44. Warum tust du denn nichts, Louis?
Louis
Harry's Arzt hatte ihnen erklärt, dass es eine Weile dauern konnte, bis er wieder zu vollem Bewusstsein kommen würde - und dass die Möglichkeit bestand, dass er sie nicht erkennen könne; aber den Eindruck hatte Louis nicht.
Wenn er an Harry's Bett saß, mit ihm sprach oder ihm etwas vorlas, blickte er ihn aus Augen an, die wussten, wer er für ihn war, und welche Bedeutung er für ihn hatte. Welche Rolle Louis in seinem Leben spielte.
Es zogen einige Tage ins Land, und noch immer saß Louis jeden Tag an Harry's Bett, während er mehr und mehr den Zugang zur realen Welt wieder fand. Es dauerte einige Tage, bis Harry wieder sprechen konnte - doch als sie ihre erste Unterhaltung nach dieser ganzen Katastrophe führten, war es Louis' Aufgabe, Harry darüber aufzuklären, was überhaupt passiert war.
Harry lag in seinem Bett, das Gesicht war blass und das braune Haar war mittlerweile sehr lang geworden; unter großer Anstrengung versuchte er, die ersten Worte zu formulieren, die mehr einem Flüstern glichen, als einem tatsächlichen Sprechen. Doch er sagte nur ein einziges Wort, das seinem Gegenüber beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Louis."
Erleichterung und ein wahnsinniges Glücksgefühl durchströmten Louis' Körper; er hatte ihn tatsächlich erkannt, und sein Name war das erste, was er nach wochenlanger Bewusstlosigkeit aussprach; das erste, woran er sich erinnern konnte. Er spürte, wie ihm vor Freude und Erleichterung die Tränen in die Augen stiegen. „Harry", flüsterte er, während er nach der Hand des Jüngeren griff. „Es ist so schön, dich endlich wieder sprechen zu hören."
Harry versuchte, mit den farblosen Lippen ein Lächeln zu formen, das mehr einer Grimasse glich; doch Louis erwiderte es trotzdem. „Weißt du denn, was passiert ist?"
Harry antwortete nicht sofort, schien eine Weile zu brauchen, um Louis' Worte in sich aufzunehmen und sie zu verarbeiten. Schließlich allerdings schüttelte er langsam den Kopf und sah Louis aus erwartenden Augen an.
Harry wirkte verwirrt, als hätte er noch nicht ganz begriffen, wo er sich befand, was mit ihm los war und dass er sich noch nicht wieder selbstständig bewegen konnte. Trotz allem setzte Louis an, um ihm zu erzählen, was vorgefallen war.
Er griff nach dem Tagebuch, das er auf Harry's Beistelltisch abgelegt hatte, und zeigte es ihm. „Du hast drei Wochen lang im künstlichen Koma gelegen", begann Louis, immer darauf bedacht, mit ruhiger Stimme zu sprechen, „Du hattest eine schwere Blutvergiftung, und hast daraufhin einen septischen Schock erlitten; Niall und Liam haben einen Krankenwagen gerufen, und anschließend mich informiert. Ich bin gekommen, so schnell ich konnte, auch wenn wir beide zu der Zeit nicht gut aufeinander zu sprechen gewesen waren..."
Louis machte eine kurze Pause, um Harry nicht zu überfordern. Die smaragdgrünen Augen des Jüngeren hatten sich geweitet; sie sahen ihn verwirrt, und doch zugleich sehr schockiert an.
„In diesem Buch habe ich alles aufgeschrieben, was während dieser drei Wochen passiert ist", erklärte Louis und hielt das Notizbuch nach oben.
Unter offensichtlich großer Anstrengung versuchte Harry, die zittrige Hand anzuheben, um nach dem Buch zu greifen. Louis gab es ihm in die Hand und beobachtete den Jüngeren dabei, wie er langsam, ganz langsam versuchte, das Buch aufzuschlagen.
