Kapitel 24
Leicht, wie eine Feder schwebte Annithy durch die nächsten Tage. Es war ihr, als wäre eine Tonnenschwere Last von ihr gefallen und sie konnte wieder frei atmen. Jo und sie verabredeten sich zum Ausreiten und für Ann war das genau das was sie jetzt brauchte. Dark Shadow und Amber liefen leichtfüßig den Weg zum Strand hinunter und ließen sich von Annithy und Jo antreiben, bis sie nur so dahinflogen. Annithy kam es fast so vor, als würden sie und Amber zusammenschmelzen und über dem Boden schweben. Die Mähne der Stute flatterte im Wind und ihre Hufe stoben das flache Wasser auf. Annithy musste unwillkürlich lächeln und schloss die Augen. In diesem Moment fühlte sie sich frei und glücklich. Sie hatte Jo einmal versprochen, dass sie versuchen würde es zu sein und jetzt war es so.
Ungefähr eine Woche später lud Jo Olivia, Doreen, Mary, Dave und Annithy zu sich ein. Es sei ganz wichtig und dringend, dass sie kamen, sagte er nur. Annithy zerbrach sich den ganzen Tag den Kopf darüber, was er ihnen sagen wollte.
Sie war die letzte, die kam und als sie ihre Freunde sah merkte sie, dass diese auch, wie auf einem Teppich aus Nägeln saßen.
„Jetzt erzähl uns, Jo, warum wir heute unbedingt zu dir kommen sollten", bat Mary, kaum, dass Annithy alle begrüßt hatte.
Jo ließ sich nicht lange bitten und rief: „Ich bin wieder gesund, Leute!" Seine Augen strahlten.
„Was?" Überwältigt starrten die Mädchen ihn an.
„Gott sei Dank", rief David hingegen und umarmte seinen Freund.
„Seit wann und woher weißt du das?", fragte Mary.
„Der Arzt hat das gesagt. Er sagt es sei ein Wunder."
Annithy lachte: „Es ist ein Wunder."
„Gott hat unsere Gebete erhört." Doreen lachte jetzt auch befreit und es war schwer zu sagen wessen Augen am meisten strahlten.
„Wir müssen ein Dankgebet machen", sagte Olivia und kniete sofort nieder. Die anderen folgten ihrem Beispiel und dann liefen Tränen der Freude und Worte des Dankes flogen dem Himmel entgegen.
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Von nun an schien es Ann, als wäre alles perfekt. Der Schatten, des Todes war gewichen, aber jedes Mal, wenn sie an Vater dachte, kam er wieder. Manchmal ganz dunkel und schwer, als wolle er Annithy einhüllen, gefangen nehmen, nie wieder loslassen. Die Menschen in ihrer Umgebung merkten es immer sofort, wenn sie kurz davor war in Tränen auszubrechen und lenkten sie so gut es ging ab. Aber nicht alle. Jemand, der sie nicht liebte nutzte diese Wunde aus, wühlte darin herum und schien sie mit aller Macht größer machen zu wollen, als sie es schon war.
Carol Lewis holte Tiffiny und Ann eines Tages ein, als sie gerade zur nächsten Vorlesung weiterwollten. Annithys Herz war schwer und Tiffiny gab sich alle Mühe sie aufzuheitern.
„Annithy, Tiffiny, huhu!" Unwillkürlich musste Ann beim klang dieser Stimme die Augen verdrehen.
Tiffiny lachte und sie drehten sich zu Carol um. „Können wir dir helfen, Carol?"
Etwas aus der Puste kam Carol zum Stehen. „Oh, nein", schnaufte sie, „Ich habe eine Nachricht für dich, liebste Ann."
Misstrauisch warfen Ann und Tiffiny sich einen schnellen Blick zu. Liebste Ann! Noch nie hatte Carol sie Ann genannt. Irgendetwas war da faul.
„Was für eine Nachricht?"
Carol schwenkte ein Zeitungsblatt vor Annithys Nase. „Ich bin sicher, dass du keine Zeitung liest und da ich mir sicher bin, dass Onkel Alec dir hiervon nichts erzählen wird, muss ich es tun. So schwer es mir auch fällt."
