Kapitel 6
Verschlafen öffnete Ann die Augen. Ihr erster Sonntag in Wimbledon war angebrochen. Sie hatte sich ein altes Kleid ihrer Mutter für diesen rausgesucht, das die Farbe ihrer Augen hatte. Sie machte sich eine, für ihr Alter angemessene, Frisur und ging runter Frühstücken. Eine Schüssel Haferschleim stand schon auf ihrem Platz. Onkel Alec saß am Tisch und las Zeitung. Beth stand am Herd und kochte Kaffee. Als sie sich umdrehte musterte sie Annithy kritisch.
„Mir kommt dieses Kleid bekannt vor. Woher hast du es?"
Alec sah auf. „Sie sieht doch hinreißend darin aus." Er faltete die Zeitung und legte sie beiseite.
„Es ist das alte Sonntagskleid meiner Mutter." Annithy fühlte sich unsicher und wurde verlegen. Sie spürte, dass sie rot wurde und schlang die Arme, wie ein Schutzschild, um ihren Oderkörper.
„Ich habe dieses Kleid schon mal an ihr gesehen. Das Kleid, dass die Farbe von Ians Augen hat. Und von dir."
„Ist doch egal, Beth. Das spielt doch gar keine Rolle." Alec hörte sich ungeduldig an.
„Ich weiß noch wann sie dieses Kleid das erste Mal trug", wiederholte Beth, als könne sie es nicht fassen es wieder zu sehen. „Sie hat es sich gekauft um deinem Vater zu schmeicheln. Jawohl. Immerhin hat es die Farben seiner Augen und damals hat sie-" „Beth, jetzt halt mal die Luft an", unterbrach ihr Mann sie, „Siehst du nicht wie du das Mädchen verletzt?"
Annithy musste schlucken und gegen die Tränen ankämpfen. Hatte ihre Tante etwas gegen ihre Mutter? Für sie war ihre Mutter ein wertvoller Mensch ohne Makel. Sie liebte sie immer noch über alles. Ihre Mutter hatte so ein sanftes, liebevolles Wesen gehabt. Sollte sie Tante Beth irgendwann verletzt haben? Nur wie?
„Träum nicht, Annithy. Setz dich und iss. Ich möchte pünktlich zum Gottesdienst kommen."
„Natürlich, Tante Beth." Fügsam setzte Annithy sich und löffelte schweigsam ihren Haferschleim. Wenig später machten sie sich auf den Weg zur Kirche.
Vor dem Gotteshaus standen ein paar Jugendliche in mehreren Gruppen zusammen. Auch ein paar ältere Frauen waren zu sehen, die neugierig ihre Köpfe zu ihnen umwandten und zu tuscheln begannen. Alec und Beth grüßten sie mit einem Nicken. Annithy musste sich räuspern. Sie fühlte sich schrecklich unwohl und musste die ganze Zeit an das Gespräch beim Frühstück denken.
„Komm Annithy ich möchte dich ein paar Mädchen vorstellen." Ihre Tante nahm ihren Ellbogen und führte sie auf eine Gruppe kichernder Mädchen zu. Annithys ganzes inneres sträubte sich dagegen sich mit diesen Mädchen zu Unterhalten.
„Guten Tag zusammen. Das ist meine Nichte Annithy Horton aus Forstcity." Ihre Tante klang wie eine Auktionatorin die ein Stück vorstellte und sich dabei wenig dafür interessierte ob es gut ankam oder nicht.
„Annithy dies ist Carol Lewis, Alecs Nichte, dies Chrissy Moreno und dies Megan Bennet. Sie gehen in deine Sonntagsschulgruppe und werden dir nach dem Gottesdienst zeigen wo du hinmusst."
„Ja ma'am. Werden wir", sagte Carol und hob den Kopf. Es kam Annithy vor als wäre sie ein kleines Kind, das jedem zur Last fiel. Sie sah sich nach Jo um. Sie entdeckte ihn bei einer Gruppe von Jungen. Mitleidig schaute er zu ihr herüber und Annithy versuchte ein tapferes Lächeln. Zum Glück war er ja noch da.
Ihre Tante ging und Carol rümpfte die Nase. Sie und ihre Freundinnen musterten Annithy kritisch.
