Schlafmittel befanden.
Harry wunderte sich jedes Mal, wenn er hier war, warum diese Medikamente so frei zugänglich herumlagen.
Man könnte schließlich glatt auf die Idee kommen...
Harry presste die Lippen zusammen und warf einen Blick aus der Tür.
Noch war sein Arzt auf dem Gang nicht zu sehen, und er nutzte die Gelegenheit, die Medikamentenschachteln einen Moment lang durchzusehen.
Alle möglichen Medikamente waren in diesem Regal, nur nicht das, was er suchte. Eigentlich war gar nichts davon irgendwie verwendbar, um sich damit zu berauschen.
Harry verdrehte die Augen und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder.
Natürlich nicht.
Der Arzt war schließlich nicht blöd.
Als der Mediziner den Raum betrat, schlug Harry das Herz bis zum Hals.
Er war ein älterer, gutgläubiger Mann, der bis heute nicht wusste, dass Harry einmal ein Heroinproblem gehabt hatte.
„Was kann ich für dich tun, Harry?", fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen und entsperrte seinen Computer.
„Ich habe Rückenschmerzen", log er und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. „Ich glaube, das kommt noch von meinem Sturz."
Der Arzt nickte und sah ihn einen Moment lang an. „Wo tut es dir denn weh?"
Einen Moment lang dachte Harry darüber nach, was in dieser Situation wohl die schlauste Antwortmöglichkeit wäre, wenn er zu seinem Ziel kommen wollte.
„Vor allem im Kreuz", log er also weiter, „Aber hin und wieder auch weiter oben, ich glaub ich hab mir was eingeklemmt..."
„Und das hattest du die ganzen letzten Wochen nicht?"
„Doch", antwortete er, als hätte er seine Rolle perfekt einstudiert. „Ich bin damit nur bisher immer zu meinem Orthopäden gegangen."
Der Arzt nickte. „Und was hat der dir gesagt?"
„Ich sollte das Morphin weiternehmen", antwortete Harry, obwohl auch das gelogen war.
Der Mediziner sah ihn einen Moment lang skeptisch an, dann aber nickte er. „Denkst du nicht, du solltest es vielleicht mit einem Opioid versuchen, das etwas schwächer ist?"
Harry seufzte. Wenigstens war er nicht komplett gegen eine Opioidtherapie.
Aber ein schwächeres Opioid würde nicht die gleiche Wirkung haben, schon gar nicht, wenn er an Morphin gewohnt war.
Also sah er seinen Arzt an und startete einen weiteren Versuch. „Die Schmerzen sind wirklich ziemlich stark..."
„Das weiß ich", antwortete sein Gegenüber. „Aber auch niedrigpotente Opioide wie Tilidin oder Tramadol werden dir da helfen können. Morphin ist wirklich nur zur Behandlung stärkster Schmerzen zugelassen..."
Harry hätte am liebsten laut losgeschrien.
Aber im Grunde genommen waren auch andere Opiate keine schlechte Alternative.
Zumindest in jedem Fall besser, als sich Heroin auf dem Schwarzmarkt zu besorgen.
Dann musste er eben noch irgendetwas zusätzlich einnehmen, das die Wirkung der schwach wirksamen Opioide steigerte.
Sein Arzt seufzte. „Kann ich das zusammen mit dem Morphin nehmen?"
„Auf gar keinen Fall", antwortete der Mediziner. „Warte bitte, bis du das ausgeschlichen hast."
Harry nickte.
„Was ist dir lieber, Tilidin oder Tramadol?"
Harry dachte einen Moment lang nach. Was war das denn für eine Frage – woher sollte er das wissen? „Sie sind doch der Arzt."
„Du scheinst dich mit Opiaten recht gut auszukennen", sagte er also und warf ihm einen wissenden Blick zu. „Also gehe ich davon aus, dass du das ein oder andere bereits probiert hast und weißt, welche du am besten verträgst."
Einen Moment lang war Harry ziemlich verblüfft, dann allerdings hätte er am liebsten seinen Kopf auf den Tisch geschlagen. „Tilidin", antwortete er also und beobachtete den Mediziner dabei, wie er sein Rezept unterschrieb.
Besser als nichts, dachte er, als er es wenig später in der Apotheke einlöste.
Er seufzte und machte sich auf den Weg nach Hause.
Es war ein verregneter Freitag, und Harry freute sich auf das Wochenende, das vor ihm lag.
Dann würde Louis endlich für wenige Tage nicht an seine Arbeit denken und Zeit für ihn finden, was in den letzten Wochen ausgesprochen selten vorgekommen war.
Manchmal fühlte Harry sich, als existiere er für Louis gar nicht mehr. Er kam von der Arbeit nach Hause, sie aßen, währenddessen redeten sie über die Arbeit, Louis ging unter die Dusche, und schließlich legten sie sich zusammen ins Bett, redeten wieder über die Arbeit, und innerhalb kürzester Zeit schlief Louis ein, weil er ganz einfach übermüdet war.
Und so ging das bereits seit Wochen.
Louis
Als er am Abend zu Hause ankam, lag Harry auf dem Sofa und verfolgte teilnahmslos eine Talkshow.
Er zog sich die Schuhe aus und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Das riecht ja gut", kommentierte er und deutete in Richtung der Küche. „Was ist das denn?"
Harry sah ihn an und schien einen Moment lang gar nicht zu wissen, wovon er überhaupt sprach.
Dann lächelte er. „Lasagne", antwortete er. „Ich dachte, du könntest mal wieder Lust auf dein Lieblingsessen haben."
Louis nickte. „Allerdings", antwortete er. „Das Essen in der Kantine ist schrecklich."
Harry rang sich ein kleines Schmunzeln ab, und Louis dachte, dass er irgendwie bedrückt aussah.
„Ist alles in Ordnung?", hakte er also nach und warf ihm einen besorgten Blick zu.
Harry zuckte die Schultern und stand auf. „Ich bin bloß müde", sagte er.
Louis seufzte. „Ich auch."
Und das war er wirklich.
Dass man ihn mit diesem großen Projekt betraut hatte, war eine wahnsinnige Ehre – aber es war auch sehr erschöpfend. An den meisten Tagen hatte Louis gar keinen Kopf mehr für irgendwelche anderen Dinge, wenn er nach Hause kam.
Folglich hatten er und Harry in letzter Zeit nicht mehr so viel Zeit miteinander verbracht, wie er sich das eigentlich gewünscht hätte.
Während sie aßen, klagte Louis ihm sein Leid über einen seiner Arbeitskollegen, der seine ganze Arbeit zusätzlich auf Louis abwälzte, damit er früher gehen konnte – und zwar jeden Tag.
Harry hörte ihm zu, nickte hin und wieder, antwortete ihm bei Gelegenheit und versuchte, nicht den Faden zu verlieren.
Als sie schließlich vom Tisch aufstanden, wunderte Louis sich darüber, dass Harry so wortkarg wirkte und seine Stimmung im Allgemeinen nicht sonderlich gut zu sein schien.
Eigentlich redete er sehr wohl mit ihm, wenn ihn etwas quälte, und Louis hatte eigentlich gedacht, dass sich daran nichts geändert hätte.
Vielleicht war er aber auch tatsächlich einfach nur müde und hatte heute keine Kraft mehr, sich mit dem Rest der Welt auseinanderzusetzen.
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Einen schönen Sonntag wünsch ich euch!
Na, wie gefällt euch die Geschichte mittlerweile? Bin gespannt auf eure Meinungen🥰
All the love,
Helena xx
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