Was hat sie vor? Irgendetwas schreckliches muss geschehen sein. Etwas mit Vater und sie will diejenige sein, die es mir sagt, um mein Gesicht zu sehen und um mich zu verletzten.
„Jetzt rede schon, Carol", Tiffiny wurde ungeduldig, „Sonst platzt du gleich ja noch."
„Haltet euch fest - besonders du, liebe Ann."
„Jetzt hör auf hier so lange Vorreden zu halten. Komm zum Punkt." Tiffiny schien selbst nervös geworden zu sein und knetete ihre Hände.
„Also... Es geht – wie ihr euch sicher denken könnt – um den Bürgerkrieg..." Sie machte eine melodramatische Pause und sah von einer zur anderen und schwenkte dann wieder die Zeitung. „Ich mache es kurz. Kurz und schmerzlos: 45 000 tote."
Annithys Kinnlade fiel herunter und Tiffiny schnappte erschrocken nach Luft. Instinktiv griffen sie nach der Hand der Anderen.
„Wo?"
„Gettysburg. Sie haben sogar einige Namen der gefallen Helden – wie sie es sagen – in der Zeitung gedruckt. Der Name deines Vaters ist leider auch dabei, liebste Ann."
Annithy riss ihr die Zeitung aus der Hand, doch Tiffiny nahm diese ihr sofort ab und riss diese in tausend Stücke.
„Was machst du da?!", riefen Ann und Carol wie aus einem Mund.
„Das ist eine Lüge, Carol Lewis! Gettysburg wurde schon im Juli zerstört. Die 45 000 tote stimmen, aber der Rest nicht. Nie standen Namen in der Zeitung von den Opfern. Den Angehörigen wird es immer persönlich mitgeteilt."
Tiffinys wütende Stimme hatte Aufmerksamkeit, der im Flur stehenden, Studenten auf sie gerichtet. Viele Köpfe drehten sich zu ihnen um doch die drei merkten es nicht. Annithy legte ihre Hände auf Carols Schultern und kam mit ihrem Gesicht ganz nah an das Ihrige. Ihre Augen brannten vor zurückgehaltenen Tränen.
„Wie kannst du es wagen, Carol Lewis, so etwas zu behaupten?" Sie schüttelte sie. „Hast du überhaupt ein Herz? Du hast doch keine Ahnung was Liebe und Leid sind. Du bist wirklich dumm, wenn du so etwas lustig und amüsant findest. Ich könnte dich in der Luft zerreißen, weißt du das?"
Sie stieß sie von sich und Carol verlor fast das Gleichgewicht. Wütend über ihre Niederlage schrie sie über den ganzen Flur. „Dein Vater wird als ein verbitterter Stein nach Hause kommen und dich nicht mehr lieben können. Das sage ich dir, Annithy Horton."
„Tja, da irrst du dich. Da irrst du dich gewaltig." Annithy blieb trotzt ihrer unbändigen Wut ruhig, auch wenn ihre Stimme leicht zitterte. „Erstens können Menschen nicht zu Steinen werden und zweitens wird er mich immer lieben."
„Wie naiv du doch bist, Annithy Horton! Im Krieg ist nichts unmöglich."
„Glaub was du willst, Carol. Ich glaube an das Gute." Sie drehte sich schwungvoll um und stiefelte davon. Tiffiny folgte ihr.
„Was für ein grässlicher Mensch", schimpfte Tiffy. „Glaub ihr ja kein Wort Ann, hörst du?"
Annithy wollte am liebsten davonlaufen und sich ausheulen, aber sie war zu stolz, um Tränen zu zeigen, zu wütend um irgendetwas eigenständig zu tun.
Tiffiny fuhr fort. „Dein Vater wird dich mit seiner ganzen Liebe überschütten. Jawohl. Nach all diesen Gräueltaten, die er mit ansehen muss, wird er sehr viel Liebe brauchen und sie nicht nur bekommen, sondern auch erwidern. Vergiss Carol – dieses Biest."
