22. Genau wie früher
Harry
Er schluckte seine Tränen hinunter, bemühte sich um einen gefassten Eindruck; er hatte keine weißen Listen, die Polizei kannte seine Einträge im Strafregister. Der wohl gröbste Schnitzer in seiner Drogenkarriere war das Führen eines Fahrzeuges unter Heroineinfluss gewesen - natürlich hatte man ihm seinen Führerschein sofort entzogen, nachdem man nach einem positiven Drogentest sein gesamtes Spritzbesteck unter dem Fahrersitz gefunden hatte.
Er reichte den Beamten die Hand, stellte sich ihnen vor und ließ sich ohne Widersprüche durchsuchen, während der Notarzt Tony's Tod feststellte.
„Haben Sie ihn gefunden?", wollte eine Polizistin mittleren Alters von ihm wissen. Er erkannte sie wieder - sie hatte damals seinen Fall bearbeitet und ihm einen Platz im Wohnheim verschaffen.
Harry seufzte. „Mehr oder weniger", gab er zur Antwort, „Ich wurde angerufen."
„Von wem?"
Er fühlte sich unter Druck gesetzt; in diesem Moment konnte er gar nicht richtig handeln. Würde er ihnen sagen, dass Richie ihn kontaktiert hatte, hätte dieser mit Sicherheit ein Gerichtsverfahren am Hals. Zum einen wegen Drogenbesitz, zum anderen wegen unterlassener Hilfeleistung. Erzählte er ihnen allerdings, dass Tony selbst ihn angerufen hatte - und sie würden seine Anruflisten überprüfen -, wäre er erledigt. Dann konnte er sowohl seine berufliche Zukunft, als auch seinen Führerschein vergessen.
Also zuckte er beide Schultern. Nun flossen doch ein paar Tränen. „Ich weiß es nicht", gab er zur Antwort, „Tony muss einem beliebigen Kunden meine Nummer diktiert haben..."
Er sah es in ihren Augen. Sie wusste genau, dass er log. Sie sagte allerdings nichts und steckte ihr Notizbuch stattdessen zurück in ihre Brusttasche. „In Ordnung, Harry", seufzte sie, in einem Tonfall, der ihm gar nicht gefiel. „Sie müssen die Frage, die ich Ihnen jetzt stellen werde, zu hundert Prozent ehrlich beantworten - haben Sie mich verstanden?"
Er nickte.
„Haben Sie noch mit Drogen zu tun?"
Eifrig schüttelte er seinen Kopf und spürte, dass dieses Gespräch ihn überforderte. „Nein", gab er zurück. „Ich habe seit einem Jahr keine Droge mehr angerührt."
„Sie hätten also nichts gegen einen Bluttest einzuwenden?"
Genau wie er es vermutet hatte. Er schüttelte erneut den Kopf. „Nein."
„Wirklich? Denn als mein Kollege vorhin ihre Personalien überprüft hat, wurde ihm gesagt, man hätte Sie aus der Wohngemeinschaft entlassen..."
Harry schluckte, setzte zu einer Antwort an, schluckte wieder. „Das ist richtig", gab er zur Antwort, während seine Hände vor Nervosität ganz feucht wurden. „Das hatte an sich aber nichts mit illegalen Drogen zu tun..."
„Sondern?"
Er räusperte sich und krempelte die Ärmel von Louis' Pullover zurück. „Mehreren Alkoholexzessen."
Die Polizistin nickte ihm zu und schenkte ihm ein aufbauendes Lächeln. „Wenn Sie mir die Wahrheit gesagt haben, haben Sie keine weiteren Konsequenzen zu erwarten", erklärte sie und gab ihm seinen Ausweis zurück. „Alkohol ist schließlich nicht illegal. Ich möchte Ihnen allerdings raten, einen Arzt zu kontaktieren."
Ein erleichtertes Seufzen drängte sich aus seiner Brust. Während er ihr folgte, fragte er sich, weshalb er sich keiner Zeugenaussage vor Gericht unterziehen musste. Hier war schließlich ein Mensch gestorben.
Aber, und das war die traurige Wahrheit, für die Gesellschaft war Tony nichts weiter als der nächste Drogentote, der den Kampf gegen die Sucht verloren hatte. Harry fühlte den Schmerz in seinem Herzen hämmern, während es tapfer gegen die erschöpfte Brust schlug. Er war tot. Sein bester Freund war tot. Und sie waren im Streit auseinander gegangen.
