Kapitel 36
Nachdem alle Schulkinder der Stanleys eine Woche ohne Entschuldigung fehlten wurde es Annithy zu viel und sie machte sich auf den Weg der Familie einen Besuch abzustatten. Die kleine Karen öffnete auf ihr klopfen und ihre dunklen Augen begannen zu strahlen, als sie Annithy sah.
„Hallo, Ann!", rief sie und fiel ihrer großen Freundin um den Hals.
„Hallo, Karen. Wie geht's dir?"
„Mir geht es gut, aber Daisy nicht." Karen schob die Unterlippe vor und sah Annithy treu an.
„Ja, davon habe ich gehört. Deshalb bin ich ja auch gekommen und weil ihr alle die ganze Woche nicht in der Schule wart."
Karen sah sie aus großen Augen an, die sich mit Angst füllten. „Bekommen wir jetzt Ärger?"
„Aber nein", beschwichtigte Annithy lächelnd, „Es sei denn ihr seid dem Unterricht aus Lustlosigkeit ferngeblieben."
„Wir sind wegen Daisy nicht gekommen. Ehrenwort Miss."
„Ich glaube dir, Karen. Kann ich jetzt mit deiner Mutter sprechen?"
Karen nickte. „Komm rein."
Sie winkte ihre Freundin ins Haus und schloss die Tür hinter ihnen. Dann rief sie nach ihrer Mutter und verschwand, blieb aber in Hörweite, des Wohnzimmers in dem Ann sich niedergelassen hatte, um das Gespräch belauschen zu können. Annithy tat, als merke sie es nicht.
Ann stand auf, als Karens Mutter ins Zimmer trat und begrüßte sie. „Guten Tag, Mrs Stanley."
„Hallo, Ann. Schön, dass du gekommen bist." Mrs Stanley erwiderte ihren Händedruck und setzte sich dann mit ihr aufs Sofa.
„Ich wollte mich erkundigen wie es euch geht und habe etwas von unserem Honig mitgenommen, für Daisy. Honig ist gesund und sie liebt diesen ja so." Annithy holte aus ihrem Korb ein paar Gläser und stellte sie auf den Wohnzimmertisch.
„Danke, Ann. Das ist lieb von dir."
„Wie geht es Daisy, Mrs Stanley?"
Die Mutter seufzte. „Nicht gut. Der Arzt weiß einfach nicht was ihr fehlt. Sie wird einfach immer blasser und schwächer. Sie spricht und isst kaum noch. Wir wissen nicht mal, ob es ansteckend ist. Deshalb lasse ich die Kinder auch nicht zur Schule."
„Was sagt denn Ihr Mann dazu?"
„Carl ist seit gestern Morgen nicht mehr aufgetaucht."
Annithys Augen wurden groß vor Entsetzen. „Er ist weg?"
„Ja. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Und um ehrlich zu sein, bin ich froh darüber. Er würde nur stören und mir nicht helfen können. Doch er hat es noch nie in den letzten dreizehn Jahren getan und das bereitet mir Sorgen."
Annithy nahm ihre Freundin in die Arme. „Er wird wiederkommen und sich ändern. Ich bete jeden Tag dafür."
„Danke, Ann. Vielleicht hilft es mehr, wenn mehrere dafür beten, als nur die Kinder und ich."
Ann löste sich von Mrs Stanley und nahm stattdessen ihre Hände in die Ihrigen. „Aber, Mrs Stanley. Gott sagt uns doch in der Bibel: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind da bin ich mitten unter ihnen. Er hört uns, egal wie viele beten. Da bin ich mir sicher, aber er antwortet nicht immer so, wie wir es wollen. Schließen Sie Ihr Gebet immer mit den Worten: Dein Wille, himmlischer Vater, geschehe und nicht meiner."
„Du bist ein Geschenk des Himmels für unsere Familie, Ann. Dein Gottvertrauen hilft mir und die Kinder lieben dich."
„Und ich liebe euch." Sie drückte Mrs Stanleys' Hand. „Darf ich jetzt Daisy sehen?"
„Ich weiß nicht", zögerte Mrs Stanley, „Nicht, dass du dich ansteckst."
Anns „Als Mutter damals krank war, habe ich mich auch nicht angesteckt. Lassen Sie mich zu ihr, bitte."
„Na gut. Komm mit."
Mrs Stanley stand auf und ging ihre voran durch den Flur, die Treppen hinauf in ein Zimmer, dass nach einem frischen Anstrich nur so schrie.
Für die Schlafzimmer müssen wir uns noch etwas einfallen lassen, dachte Ann.
Als sie das blasse, schmale Gesicht von Daisy auf dem Kissen liegen sah, zog sich Anns Herz zusammen. Daisys Haut schien durchsichtig zu sein, obwohl zwei rote Flecken, die von Fieber herrührten, auf ihren Wangen prangten. Ihre Augen glänzten fiebrig, die Wangen waren eingefallen und ihre Arme sahen aus wie zwei dünne Äste. Es überlief Annithy ein kalter Schauer und doch setzte sie sich neben ihrer kleinen Freundin aufs Bett.