„Wem hast du denn da zugelächelt?" Carol klang wie eine überstrenge Mutter, die ihr Kind vor einem Entführer schützen wollte.
„Nur einem Freund." Annithy versuchte ihre Stimme so ruhig und gleichgültig klingen zu lassen wie nur möglich.
„So, einem Freund" äffte Carol nach.
Oh Tante Beth, wo hast du mich nur hingebracht? Herr, befrei mich von diesen Mädchen, bitte!
Der Pastor läutete die Glocke und die Jugendlichen strömten dem Eingang zu. Annithy folgte ihnen. Doch Carol und ihre Freundinnen kamen ebenfalls nach und so saß Annithy während des Gottesdienstes wohl oder übel neben ihnen.
Der Pastor sprach über ein Gleichnis von Jesus und nach dem letzten Gebet verkündete er noch: „Alec und Beth Blake haben bis zum Ende des Krieges ihre Nichte Annithy Horton bei sich aufgenommen. Sie wird nun auch unsere Gemeinde besuchen. Miss Horton, würden Sie sich bitte einmal erheben." Annithy wurde übel. Aufstehen? Alle Köpfe drehten sich zu ihr um.
Chrissy kniff ihr in die Seite. „Na los" hauchte sie zynisch.
Annithy stand auf und spürte wie sie errötete. Der Pastor nickte ihr freundlich lächelnd zu. „Herzlich Willkommen in unserer Gemeinde, Annithy."
Annithy brachte ein Lächeln zustande. Sie hörte wie ihre Tante sich räusperte. Sie musste etwas sagen. „Danke" stammelte sie mit kratziger Stimme.
Er bedeutete ihr sich zu setzen und richtete anschließend noch einige Worte an die Gemeinde. Dann strömten alle hinaus. Irgendwie schaffte Annithy es sich von den Mädchen zu entfernen und sie begann Jo zu suchen. Endlich sah sie ihn. Sie mitleidig anlächelnd, kam er auf sie zu.
„Ich wusste, dass deine Tante dich Carol Lewis und ihren Freunden vorstellen würde. Sie sind ganz nach ihrem Geschmack."
„Oh Jo, ich will hier weg", jammerte Annithy. Sie kämpfte mit den Tränen.
„Ich weiß, aber es nützt nichts, Ithy. Ich schlage dir vor dich gleich in der Sonntagsschule neben Doreen Smith, Mary McNally und Olivia Harris zu setzen. Die sind in Ordnung."
„Und woran erkenne ich sie?"
„Da hinten stehen sie." Er zeigte auf drei Mädchen. Zwei von ihnen hatten dunkles, braunes Haar und die andere pechschwarze. Alle drei sahen sehr sympathisch aus.
„Meinst du wirklich die sind nett?"
„Klar. Du wirst dich mit ihnen auf jeden Fall besser verstehen als mit Carol."
„Hoffentlich." Da viel ihr noch etwas ein, „War ich sehr rot als der Pastor mich aufrief?"
Er nickte und grinste belustigt. „Wie eine Tomate."
Annithy stöhnte. Das fing ja gut an. „Ich bin fast in Ohnmacht gefallen. Ich wusste nicht, dass ich mich vor allen hinstellen sollte. Tante Beth hat mir nichts gesagt." Er zuckte mit den Schultern. Da sah sie zu ihrem Leidwesen Chrissy, Carol und Megan auf sie zukommen.
„Annithy Horton, warum verschwindest du einfach? Wir dachten du seist noch nachträglich in Ohnmacht gefallen, oder seist abgehauen, weil es dir so peinlich war." Vorwurfsvoll sah Carol sie an. Als würde sie sich wirklich Sorgen machen.
„Danke Carol, aber wie du siehst geht es mir gut. Ich unterhalte mich nur mit einem Freund." Annithy klang als würde sie einem Kind etwas erklären.
Carol sah sie überrascht an. Sie deutete auf Jo. „Er ist dein Freund?" Annithy merkte das sie das nicht glauben konnte und etwas wie Neid blitzte in ihren Augen auf.
„Wenn du nichts dagegen hast, Carol? Und jetzt entschuldigt mich, die Sonntagsschule beginnt. Bis bald Jo." Sie lächelte ihn an.
„Bis Bald, Ithy." Und so ließen sie die drei verdutzt stehen.
