6 - Ein überraschender Gast
Es war ein warmer Sommerabend, als ich mich auf den Weg zum Geburtstag meines Schwagers in Spe machte. Meine Schwester Inga war seit knapp zwei Jahren mit dem charmanten Rechtsanwalt Gregor liiert und seit einem halben Jahr lebten sie glücklich auf dem Land. Für mich kam ein Leben außerhalb der Stadt momentan überhaupt nicht in Frage. Die Hektik, das pulsierende Leben - das war mein Element.
Aber wer weiß, ob sich das in Zukunft ändern würde. Wenn ich Inga und Gregor ansah, wie glücklich sie waren, konnte ich mir durchaus vorstellen, irgendwann auch mal ein Häuschen in einer idyllischen Vorstadt zu bauen.
Doch davon war ich noch weit entfernt. Sehr weit.
Außerdem brauchte man so weit außerhalb ein Auto. In Berlin war das natürlich nicht notwendig, aber hier auf dem Land war es unverzichtbar. Das bedeutete für mich, dass ich mit der Bahn fahren musste, dann in einen Bus umstieg und die restlichen Meter die Landstraße entlang lief. Es war ein kleines Abenteuer, aber ich genoss es, durch die ruhigen Straßen zu schlendern und die frische Landluft zu atmen.
Als ich ihr Haus erreichte, hörte ich bereits das fröhliche Stimmengewirr der Gäste im Garten. Der Duft von Gegrilltem lag in der Luft. Ich betrat den Garten und wurde von meiner Familie herzlich begrüßt. Mein Vater beteuerte immer wieder, dass sie mich hätten abholen können, jedoch wohnen sie seit ein paar Jahren ebenfalls außerhalb der Stadt und der Umweg wäre viel zu weit gewesen. "Es macht mir nichts aus, mit den Öffentlichen zu fahren, Papa. Außerdem bin ich doch jetzt hier."
Gregor hatte den Garten wunderschön dekoriert, wie immer. Als ich ihn darauf ansprach, bestand Inga jedoch darauf, dass sie die meiste Arbeit gemacht hatte. Er bedankte sich für ihre Mühe mit einem Kuss auf die Wange bei ihr und schaute nach weiteren Gästen, die gerade gekommen waren.
Wie immer strahlte er eine ruhige Gelassenheit aus. Mit seinen kurzen dunklen Haaren, seiner imposanten Größe und den breiten Schultern sah man ihn stets ordentlich gekleidet. Meistens trug er eine Chino-Hose, ein Hemd und weiße Sneaker. Nur wenn er arbeitete, tauschte er seine Kleidung gegen Armani-Anzüge und braune Lederschuhe aus.
Inga und ich machten es uns auf einer der gemütlichen Gartenbänke bequem und begannen, über alles Mögliche zu plaudern. Geschäftliches, Familiäres, unsere Freunde - und natürlich auch über Männer.
"Euer Garten sieht wirklich fantastisch aus! Hat Gregor das alles alleine geschafft?", fragte ich interessiert nach. Begeistert davon, was man hier alles machen konnte.
"Oh, danke, Lina! Gregor hat wirklich ein Händchen dafür, aber ich habe natürlich auch ein bisschen mitgeholfen", antwortete Inga, obwohl ich eher diejenige in unsere Familie war, die den grünen Daumen hatte.
"Habt ihr wirklich toll hinbekommen. Übrigens ... gestern war ich auf dem Konzert von Alex Cooper. Unglaublich, oder?!"
"Wirklich? Das klingt ja spannend! Wie war es denn?", fragte Inga interessiert.
"Es war fantastisch! Die Atmosphäre, die Musik... einfach alles. Ich war total begeistert", erzählte ich euphorisch.
"Das freut mich für dich, Lina. Es ist schön, wenn man solche besonderen Erlebnisse hat", bemerkte Inga.
Mir wurde bewusst, dass wir früher vieles gemeinsam unternommen hatten. Seit sie weggezogen war, wurde es immer weniger. Die Traurigkeit in ihrer Stimme, die sie zu verbergen versuchte, nahm ich trotzdem wahr. Es war schade, dass wir uns nur noch so selten trafen.
"Beim nächsten Konzert nehme ich dich mit", versprach ich ihr und zauberte ihr wenigstens ein kleines Lächeln auf die Lippen.
Nach einer Weile gingen wir zu den anderen und schlossen uns dem restlichen Geburtstagstrubel an. Wir unterhielten uns mit einer Freundin von früher, tauschten Geschichten aus und lachten über alte Erinnerungen. Dabei genossen wir einen Aperol Spritz und die warme Sommerluft im Garten.
Plötzlich zog ein bekanntes Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich - das Knattern eines Motorrads.
Ein Schmunzeln huschte über meine Lippen, denn dieser neue Nachbar schien mich selbst außerhalb von Berlin zu verfolgen. Zumindest gedanklich, denn offenbar dachte ich sogar hier auf dem Land an ihn, sobald ich das vertraute Geräusch eines Motorrads hörte. Es war lächerlich, dass ich direkt an ihn dachte, also schob ich den Gedanken beiseite. Doch bevor ich mich wieder auf das Gespräch konzentrieren konnte, sah ich, wie der Bad Boy gerade durch das Gartentor kam.
Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich konnte nicht anders, als überrascht die Kinnlade herunterklappen zu lassen. Was machte der denn hier?
"Inga", rief ich aus, als ich mich wieder gefasst hatte. "Wer ist das?" Meine Schwester lachte und erklärte mir, dass Max der Bruder von Gregor sei.
"Max? Der Bruder von Gregor?" Ich wiederholte ihre Worte wie in Trance. Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich gehört hatte, dass sein Bruder eine Zeit lang in den USA gelebt hatte. Doch dass der Badboy, alias der neue Nachbar, auch gleichzeitig der Bruder meines Schwagers in Spe sein sollte ... Das war absolut verrückt.
Vor allem weil die beiden so unterschiedlich waren. Gregor war der Inbegriff für Vernunft und Selbstständigkeit, was man von diesem Max nicht unbedingt behaupten konnte. Ja gut, ich wusste eigentlich gar nichts über meinen neuen Nachbarn. Es waren alles nur Vorurteile, trotzdem durfte jeder Mensch eine Meinung haben. Ich kannte solche Kerle wie ihn. Und ich wusste, wie die Geschichten meistens endeten. Ganz besonders die mit Jake Rivers, denn da gab es kein Happy End.
Als Inga mich mit neugierigen Augen ansah und fragte, was es mit Max auf sich hat und warum ich so komisch reagierte, spürte ich einen Stich der Panik in meiner Brust. Meine Gedanken wirbelten wild durcheinander, während ich nach einer Ausrede suchte, die meine seltsame Reaktion erklären konnte.
"Ach nichts, ich habe mich nur gewundert, weil er ja eigentlich in den Staaten sein sollte", murmelte ich und zwang mich, ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen, das hoffentlich meine innerliche Unruhe verbergen konnte.
Doch bevor Inga weiter nachbohren konnte, kamen Gregor und sein Bruder in unsere Richtung. Ich wollte gerade gehen, da hielt Inga mich lachend an der Hand fest.
"Warte doch! Gregor will dir Max vorstellen."
Als sie vor uns stehen blieben, sah ich diesen Blick von ihm, den ich nicht deuten konnte. Max' dunkle Augen ruhten auf mir und seine Mundwinkel zuckten. Als Gregor ihn höflich vorstellte, zogen sich seine Lippen endgültig zu einem schelmischen Lächeln. Noch bevor Gregor mich vorstellen konnte, fiel sein Bruder ihm allerdings ins Wort.
"Lina Everhardt", sagte er leise und raubte mir damit fast den Atem.
Ich war erstaunt, dass er sich meinen vollen Namen gemerkt hatte. Ich hatte ihn nur einmal genannt und nicht einmal direkt mit ihm gesprochen, sondern mit dem weltberühmten Star, der meinen Laden besucht hatte. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich mich fragte, warum er sich so gut an meinen Namen erinnern konnte und was das bedeutete.
"Ihr kennt euch?" Gregor sah zwischen uns hin und her, offensichtlich verwirrt über die Tatsache, dass wir uns kannten. Inga kniff irritiert ihre Augen zusammen. Immerhin hatte ich gerade noch eine Ausrede erfunden und nicht erwähnt, dass ich Max kannte.
"Kennen ist übertrieben", versuchte ich, die Spannung zu lösen, während ich mich bemühte, meine Stimme fest klingen zu lassen, obwohl mein Herz wild in meiner Brust pochte.
Max trat einen Schritt näher und lächelte mich an. "Wir sind Nachbarn", erklärte er mit einem Augenzwinkern, das meine Knie weich werden ließ.
Und schon wieder war diese Assoziation zu meinem Lieblingsroman da ...
***
Im tobenden Gewirr des Clubs, umgeben von rhythmisch tanzenden Menschenmassen, konnte ich meinen Blick nicht von ihm abwenden: Jake Rivers. Er stand am Rand der Tanzfläche, umgeben von einer Aura der Unnahbarkeit, die ihn wie einen mysteriösen Fremden erscheinen ließ. Sein dunkles Haar glänzte im gedämpften Licht und sein Lächeln, halb herausfordernd, halb verführerisch, ließ mein Herz schneller schlagen.
Als unsere Blicke sich trafen, spürte ich ein elektrisierendes Kribbeln, das mich dazu brachte, den Atem anzuhalten. Er zwinkerte mir zu und in diesem Moment schien die Welt um uns herum stillzustehen. Mein Bauch füllte sich mit einem angenehmen Prickeln und ich konnte die Hitze seiner Blicke auf meiner Haut spüren. Es war, als ob zwischen uns eine unsichtbare Verbindung entstand, die mich unwiderstehlich zu ihm hinzog.
***
Seine braunen Augen funkelten, als er mich ansah. Ich bemerkte kaum, wie Gregor und Inga sich unterhielten, während ich mich in Max' Blick verlor. Dabei wollte ich das überhaupt nicht. Es war, als ob die Zeit stillstand und es nur uns beide gab, umgeben von einer überwältigenden Anziehungskraft.
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