Die Kranke sah sie sehr verwirrt an. „Na, Daisy, erkennst du mich?"
Jetzt huschte ein Ausdruck des Erkennens über das Gesicht, der Kranken.
"Was machst du denn nur für Sachen, einfach so krank werden... Zac Lewis vermisst seine liebste Konkurrentin in Mathematik schon."
Daisy lächelte und für einen Augenblick sah man ihr nicht an, wie krank sie war und wie Elend sie sich fühlen musste. Jetzt ging Annithy ein Licht auf. Sie muss diese Krankheit schon länger in sich tragen, aber wir haben nichts gemerkt. Sie selbst vielleicht auch nicht und jetzt geht alles rasend schnell. Ich glaube nicht, dass sie ansteckend ist.
Annithy schüttelte theatralisch den Kopf. „Die konföderierten müssen mit ansehen wie die Union einen ihrer Hafen nach dem nächsten besetzten, während du dich hier in deinem Bett entspannst." Sie zwinkerte ihr zu. Natürlich wusste sie, dass Daisy alles andere tat, als sich zu entspannen, aber sie musste die Kleine mit allen Mitteln aufheitern.
„Soll ich dir erzählen, was die kleine Schwester von Megan Bennet in einem ihrer Aufsätze geschrieben hat? Du wirst Lachen, das sag ich dir. Ich konnte auch nicht mehr an mich halten, als ich es gelesen habe. Tante Beth dachte schon ich habe den Verstand verloren."
Über eine dreiviertel Stunde saß Annithy an dem Bett, der Kranken und erzählte ihr lustige Ereignisse, die sich in den letzten Tagen zugetragen hatten und auch einige Geschichten, die passiert waren, als sie selbst noch so alt war wie Daisy. Diese lachte fast die ganze Zeit durch, auch wenn es nur ein schwaches und leises Lachen war, welches Ann kaum hören konnte. Ann wäre gerne noch länger geblieben, wenn Daisy nicht schlafen müsste. Die Kranke war sehr müde und so hielt Annithy ihr noch die Hand bis sie eingeschlafen war.
Als sie die Treppen herunterstieg und in die Küche kam, sah Mrs Stanley sie fragend an. „Was hast du so lange bei ihr gemacht?"
„Ich habe mich mit ihr unterhalten." Annithy zuckte mit den Schultern.
„Worüber habt ihr denn gesprochen?"
„Ich habe ihr einfach alle möglichen Geschichten erzählt, die lustig sind."
Das Gesicht von Mrs Stanley verwandelte sich in ein lebendiges Fragezeichen. Annithys Mundwinkel bogen sich nach oben. „Daisy braucht nicht jemanden, der sie bemitleidet und ihr sagt, wie schlecht es ihr geht und nur weint. Sie muss abgelenkt werden und lachen."
Beschämt schlug Daisys Mutter die Augen nieder. „Ich glaub du hast recht."
„Ganz bestimmt habe ich das. Sie hat sich während unseres Gesprächs verwandelt. Ich glaube, dass sie einfach noch ein paar schöne Tage auf dieser Welt haben will."
Mrs Stanleys Kopf schoss in die Höhe. „Was sagst du da, Ann?"
Annithy biss sich auf die Unterlippe. Das hatte sie nicht sagen wollen. „Ich bin mir sicher, dass Daisy schon lange krank war bevor sie selbst oder jemand anderes gemerkt hat, wie schlecht es ihr geht und dass es jetzt schon zu spät ist einzugreifen. So wie bei meiner Mutter", ihre Stimme wurde immer leiser.
Die Wangen von Mrs Stanley überzogen sich mit einer leichten Röte, während Ann sprach. „Daisy ist aber nicht deine Mutter", rief sie erregt. Erstaunt sah Ann auf die wütende Frau. „Sie ist ein starkes Kind und wird wieder gesund. Du bist kein Arzt, sondern Lehrerin und kannst das alles überhaupt nicht beurteilen."
Annithy war ganz verwirrt. Was war nur in ihre Freundin gefahren? „Was hat der Arzt denn gesagt", traute sie sich zu fragen.
„Er war gar nicht hier."
„Verstehe." Annithy legte die Stirn in Falten. Die Familie hatte kein Geld, um sich einen Arzt zu leisten so, wie damals bei Fred.
„Bitte geh jetzt, Ann."
Annithy sah die Müde Frau an. Noch nie hatte diese sie so aus dem Haus gewiesen. „Ich meine es ernst. Daisy wird wieder gesund und ich will nicht, dass du den Kindern solche Flausen in den Kopf setzt. Komme nie wieder hier her."
„Aber, Mrs Stanley..."
„Leb wohl, Ann." Mit diesen Worten lief Mrs Stanley aus der Küche und lies die verdatterte Annithy allein zurück. Es dauerte eine ganze Weile bis Annithy sich wieder aus ihrer Starre löste. Wie betäubt verließ sie das Haus. Unterwegs machte sie sich ihre Gedanken. Mrs Stanley hat Angst Daisy zu verlieren. Ich habe sie tief getroffen mit meinen Worten, deshalb werde ich mich morgen bei ihr entschuldigen, auch wenn sie mich nicht sehen will. Bis dahin wird sie sich hoffentlich beruhigt haben. Ich werde die Mädels fragen, ob eine von ihnen mit mir mitkommen will.
