38. Hast du Fieber?
Louis
Die nächsten Tage waren mühsam - durchzogen von Trauer und der ihn ständig quälenden Frage, was - um alles in der Welt - er jetzt Bitteschön tun sollte.
Es fiel ihm nicht leicht, den Kontakt zu Harry bis auf weiteres auf Eis zu legen. Er fehlte ihm - mehr, als er das eigentlich hätte zugeben wollen. Er machte sich große Sorgen, malte sich die schrecklichsten Szenarien aus und wusste doch eigentlich gar nicht, was er tat.
Und das war das schlimmste - diese Ungewissheit.
Er fühlte sich wie ein schlechter Mensch, und ein noch viel schlechterer Freund, weil er sich nicht nach ihm erkundigte, nichts unternahm, um herauszufinden, wo er schlief und ob sich jemand um ihn kümmerte. Ob er zu Essen hatte, ein warmes Bett und ein Dach über dem Kopf.
Oder ob er sich wieder am Bahnhof umhertrieb und vor Schmerzen halb besinnungslos in einer Ecke lag, weil das Geld nicht mehr für den nächsten Schuss reichte.
Oder ob er einen Weg gefunden hatte, an Heroin zu kommen - einen Weg, von dem Louis wusste, dass er ihm - ganz gleich, wie er auch immer aussehen mochte - nicht gefallen würde.
Oder ob er überhaupt noch am Leben war.
Bei diesem Gedanken schnürte sich seine Kehle zu.
Was, wenn er sich einen Schuss gesetzt und versehentlich zu viel erwischt hatte und niemand bei ihm gewesen war, um ihm zu helfen?
Oder noch schlimmer: Was, wenn er das Heroin absichtlich zu hoch dosiert hatte, weil seine Verzweiflung zu groß gewesen war?
Louis wäre nie wieder froh geworden.
Er hätte sich sein Leben lang die Schuld dafür gegeben.
Getrieben von seinen Gedanken und dem schlechten Gewissen, griff er also am Sonntagabend nach seinem Telefon und versuchte, Harry's Nummer zu wählen.
Obwohl er noch immer wütend war, musste er wissen, wie es ihm ging. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er Harry weiterhin an seiner Seite haben wollte, musste er sichergehen, dass es ihm gut ging - oder zumindest den Umständen entsprechend.
Harry
Er hörte das Klingeln des Telefons in seiner Hosentasche. Seine Glieder fühlten sich allerdings viel zu schwer an, um in die Tasche zu greifen und es herauszuziehen. Ganz abgesehen davon war ihm auch ganz egal, wer versuchte, ihn zu erreichen. Wer immer es war - er hatte keine Lust, mit ihm zu sprechen.
Während er also auf einer mit seinen eigenen Blutflecken besprenkelten Matratze in Richie's Wohnung saß, das Schulterlange Haar tief im Gesicht, die Augen zu zwei kleinen Schlitzen verengt, lauschte er Richie's Stimme und der seines Freundes. Sie unterhielten sich seit gut zwei Stunden, aber Harry hatte ihnen nicht folgen können.
Er konnte sich nicht daran erinnern, was sie besprochen hatten.
Hustend beugte er sich nach vorne und griff nach seinen Zigaretten. Zitternd steckte er sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen und suchte mit den Fingern in seiner Schachtel nach dem Feuerzeug.
Noch ehe er es finden konnte, fielen ihm vor Schläfrigkeit die Augen zu. Er nickte ein, noch bevor er überhaupt angefangen hatte, seine Zigarette zu rauchen.
Es dauerte nicht lange, da hielt Richie einen Moment lang inne und stand auf, um Harry die Zigarette aus dem Mund zu nehmen und ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen. „Harry?"
Benebelt flatterten seine Lieder auf; Richie klang, als wäre er ganz weit weg. „Harry?"
„Was willst du?", zischte er mit verwaschener Stimme zurück.
„Geht's dir gut?", wollte Richie lachend von ihm wissen, „Ich möchte nicht, dass du mir hier drin abnibbelst - kapiert?"
Harry spürte, dass ihm das Atmen schwer fiel, weil sein Kopf so weit im Nacken lag und sein Hals sehr verschleimt war. Er rappelte sich wieder auf und begann auf's Neue, zu husten. Gelblicher Auswurf landete dabei auf der Matratze, auf der er noch immer saß.
Richie zog angewidert beide Augenbrauen nach oben. „Das sieht nicht gut aus, Mann."
Harry blickte ihn irritiert, und mit schweren Augen an. „Was?"
„Der seltsame Schleim, der aus deinem Hals kommt", antwortete Richie's Freund für ihn. Harry kannte seinen Namen nicht. „Er ist gelb."
Harry zuckte beide Schultern und schloss die Augen wieder. „Dann habe ich mich wohl erkältet."
„Dein Telefon klingelt jetzt schon zum dritten Mal", merkte der Fremde schließlich an und deutete auf Harry's Hosentasche, eher er sich wieder daran machte, das Kokain auf dem Tisch vor ihm mit seinem Führerschein in eine gerade Linie zu bringen. „Möchtest du nicht rangehen?"
Harry bewegte leicht seinen Kopf hin- und her. „Nein."
„Dann mach' wenigstens den Ton aus."
„Ich weiß nicht, wie das geht."
Richie rollte beide Augen und griff in Harry's Hosentasche, um das Telefon herauszuholen. „So ein Schwachsinn. Natürlich weißt du, wie das geht."
Als Richie's Blick auf das Display fiel, sah er verwundert aus. „Es ist Louis."
„Louis?", kam es fragend von Richie's Freund hinter ihnen.