Eine halbe Stunde später unterzog er sich einem freiwilligen Bluttest beim Amtsarzt und wurde schließlich entlassen. Sie würden keine Drogen in seinem Blut finden, weil er seit mehr als einem Jahr keine einzige illegale Substanz mehr angerührt hatte, abgesehen von den Medikamenten, die er während des Entzuges geschluckt hatte, und dem bisschen Gras, das er vor zwei Monaten geraucht hatte - und das dürfte sein Körper längst abgebaut haben.
Er fuhr sich durch das schulterlange Haar, während ihm einfiel, dass Louis nicht die leiseste Ahnung von dem Chaos hatte, in dem Harry steckte.
Als er den Aufzug betrat, und die Türen sich schlossen, brach er in Tränen aus. Er hatte so viele Freunde an die Drogen verloren; manchmal war er der festen Überzeugung, der Teufel höchstpersönlich stelle dieses Zeug her, um den Konsumenten das Leben buchstäblich zur Hölle zu machen.
Harry konnte Menschen nicht leiden, die Drogen verharmlosten oder sie gar romantisierten; eine Sucht, ganz gleich, um welche es sich dabei handelte, war weder erstrebenswert noch in irgendeiner Art und Weise romantisch. Er war in den Jahren seiner Abhängigkeit durch die Hölle gegangen, die Droge hatte sein gesamtes Leben zerstört.
Und doch war da plötzlich wieder dieses brennende Verlangen, dieser Druck, von dem er ganz genau wusste, dass er ihm standhalten musste, wenn er nicht komplett verlieren wollte.
An diesem Tag war es schlimmer als sonst. Seine Hände wurden feucht, der gesamte Körper kribbelte und sein Herz hämmerte wie verrückt gegen die Brust; er hatte beinahe gefürchtet, es könne seinem Körper entspringen.
Schamgefühl stieg in ihm auf. Er hatte vor noch nicht einmal zwei Stunden seinen besten Freund an diese Substanz verloren; jetzt dachte er bereits darüber nach, seinen eigenen Rückfall zuzulassen. Nur ein einziges Mal; eine kleine Pause von den Qualen der Abstinenz - nur ein einziger Druck, dann würde er für immer die Finger von dem Zeug lassen. Er versprach sich so vieles und wusste dabei ganz genau, dass er es niemals würde einhalten können. Kein Süchtiger konnte das.
Da kam ihm Richie's Anruf nur gelegen; er nahm den Hörer ab und spürte die alte Wut in sich aufsteigen.
„Harry", fiel er, ohne große Begrüßungsformeln, mit der Tür ins Haus. „Haben sie mich erwischt?"
Er schüttelte verständnislos seinen Kopf. War das tatsächlich alles, was dieser Mistkerl wissen wollte?
„Nein", gab er kühl zurück und verließ das Gebäude durch die Drehtür. „Wie denn auch - du bist ja abgehauen."
„Es tut mir leid", entschuldigte er sich, wie immer wenn er etwas falsch gemacht hatte. Und wie immer würde sich dabei rein gar nichts ändern. „Also hast du mich nicht verpetzt?"
Harry schüttelte den Kopf, obwohl ihm klar war, dass Richie ihn nicht sehen konnte. „Nein."
Ein erleichtertes Ausatmen am anderen Ende der Leitung. „Danke, man", gab Richie in seinem größten, berechtigterweise mit Vorurteilen behafteten Junkie-Slang zur Antwort und seufzte. „Ich schulde dir einen Gefallen."
„Wenn du meinst."
Richie schwieg eine Weile, bevor er ihm eine Antwort gab. „Ich geb' dir was aus."
Da brannte in Harry eine Sicherung durch - und obwohl er sich schnell wieder in den Griff bekam, tat es ihm hinterher sehr leid. „Bist du irre?", knurrte er, „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich mit rücksichtslosen Idioten wie dir nichts mehr zu tun haben möchte?"
Er war lauter geworden, als er das eigentlich beabsichtigt hatte; vermutlich aus einem ganz einfachen Grund: Er dachte über den Konsum von Heroin nach. Er plante seinen ersten Druck nach der Abstinenz regelrecht. Richie und sein Angebot kamen ihm eigentlich ganz recht; aber er wollte keinen Rückfall. Er wollte sein Leben in den Griff bekommen und ohne Drogen glücklich sein.
„Komm schon", kicherte Richie, „Nun stell dich nicht so an. Du musst ja nicht sofort drücken. Man kann das Zeug auch rauchen."
Und sniefen, schoss es Harry durch den Kopf, allerdings behielt er diesen Gedanken für sich.
„Halt die Klappe", gab er, mittlerweile etwas weniger überzeugend, von sich.