Am nächsten Nachmittag, nach der Schule, machte sie sich gemeinsam mit Doreen auf den Weg zu den Stanleys. Als sie das Haus erreichten musste Annithy noch einmal tief Luft holen. „Ich hoffe, dass Mrs Stanley mir verzeihen wird. Mein schlechtes Gewissen hat mich die ganze Nacht nicht schlafen lassen."
Doreen klopfte an die Haustür. „Man siehts. Du hast ganz dunkle Augenringe", lachte sie.
„Das ist nicht witzig, Dorry."
In diesem Moment öffnete Sim die Tür. „Hallo Ann, hallo Doreen."
„Hallo Sim, können wir mit deiner Mutter sprechen?" Doreen sah den Jungen freundlich an.
„Klar, kommt rein."
Er führte die beiden in die Küche. Dort war Mrs Stanley mit der kleinen Rose beschäftigt. Als sie Annithy sah versteinerte sich ihr Gesichtsausdruck, sodass Sim schnell Reißaus nahm. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nie wieder hier sehen will."
„Ich weiß, aber ich musste wiederkommen. Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe. Ich wollte es nicht sagen, aber es ist mir so rausgerutscht." Eine gespannte Stille stand jetzt im Raum und Rose begann zu quengeln. Ihre Mutter nahm sie hoch und schaukelte sie auf ihrem Arm hin und her. „Ich vergebe dir, Ann, aber", und bei diesen Worten kamen Tränen in ihre Augen, „Ich glaube, dass du recht hast und Daisy wirklich stirbt. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber es ist mir heute morgen deutlich geworden, als ich zu ihr ging. Oh, Ann, es tut mir auch leid, was ich getan habe."
Schnell liefen Annithy und Doreen zu der weinenden Frau. Ann nahm sie in die Arme und Doreen nahm ihr das Kind ab. „Das war mir doch die ganze Zeit bewusst, Mrs Stanley. Ich bin Ihnen nicht böse."
„Danke."
Annithy gab ihr ein Taschentuch und Mrs Stanley wischte sich ihre Tränen weg. „Wie geht es Daisy heute?"
„So wie gestern. Ihr Zustand ist unverändert."
„Dürfen wir raufgehen", fragte Doreen.
„Ja, geht nur. Karen ist gerade bei ihr und ich glaube es gehen selbst ihr schon gleich alle Geschichten aus, die sie ihr erzählen kann."
Annithy schmunzelte. „Dann wollen wir sie mal erlösen. Komm Dorry."
Doreen reichte das Kind wieder seiner Mutter und folgte Ann die Treppen nach oben und in das Krankenzimmer.
„Der Flur ist ziemlich kahl findest du nicht, Ann?", flüsterte Doreen.
„Ja, das wollte ich auch noch mit euch besprechen. Ich glaube Mr Stanley hat alles, was dieses Haus einmal geschmückt hat einfach zerstört."
Doreen runzelte die Stirn. „Wie grausam, findest du nicht? So etwas ist doch kein Ort wo man gerne aufwachsen würde."
„Mhmm, darüber denken wir aber später nach, komm jetzt." Annithy zog Doreen hinter sich her. Sie klopfte an die Zimmertür und Karen rief sie herein. Ihre Augen leuchteten als sie Ann und Doreen sah. „Gut, dass ihr kommt. Mein Mund ist schon ganz trocken. Ich habe noch nie so viel geredet."
Alle vier lachten.
Daisy legte ihrer Schwester eine Hand auf den Arm. „Danke." Man konnte sie kaum hören, doch ihre Augen sprachen für sich. Karen strahlte noch mehr. Sie sprang auf und drückte die Hand ihrer großen Schwester. „Gute Besserung, Daisy. Heute Abend komme ich wieder."
Kaum war die Tür hinter ihr zu sagte Doreen: „Die Kleine wäre ein perfekter Hofnarr, findet ihr nicht auch?"
Daisy lachte. „Sie ist unser Hofnarr."
Annithy und Doreen blieben so lange bei Daisy, bis diese schlafen musste. Dann machten sie sich auf den Heimweg und überlegten noch, wie sie ein bisschen Farbe in den dunklen Hausflur, der Stanleys bekommen könnten.
In den folgenden Tagen kamen Doreen, Olivia, Mary, David, Jo und Annithy täglich bei Daisy zu Besuch. Wenn auch nicht alle gleichzeitig. Der Kranken taten diese Besuche unglaublich gut. Sie wurde viel heiterer und der fiebrige Ausdruck wich immer mehr einem gesunden fröhlichen Strahlen. Jeden Tag schloss Annithy die Familie Stanley, und vor allem Daisy, in ihre Gebete mit ein und war guter Dinge, dass Daisy es schaffen könnte wieder gesund zu werden.
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