54. Clean bleiben
Auf diesen Besuch folgten noch viele weitere, bis Harry sich endlich besser fühlte.
Es war schwierig, sich auf die vielen verschiedenen Therapieangebote einzulassen, aufzuarbeiten, was in seiner Vergangenheit geschehen war. Offenbar gab es viele Dinge in ihm, die er noch nicht verarbeitet hatte.
Am schlimmsten allerdings war es für ihn, Tag für Tag gegen den Suchtdruck anzukämpfen, der sich in ihm festgesetzt hatte wie eine Zecke in der Haut eines Tieres.
Er konnte nichts dagegen tun, es war, als hätte man ihn vergiftet - und es gab kein Gegengift.
Trotz all der Bemühungen und seinem unermüdlichen Willen, gegen die Sucht anzukämpfen, gab es Tage, an denen er sich fühlte, als stünde er noch ganz am Anfang.
Dann, wenn das Verlangen am größten war, wenn es wieder anfing in ihm zu brennen, dann würde er am liebsten aufstehen und die Klinik verlassen, zum Hauptbahnhof laufen und sich etwas besorgen. Etwas, das all die düsteren Gedanken aus ihm vertrieb, die sich ihm unaufgefordert aufdrängten wie ungebetene Gäste, die nicht mehr gehen wollten.
Es war ermüdend.
Wirklich ermüdend.
Und Harry wusste, dass es noch lange dauern würde, bis er endlich in der Lage sein würde, wieder ein normales Leben zu führen.
Dazu gehörte auch, sich wieder in die Gesellschaft zu etablieren und sich Arbeit zu suchen.
Doch welcher halbwegs vernünftige Chef stellte einen Drogenabhängigen ein, der sich gerade noch in einer Entzugsklinik befand?
Richtig, vermutlich die wenigsten.
Allerdings verfügte die Klinik über ein Wiedereingliederungsprogramm, das es ihm ermöglichte, von dort aus eine Ausbildung zu beginnen.
Harry hatte seinem Therapeuten erzählt, dass er ursprünglich in der Altenpflege gearbeitet hatte und das auch gerne wieder tun würde. Allerdings wusste er auch, dass es verdammt schwierig für ihn sein würde, den ganzen Tag lang von schweren Medikamenten umgeben zu sein.
Und er wusste auch, wozu das beim letzten Mal geführt hatte.
Sein Therapeut hatte lange und breit mit ihm darüber gesprochen, wie es zu all den Dingen hatte kommen können, die damals nun einmal passiert waren. Und sie hatten sich auch dazu entschieden, es noch einmal zu versuchen.
Wenn Harry sich parallel helfen ließ.
Und das tat er. Genau dafür war er hier.
Er wollte sich helfen lassen. Er wollte wieder gesund werden. Und er wollte sein Leben in den Griff bekommen, genauso, wie er es schon einmal geschafft hatte. Nur dieses Mal, ohne wieder rückfällig zu werden.
Und so bewarb er sich um einen Platz in der Wiedereingliederung, er schilderte seine Situation und hatte eigentlich keine großen Hoffnungen, angenommen zu werden.
Obwohl es sich um ein Programm der Klinik handelte, hatten sich die Vorurteile gegenüber seiner Person tief in ihm festgesetzt, und er wusste ganz genau, dass er nicht gerade zu den Top-Kandidaten gehörte, die man bei einer Bewerbung bevorzugte.
Doch das Programm war dazu da, Menschen wie ihm eine neue Chance zu geben. Den Start in ein neues Leben zu erleichtern.
Und so hatte er Glück und wurde angenommen - er hätte erleichterter kaum sein können.
Endlich schien alles seine geregelten Bahnen zu gehen, nach Plan zu laufen - zum ersten Mal in seinem Leben schien es, als würde alles ins Lot kommen.
Als würde er endlich beginnen, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Louis war schrecklich stolz auf ihn - und auch er hatte den Eindruck, als würde nun endlich alles gut werden.
Und so fieberten sie dem Tag seiner Entlassung entgegen, weil beide sich wünschten, endlich wieder zusammen leben zu können.
Sie freuten sich auf ihr neues, gemeinsames Leben, auch wenn beiden klar war, dass es verdammt schwierig werden würde. Und dass es auch einige Situationen geben würde, in denen das Vertrauen zwischen ihnen noch immer massiv beschädigt war und wieder wachsen musste.
Keiner von beiden wusste, ob das zwischen ihnen noch einmal funktionieren konnte.
Aber sie wollten es versuchen. Und sie gingen davon aus, dass sie es schaffen würden, sich wieder aufeinander zu verlassen.
