Der weiße Hai
Mit meiner Hand tastete ich nach meinem Brillenbügel. Die Brille saß. Niemand würde meine Augen sehen und die Delfine würden mich nicht erkennen. Ganz bestimmt. Ich atmete tief durch und drückte die Tür zur Cafeteria auf. Ich war spät dran. Noch lieber hätte ich das Essen ausfallen lassen, doch mein Hunger hatte mich schließlich doch hergetrieben.
Eilig holte ich mir am Buffet etwas zu essen. Dann sah ich mich um. Vielleicht konnte ich mich irgendwo in die letzte Ecke an einen leeren Tisch setzen.
Mein Plan wurde dadurch zunichte gemacht, dass Finny mich zu ihrem Tisch heranwinkte. Wir waren nur zwei Klassen an der ganzen Schule, ich konnte also schlecht so tun, als hätte ich sie nicht gesehen. Seufzend machte ich mich auf den Weg zu ihr. Zu spät bemerkte ich, dass auch die Delfine an diesem Tisch saßen.
Schon wollte ich abdrehen, um mich zu ein paar anderen Schülern zu setzen, als Izzy aufsprang und mich an den Tisch zog.
„Du wirst nie glauben, was Shari, Blue und Noah heute passiert ist“, meinte sie aufgeregt.
Doch würde ich, ich war dabei.
„Du warst doch heute auch im Meer, oder?“, fragte Finny, „Hast du einen weißen Hai gesehen?“
Ich musste an Farryns Worte denken: Überleg nochmal, ob du nicht offener mit deiner zweiten Gestalt umgehen willst.
Aber was sollte ich den sagen? Ach ja, ich war das tut mir echt leid und so, oder was?!
Also schwieg ich einfach und tat so, als wäre mein Tunfisch auf dem Teller sehr interessant. Zum Glück schien das auch zu reichen und Blue und Shari erzählten nochmal in allen Einzelheiten, was heute passiert war.
Währenddessen kamen ständig Schüler an unseren Tisch, hörten zu und fragten, wie es Noah ging. Anscheinend lag der mit Kopfschmerzen auf der Krankenstation.
Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte, dass er größtenteils unversehrt war, oder ob ich mich in Grund und Boden schämen sollte. Laut den anderen Schülern wohl das zweite. Die regten sich zumindest gebührend über den bösen Hai auf und lobten Shari, dass sie mich vertrieben hatte. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht, vertrieben, schon klar. War ja nicht so, als hätte ich schon die ganze Zeit weggewollt.
Irgendwie schaffte ich es mein Abendessen herunterzuwürgen. Dann murmelte ich was, was selbst mir unverständlich war, und verschwand aus der Cafeteria.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken Noah zu besuchen. Einfach um zu sehen, wie es ihm ging. Allerdings hatte ich noch nie viel mit ihm zu tun gehabt und ich konnte mich schlecht bei ihm entschuldigen… Also ging ich doch lieber zurück zur Hütte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich einfach auf meinem Bett lag und die Decke anstarrte, als es an der Tür klopfte. Ich sagte nichts. Dennoch ging die Tür auf.
„Ava“, flüsterte eine mir wohlbekannte Stimme.
Ich begann zu zittern. Nein, er sollte weggehen. Bevor ich ihn verletzte.
„Ava, bist du hier?“
Ich antwortete nichts. Starrte nur weiter stumm die Decke an.
Schritte näherten sich meinem Bett.
„Da bist du ja“
Chris Kopf erschien am Fußende meines Bettes. Er stand auf der Leiter.
Ich drehte mich im Bett so, dass ich ihn gut ansehen konnte.
„Du solltest weggehen“, sagte ich einfach.
Chris setzte sich auf meine Matratze und ließ die Beine über der Leiter nach unten baumeln. Damit saß er direkt neben meinen Füßen. Ich setzte mich auf und lehnte mich am Kopfende an.
„Geh, bevor ich…“, ich beendete den Satz nicht. Wusste nicht, wie ich ihn beenden sollte.
„Was ist heute im Meer passiert?“, fragte Chris.
Ich schluckte. „Haben die Delfine dir nichts erzählt?“, fragte ich rhetorisch nach.
„Ich will es aber von dir wissen“, meinte Chris behutsam und blickte mir direkt in die Augen.
Ich hatte schon oft einen Hundeblick gesehen. Sogar Ben hatte es ein paar Mal versucht, aber das hier war etwas anderes. Es war einfach nicht dieselbe Liga.
Ich atmete tief durch. Dann erzählte ich Chris, was passiert war.
Der Seelöwenwandler blieb still. Er ließ mich in Ruhe erzählen, mit allen Pausen zum Durchatmen, die ich brauchte. Er verzog auch keine Miene, sondern wartete still ab.
Erst als ich geendet hatte und ihn aufmerksam ansah, meinte er: „Dann ist es mir egal“
Ich starrte Chris perplex an. „Was?!“
„Es ist mir egal“, wiederholte Chris, „Du wolltest niemanden verletzten, dein Maul ist zugeblieben, niemand wurde gefressen, es ist doch alles gut.“
Ich konnte nicht glauben, was ich hörte, doch Chris setzte noch eins drauf:
„Deswegen ist es okay. Es ist nicht schlimm für mich. Und ich möchte immernoch mit dir schwimmen“
„Ich könnte dich verletzten!“, protestierte ich.
„Du hast mich noch nie verletzt! Wenn du gewusst hättest, dass die Delfine da sind, hättest du auch sie nie verletzt. Ava, ich kenne dich! Ja, du bist gewachsen, aber das bin ich auch. Ich bin schon mit einem Orca geschwommen, die sind einen halben Meter größer als du! Bitte Ava, bitte!“
Ich bekam Tränen in den Augen. Das war so mutig von ihm! Er verteidigte meine Tiergestalt sogar! Er wollte mit mir schwimmen, wie früher…
Während mein Gehirn noch dabei war, die Ängste gegen die Sehnsucht abzuwägen, bekam mein Kopf ein Eigenleben. Er nickte.
Chris strahlte mich an und ehe ich reagieren konnte, hatte er mich schon an sich gedrückt.
„Dann morgen nach dem Unterricht“, flüsterte er mir ins Ohr.
Und schwupps, schon war er aus dem Zimmer verschwunden.
Ich lächelte. Ach, dieser Seelöwe.
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