Annithy steuerte auf den Eingang der Kirche zu und folgte den drei Mädchen, die Jo ihr gezeigt hatte. Die Kirche hatte nicht sehr viele Räume und da ihr Raum einer der letzten war, wurde der Gang immer leerer. Somit war es Annithy ein leichtes den drei Mädchen zu folgen. Diese setzten sich auf eine Bank in der zweiten Reihe auf der linken Seite des Zimmers. Daneben war noch genug Platz für Annithy. Schnell ging sie darauf zu.
„Hallo, darf ich mich hier hinsetzen?"
Alle drei sahen zu ihr auf und nickten.
„Klar." Das Mädchen mit den schwarzen Haaren lächelte sie an, als wären sie schon beste Freundinnen. Das gab Annithy Mut und sie setzte sich erleichtert. „Ich bin Mary McNally und das sind Doreen Smith und Olivia Harris."
Doreen hatte dunkle Saphirblaue Augen und braune Locken. Olivia hatte ebenfalls braunes Haar und ihre Augen hatten fast das gleiche Himmelblau wie Jos'. Mary war wohl das schönste Mädchen das Annithy je in ihrem Leben gesehen hatte. Ihr schwarzes Haar war elegant hochgesteckt und ihre grüngrauen Augen leuchteten mit der Sonne um die Wette.
„Wir haben gesehen wie deine Tante dich zu Carol, Chrissy und Megan geführt hat. Du hast uns so leidgetan." Als Mary lächelte, bemerkte Annithy ein Grübchen in ihrer linken Wange. Sie ist so schön, dachte sie.
„Tja, meine Tante wollte wohl das wir uns gut verstehen."
„Seid ihr Verwandt?" Doreen deutete mit dem Kopf zu Carol.
„Nein, sie ist die Tochter von der Schwester meines Onkels und ich bin die Tochter von dem Bruder meiner Tante."
Doreen lachte. „Aha. Habt ihr euch schon mal gesehen?"
„Nein, sonst wäre ich ja vorgewarnt gewesen."
„Kennst du hier noch niemanden?" Olivia hob die Augenbrauen.
„Doch, Joseph Garden, Carol und co. und euch." Sie schmunzelte.
„Woher kennst du denn Jo?" Annithy merkte das diese Mädchen ganz anders waren als die in deren Gesellschaft ihre Tante sie gerne gesehen hätte. Diese Mädchen nahmen sie an. Für sie musste Ann sich nicht verstellen. Sie interessierten sich aufrichtig für sie. Kritisierten sie nicht.
„Wir haben uns zufällig vor paar Tagen kennengelernt."
„Achso. Dann warst du ja nicht so alleine."
„Es ging."
Eine junge Frau kam herein und klatschte zweimal in die Hände. Daraufhin wurde es still und die Sonntagsschule begann. Auch hier musste Annithy sich vorstellen, doch diesmal war sie darauf vorbereitet und alles klappte reibungslos.
Als alle aus dem Raum nach draußen strömten näherte Carol sich Annithy. „Du wirst es noch bereuen nicht auf deine Tante gehört zu haben, Annithy. Ungehorsam hat sie nicht gern." Ihre Stimme war sarkastisch.
„Mach dir keine Sorgen um mich, Carol. Meine Tante wird einsehen müssen das ich mir meine Freunde selbst aussuchen kann." Annithy versuchte ihre Stimme ruhig und zuckersüß klingen zu lassen. Carol schnaubte und verschwand.
„Was für ein seltsamer Mensch", meinte Olivia, die neben ihr herging. „Geh ihr lieber aus dem Weg, Annithy." Sie sah ihr mit gerunzelter Stirn nach.
„Ja, ist wohl besser. Aber ihr könnt Ann zu mir sagen, das ist kürzer."
„Und zu mir kannst du Via sagen und zu Doreen einfach Dorry." Ja, diese Mädchen sind in Ordnung. Gebe Gott, dass Tante Beth nicht böse auf mich wird, weil ich Carol so vor den Kopf gestoßen habe. Annithy spürte das sie in dieser Stadt langsam Fuß fasste, wenn auch noch etwas unsicher. Jetzt wollte sie nur noch herausfinden was ihre Tante gegen ihre Mutter hatte.
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