Harry versuchte, seine Augen ein Stück zu öffnen und brauchte eine Weile, ehe er sich in der Lage fühlte, zu antworten. „Gib mir bitte das Telefon."
Doch ehe er abheben konnte, überkam ihn ein neuerlicher Hustenanfall; er röchelte, er hustete, er keuchte - doch landete erneut nur der gelbliche Schleim auf seiner eigenen Matratze.
Als er sich wieder beruhigte, hatte er längst vergessen, dass Louis überhaupt angerufen hatte.
„Du siehst echt nicht gut aus, Mann", bemerkte Richie schließlich und beugte sich zu ihm nach unten. „Du bist ganz rot. Hast du Fieber?"
Harry zuckte beide Schultern und schloss die Augen wieder. „Und wenn schon..."
Richie schüttelte nur seinen Kopf, Entfernte sich von ihm und ließ sich wieder neben seinem Freund nieder.
Louis
Natürlich antwortete er nicht. Wahrscheinlich lag er gerade in irgendeiner Bahnhofstoilette und konnte die Augen nicht offen halten, weil das Heroin gerade seine Wirkung entfaltete...
Der Gedanke daran trieb ihn in den Wahnsinn. Natürlich, er war wütend, er war verletzt, er war enttäuscht und er war mehr als gekränkt. Er schämte sich bis auf die Knochen.
Trotz allem machte er sich Sorgen. Er wollte wissen, wie es Harry ging, wo er untergekommen war - falls er überhaupt irgendwo untergekommen war - und was seine Worte in Harry ausgelöst hatten...
Sein Gewissen hielt ihn seit Nächsten wach, ließ ihn nicht schlafen und trieb ihm die schrecklichsten Szenarien zwischen seine Gedanken. Er wusste nicht, ob und wie er diese Situation wieder in Ordnung bringen konnte.
Nach der Betriebsfeier vor wenigen Tagen hatte Arthur ihn vorerst für eine Woche beurlaubt. Er solle das mit Harry klären, hatte er gesagt, und er selbst müsse sich auch Gedanken über Louis' berufliche Zukunft im Unternehmen machen.
Louis hatte sich bei diesem Satz der Magen umgedreht.
Er wusste ganz genau, was das bedeutete. Arthur dachte seit Tagen darüber nach, ob er ihn weiterhin beschäftigen sollte, oder nicht.
Louis schüttelte seinen Kopf, um die Gedanken daraus zu vertreiben. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, wie er herausfinden konnte, wo Harry sich aufhielt und was er gerade tat.
Vielleicht tat ihm leid, was er getan hatte. Vielleicht könnten sie noch einmal miteinander reden, vielleicht würden sie das irgendwie hinbekommen...
Vielleicht ... Ein so kleines Wort, und doch so viel Bedeutung. Vielleicht konnte alles bedeuten.
Vielleicht konnte gut sein. Es konnte aber auch schlecht sein. Vielleicht konnte alles sein. Vielleicht konnte nichts sein.
Und Louis hatte im Moment das Gefühl, dass all die schlechten Seiten des Worts überwogen.
Er beschloss, Harry eine Nachricht zu senden. Die musste er schließlich lesen - selbst wenn er nicht reagieren würde, seine Augen würden doch über die Zeilen wandern und er würde wissen, wie es Louis ging...
Er seufzte. Was sollte er ihm schon sagen?
Eigentlich war Harry derjenige, der sich bei ihm entschuldigen sollte. Das wusste er. Aber er hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus, konnte es nicht ertragen, nicht Bescheid zu wissen. Er konnte mit der Sorge nicht umgehen, die sich in ihm ausdehnte, wenn er nicht wusste, wo Harry sich aufhielt.
Dann aber erinnerte er sich an all die Dinge, die Harry sich in letzter Zeit - vor allem aber auf der Betriebsfeier - geleistet hatte. Er erinnerte sich daran, wie sehr er ihn blamiert hatte, wie viele Schritte er ihn in seiner Karriere zurückgeworfen hatte - ganz einfach nur, weil er die Finger nicht von den Drogen lassen konnte.
Trotz allem zerfraß die Ungewissheit sein Inneres. Er musste wissen, wo er war - danach konnte er sich immer noch dazu entscheiden, den Kontakt zu ihm abzubrechen; was er unter allen Umständen tun würde.
Er hatte keine Lust mehr, die Konsequenzen für Harry's Fehler zu tragen.
Er war der Meinung gewesen, dass Liebe ausreichen würde, um Harry aus seinem Loch zu ziehen.
Doch er hatte sich getäuscht.
Harry
Durch den milchigen Nebel des Heroins nahm er das Piepen seines Handys wahr, das ihn für einen Moment aus seinem dämmrigen Schlafzustand riss.
Er seufzte, öffnete seine Augen und griff nach dem Telefon - wer zur Hölle würde ihn schon anrufen?
Er hatte niemanden mehr.
Außer Richie.
Und der saß keinen Meter von ihm entfernt auf einer zweiten Matratze, lehnte mit seinem Freund an der Wand und unterhielt sich mit ihm über Kokain.
„Mann, dein Kumpel sieht echt gar nicht gut aus", hörte er den Fremden zu Richie sagen. Er glaubte, Richie kurz auflachen zu hören.
„Der ist einfach drauf, Nick", gab Richie zur Antwort und blies dein Rauch seiner Zigarette achtlos in den Raum. „Der fängt sich schon wieder."
Nick zuckte beide Schultern. „Wenn du meinst."
Bevor Harry noch einen Blick auf sein Telefon werfen konnte, nickte er wieder weg und schlief ein.
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