„Vielleicht solltest du es gar nicht sofort lesen", warf Louis ein und sah, wie Harry's Kopf sich in seine Richtung drehte. „Vielleicht solltest du dafür ein bisschen stabiler sein - ich meine, es ist doch sehr aufwühlend, nach drei Wochen kompletter Abwesenheit zu erfahren, was in dieser Zeit alles passiert ist."
Harry zog irritiert beide Augenbrauen zusammen. „Wieso?", wollte er mit kratziger Stimme wissen, und sah sich in dem Krankenhauszimmer um, als hätte er es noch nie gesehen.
Schulterzuckend sah Louis auf den nun so schwach wirkenden Harry herab. „Du kannst es natürlich gern lesen, wenn du das möchtest - ich möchte nur, dass es dir gut geht."
Harry versuchte sich erneut an einem Lächeln, was ihm dieses Mal sogar gelang - und Louis war überwältigt von der Schönheit dieses ersten Lächelns.
Harry
Die Welt um ihn herum war verschwommen, taubengrau, fast nicht erkennbar. Langsam sickerte die Botschaft hinter Louis' Worten durch den Nebel der Benommenheit zu ihm hindurch, ließ ihn zittern; er wollte ihm antworten, wollte schreien, wollte aufstehen und weglaufen - doch er konnte nicht.
Sein eigener Körper gehorchte ihm nicht.
Seine Muskeln waren zu schwach, und sein Geist zu verwirrt. Er wusste nicht, wo er sich befand, und er wusste auch nicht, wie er hier her gekommen war. Alles, was er wusste, war, dass der Mann, den er liebte, vor ihm saß, obwohl er geglaubt hatte, ihn nie wieder zu sehen.
„Wo sind wir?", krächzte er mit erschöpfter Stimme, ohne sich sicher zu sein, ob er die Antwort darauf überhaupt kennen wollte.
Bilder durchfluteten sein Gehirn; Bilder von grässlichen Fratzen und grausamen körperlichen Schmerzen. Bilder aus all den Albträumen, die er während des Komas gehabt hatte.
Man hatte ihn misshandelt, ihn geschlagen, ihn schwer verletzt, und sich anschließend über seinen Schmerz gefreut; man hatte ihm seine Knochen zertrümmert und die empfindliche Haut verbrannt, während er Tag um Tag von fremden Männern geschändet worden war.
Doch Harry wusste nicht, dass es sich hierbei lediglich um Träume handelte, die die sedierenden Beruhigungsmittel hervorgerufen hatten; für ihn war all das die Realität.
Durch den milchigen Schleier der Benommenheit bemerkte Harry auf dem Gesicht seines Gegenübers ein aufmunterndes Lächeln. „Im Krankenhaus."
Wie auf's Stichwort ertönte ein Klopfen an der Tür des Krankenzimmers, ehe Harry's Arzt den Raum betrat. Der weiße Kittel flatterte durch den Wind, der durch das offene Fenster in das Zimmer drang.
Ein breites Grinsen fand sich auf den Lippen des Mediziners, während er neben dem Bett zum Stehen kam. „Na, Harry, wie fühlen Sie sich heute?"
Harry musterte den fremden Mann vor sich mit Skepsis, konnte sich in diesem Moment nicht erklären, wer dieser Mann war oder woher er kam.
„Wer sind Sie?", fauchte er also mit klarer Abwehrhaltung, was den seltsamen Fremden allerdings absolut nicht zu beeindrucken schien.
„Ich bin Ihr Arzt", erklärte er, mit einem noch immer freundlichen Ausdruck im Gesicht. Er hielt Harry die rechte Hand zur Begrüßung hin, doch er dachte nicht im Traum daran, sie zu ergreifen.
Aus irgendeinem Grund beschlich ihn ein wahnsinnig schlechtes Gefühl diesem Mann gegenüber. Er war sich zwar nicht sicher, woher dieses Gefühl kam, oder was es ihm sagen wollte - aber er war sich sicher, dass dieser Mann abgrundtief böse war.
„Gehen Sie weg", fauchte Harry und versuchte, an den Rand des Bettes zu rutschen, in dem er lag.
Louis sah ihn entsetzt an, legte beruhigend eine Hand auf Harry's Arm und sah ihn eindringlich an. „Er will dir doch nur helfen, Harry."