Mit der Hilfe von Harry's Therapeuten, der ihn auch nach seiner Entlassung weiter betreuen wollte.
Seufzend sah Harry aus dem Fenster, als er ihm in einer Therapiesitzung gegenübersaß und die Regentropfen beobachtete, die sich auf dem Fenster nach unten schlängelten.
„Bald steht der Tag ihrer Entlassung an", grinste er ihm also entgegen und musterte seinen Patienten eingehend, versuchte, seine Reaktion abzuschätzen. „Was empfinden Sie beim Gedanken an diesen Tag? Können Sie sich freuen, oder überwiegt im Moment noch die Angst?"
Harry dachte einen Moment lang über die Frage nach und kam zu dem Schluss, dass die Antwort darauf ausgesprochen kompliziert war. „Beides", gab er schließlich zurück und seufzte. „Natürlich freue ich mich, endlich wieder in einen geregelten Alltag zurückkehren zu können. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass diese Umsetzung wahnsinnig schwierig ist und viel Kraft kosten wird. Und ja, das macht mir verdammt viel Angst."
„Angst wovor?"
„Dass es nicht klappen wird."
„Dass was nicht klappen wird?"
„Das Clean bleiben", antwortete Harry und beobachtete einen der vielen Regentropfen, die auf der Scheibe nach unten glitten. „Ich habe verdammt viel Angst davor, rückfällig zu werden."
Harry's Therapeut lächelte und beugte sich ein Stück zu ihm nach vorne. „Aber für den Fall haben Sie doch in den letzten Wochen genügend Strategien und Notfallpläne erarbeitet", erinnerte er den jungen Mann vor ihm, „Und vor allem haben sie sich ein neues, sicheres Netzwerk aufgebaut. Sie schaffen das, Harry."
Harry lächelte und spürte, wie sich ein wohliges Gefühl in seiner Brust ausbreitete.
Das Gefühl, dass jemand an ihn glaubte.
Doch dann breitete sich wieder ein Gefühl der Unsicherheit und Furcht in ihm aus. „Ich habe Angst vor den Erinnerungen."
Harry's Therapeut nickte. „Was haben Sie bisher getan, wenn die Erinnerungen Sie überrannt haben?"
Harry stockte und schien einen Moment lang in einer ganz anderen Welt zu sein. In einer Welt, die es so längst nicht mehr gab, weil sie vergangen war; doch die Erinnerungen daran suchten ihn heim und verfolgten ihn bis in den Schlaf.
Und wenn sie kamen, zwangen sie ihn auf die Knie.
„Sie haben mich nicht überrannt", erklärte er und schlang beide Arme um den zierlichen Oberkörper. „Ich habe immer dafür gesorgt, dass stets genug Heroin in meinem Körper war, damit die Erinnerungen keine Chance hatten."
„Verstehe", murmelte der Arzt und sah Harry nachdenklich an. Und doch war Harry sich sicher, dass er nichts von all dem verstand, was er erlebt hatte.
Die belastenden Erinnerungen an die Zeit in seinem Elternhaus, an die Zeit auf der Straße und die vielen Freunde, die er hatte sterben sehen; an die vielen Menschen, die er enttäuscht hatte und nicht zuletzt an den Moment, in dem er fast sein eigenes Leben verloren hätte.
Manchmal, wenn es abends ganz ruhig um ihn herum war und die zahlreichen Ablenkungen des Tages langsam verschwanden und ihn zur Ruhe kommen ließen, liefen diese Momente vor seinem inneren Auge ab wie ein schlechter Film.
Seine Außenwelt schien dann zu verschwinden, stattdessen sah er die Bilder vor seinem inneren Auge, als hätte er in einer Kinovorführung eines schlechten Horrorfilms einen Platz in der ersten Reihe ergattert.
Und doch wusste er, dass er irgendwie den Mut aufbringen musste, sich mit der Realität und den Dingen, die ihm passiert waren, auseinanderzusetzen.
Und so konnte er sich doch ein wenig freuen. Auf den Tag seiner Entlassung.
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Dass es hier in letzter Zeit so dermaßen ruhig war, hat einen wunderbaren Grund: Ich habe im August endlich mein Baby bekommen. :)
Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, ist das alles wahnsinnig anstrengend und kostet wirklich genug Kraft, und da bleibt leider nicht mehr sonderlich viel Freizeit.
Umso schöner, wenn ich dann doch mal Zeit zum Schreiben finde :) Ich freue mich schon darauf, eure Meinung zu dem Kapitel in den Kommentaren zu lesen und hoffe, bald wieder von euch zu hören.
Und bis dahin versuche ich, etwas Schlaf nachzuholen ;)
Love always,
Helena xxxx
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