„Genau wie früher", bettelte Richie weiter und Harry hörte im Hintergrund ein Auto hupen. „Du hattest die Sache ein Jahr lang im Griff. Ein einziges Mal wird dir schon nicht zu sehr schaden."
Am liebsten hätte Harry den Hörer ganz einfach aufgelegt und Richie's Nummer blockiert; er wollte mit ihm nichts mehr zu tun haben. Aber er fand die Kraft dafür nicht; die Kraft, der Droge endlich ganz abzuschwören.
Er hatte noch nie einen Junkie erlebt, der freiwillig sein Heroin teilte. Die meisten - nein, im Grunde genommen alle, waren viel zu geizig, um freiwillig etwas von ihren Drogen abzugeben.
Wie früher, hallte es in seinen Gedanken wider. Wie sehr er die positiven Erinnerungen an diese Zeit vermisste...
Zum Schluss hin hatte es davon keine mehr gegeben, aber am Anfang... Als alles noch nicht so ernst gewesen war...
Er hielt einen Moment inne, schluckte, und kniff beide Augen zu. „Also schön", gab er zur Antwort, „Wann und wo?"
„In einer halben Stunde. Am Piccadilly Circus."
Harry beendete die Verbindung und ließ sich verzweifelt auf der nächsten Bank nieder. Um Gottes Willen, schoss es ihm durch den Kopf, das konnte doch nicht wahr sein. Er hatte gerade seinem eigenen Rückfall zugestimmt, der teuflischen Substanz eine neue Chance gegeben.
Mach dir keine Sorgen, redete er sich ein, In einer halben Stunde wird dich all das nicht mehr interessieren. Denn dann wird alles perfekt sein.
Als er am Piccadilly Circus ankam, wartete Richie bereits in der U-Bahn Station. Sie verließen sie zusammen, und Harry spürte kribbelnde Vorfreude in sich aufsteigen. Er war schrecklich nervös, ihm wurde abwechselnd heiß und wieder kalt - wie einem verliebten Teenager, der sich auf ein Treffen mit der vermeintlich großen Liebe freut, nur um schließlich bitterlich enttäuscht zu werden.
„Ich habe Alufolie besorgt", erzählte Richie mit einer Gier in den Augen, die Harry nur allzu gut nachvollziehen konnte.
„Nein", gab er entschieden zurück. „Wenn ich diesen Mist aufgebe, dann will ich das wenigstens für einen guten Rausch tun."
„Das bedeutet, du möchtest drücken", schlussfolgerte Richie und seufzte.
Harry nickte. „Ganz genau."
„Dann sollten wir das aber nicht an einem der belebtesten Orte der Stadt tun..."
„Natürlich nicht."
Es war schon paradox, wie Harry all seine schlechten Gefühle und Empfindungen samt dem schlechten Gewissen vergaß, als sie sich in der Toilettenkabine der U-Bahn Station einschlossen. „Du musst mir deins leihen", meinte Harry, während er seinen Ärmel nach oben krempelte. Er deutete auf Richie's Spritzbesteck.
Natürlich hatte man ihm tausende Male gesagt, dass er niemals - niemals, unter keinen Umständen - das Spritzbesteck eines anderen benutzen sollte. In diesem Moment waren ihm alle Warnungen egal, die man ihm jemals ausgesprochen hatte - er suchte nach Ausreden, die sein Gewissen erleichtern würden.
Harry träufelte Zitronensaft auf einen Löffel, der auf der Unterseite schon ganz schwarz war. Schließlich vermischte er das weißliche Pulver mit dem Saft und hielt Richies brennendes Feuerzeug unter den Löffel. Er zitterte am ganzen Körper.
Er war innerlich nervös; die Art von nervös, die so schrecklich unangenehm war, dass man sich am liebsten an Ort und Stelle übergeben würde.
Als die Flüssigkeit kochte, zog er sie mit Richie's Spritze auf, klopfte mit seinem Zeigefinger so oft dagegen, bis alle Luftblasen verschwunden waren und bat seinen einstigen Freund, ihm den Arm Abzubinden. Er hielt den Gürtel mit den Zähnen fest, suchte sich eine intakte Wehne und führte die Spritze begierig, trotz allem aber souverän ein. Dann drückte er ab.
Innerhalb von dreißig Sekunden entspannten sich seine Muskeln und er ließ Gürtel und Spritze sinken. Nichts machte ihm mehr etwas aus, alles war ihm egal - alles war perfekt. Er schloss die Augen und spürte tief in das Gefühl hinein, bevor Richie ihn bat, ihm das Besteck zu reichen.
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