Dann allerdings fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Dieser Mann, der da vor ihm stand, und behauptete, Arzt zu sein - er war der Mann aus seinen Albträumen.
Der Mann, der ihm täglich schreckliche Schmerzen zugefügt hatte; die treibende Kraft hinter all den Misshandlungen.
Harry schüttelte seinen Kopf. „Dieser Mann ist böse", flüsterte er, „Warum tust du denn nichts, Louis?"
Louis
Böse?
Wie kam Harry denn darauf, dass sein Arzt böse war? Weshalb sollte er ihm etwas antun wollen - nachdem er in den letzten Wochen alles daran gesetzt hatte, sein junges Leben zu retten?
Harry's Arzt schüttelte beruhigend den Kopf. „Das ist normal", erklärte er schließlich, während er Harry nicht aus den Augen ließ. „Manche Patienten erwachen aus dem Koma und sind kurzzeitig etwas verwirrt. Das legt sich bald wieder."
Louis nickte und nickte dem Mediziner dankend zu.
Harry hingegen schüttelte panisch den Kopf. „Er wollte mich umbringen", flüsterte er, ohne den Mann anzusehen. „Er hat mich vergewaltigt und geschlagen."
Obwohl Louis gesagt worden war, dass diese Aussagen offenbar normal waren, begann Harry, ihm Angst zu machen.
Er blickte auf den Jüngeren hinab und konnte die Panik in dessen Augen deutlich erkennen. Seufzend legte er eine Hand an seine Stirn. „Was redest du bloß für wirres Zeug, Harry?"
„Das ist kein wirres Zeug", kam es ohne Umschweife von dem zerbrechlichen jungen Mann am Krankenbett, „Das ist die Wahrheit. Weshalb glaubst du mir denn nicht?"
Hilfesuchend wanderte Louis' Blick zu dem Arzt, der offensichtlich ganz unbekümmert zu sein schien.
„Machen Sie sich keine Gedanken", erklärte dieser schließlich und hob beschwichtigend die Hände. „Das wird sich bald wieder legen."
Louis, der sich da nicht so sicher war, und sich große Sorgen um Harry machte, spürte, wie die Unsicherheit in seinem Inneren größer wurde.
Wie sollte er mit Harry umgehen, was sollte er zu ihm sagen, wenn er offensichtlich der Meinung war, dass er von seinem eigenen Arzt auf die schlimmste Art und Weise misshandelt worden war? Wenn Harry ihm vorwarf, ihm nicht zu glauben, ihn praktisch zu verraten?
Die Situation war mehr als schwierig für beide Seiten, und Louis wusste, dass es noch einige Zeit brauchen würde, um wieder zur Normalität zurückzukehren, falls dies überhaupt irgendwann möglich war.
Seufzend strich er schließlich eine Strähne des lockigen, braunen Haares aus der Stirn des Jüngeren und versuchte sich an einem aufbauenden Lächeln. „Alles wird gut, Harry."
Nachdem Harry's Arzt sich verabschiedet und den Raum verlassen hatte, schienen sich die Muskeln des jungen Mannes wieder zu entspannen, und er wurde wieder etwas ruhiger.
Louis versuchte noch immer, zu begreifen, was Harry versucht hatte, ihm zu erzählen; er war sich allerdings nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte.
„Er hat mir wehgetan", flüsterte er schließlich, die Panik noch immer in den smaragdgrünen Augen.
Louis strich ihm behutsam weitere Strähnen aus der Stirn und seufzte. „Es wird alles wieder gut werden", versicherte er seinem Gegenüber, „Wir müssen jetzt zusammenhalten."
„Warum glaubst du mir dann nicht?"
„Ich glaube dir", log Louis, um Harry zu beruhigen. Zwar war er sich absolut nicht sicher, ob das der richtige Weg war, aber es schien zu funktionieren.
Ein gequältes Lächeln umspielte die Lippen des Jüngeren, und für einen Moment schien er sehr erleichtert zu sein. „Danke."
Louis lächelte zurück. „Ich bin so froh, dass du wieder bei mir bist..."
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