„Sprich nicht so." Annithys Wut war etwas abgeflaut und sie konnte wieder denken und sprechen. „Wir müssen nett zu ihr sein."
„Nett?" Wie angewurzelt, blieb Tiffiny stehen. „Sie hasst dich Ann. Das sieht selbst ein blinder mit einem Krückstock."
„Das mag sein, aber Jesus sagt: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut denen gutes, die euch hassen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen. Mir fällt es ja auch schwer sie gern zu haben und ich bin wirklich böse auf sie, aber wir wissen nicht, was sie zu so etwas veranlasst hat. Wir müssen für sie beten, Tiffy."
„Und du meinst, dass sie sich dann verändert und ihr beste Freundinnen werdet?"
Annithy ignorierte den zynischen Unterton in der Stimme ihrer Freundin. „Weiß man's? Gottes Wege sind unergründlich."
„Ich kann das nicht glauben, Ann. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass Carol sich so drastisch verändern sollte."
Sie waren bei ihrem Raum angekommen und setzten sich auf ihre Plätze. Annithy beugte sich zu ihrer Freundin rüber und flüsterte ihr zu: „Sie selbst kann sich nicht verändern, aber Gott kann sie verändern."
„Ich bete, dass du recht behältst." Tiffiny zwinkerte ihr zu und setzte sich dann aufmerksam auf, um dem Unterricht zu folgen.
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In den darauffolgenden Wochen gingen Annithy und Tiffy Carol aus dem Weg. Natürlich sahen sie sich manchmal auf dem Flur, aber dann redeten sie nie miteinander. Annithy nickte Carol dann immer lächelnd zur Begrüßung zu, aber diese schaute immer weg.
„Sie hat jetzt bestimmt Angst vor dir, Ann. Sie denkt bestimmt du freust dich darüber sie gleich zu zerreißen", lachte Tiffiny einmal nach so einer Begegnung. Annithy tat es inzwischen leid das gesagt zu haben, aber sie wusste, dass es keinen Zweck hatte sich bei Carol zu entschuldigen. Sie würde eine riesen Tragödie daraus machen. Außerdem würde sie wollen, dass sie sich noch einmal vor Tante Beth und ihrer Mutter bei ihr entschuldigte und würde die Geschichte noch mal ganz neu erfinden. Zu ihren Gunsten versteht sich.
So verging der Oktober und es wurde immer kälter. Nicht nur draußen, sondern auch zwischen Annithy, Tiffiny und Carol. Ann und Tiffy gaben sich alle Mühe nett zu sein, doch ihre Versuche prallten an Carols Hartherzigkeit ab. Annithy erhielt Anfang November wieder eine Einladung, um nach Forstcity zu kommen. Dieses Mal stimmte ihre Tante sofort zu. Den Jahreswechsel würde sie mit ihren Freunden in ihrer geliebten Heimatstadt verbringen.
An einem dunklen, kalten Novemberabend besuchten Alec und Beth eine Freundin, die Geburtstag hatte. Annithy hatte es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Das Feuer knisterte im Kamin. Sie saß auf dem Sessel, den sie nah an das Feuer herangeschoben hatte. Eine dampfende Tasse, mit heißer Schokolade und ein Teller, mit einem Stück Kuchen standen vor ihr auf dem Tisch. Sie hatte die Briefe ihrer Eltern und das Familienbild hervorgeholt und schwelgte in guten Erinnerungen.
Draußen war es kalt und es würde wohl jeden Moment anfangen zu Regnen. Sie warf einen wehmütigen Blick auf den Verlobungsring ihrer Mutter, den ihr Vater ihr geschenkt hatte. Am Anfang ihrer Krankheit hatte ihre Mutter ihr einmal erzählt, wie sie ihren Vater kennengelernt hatte. Auch den Tag ihres Heiratsantrages hatte sie erwähnt. Annithy konnte sich noch genau daran erinnern, wie in Mutters Augen Tränen geglänzt hatten.
Sie nippte an ihrer heißen Schokolade und las sich Vaters Briefe noch einmal durch. Dabei hatte sie diese schon auswendig im Kopf und hätte sie auch im Schlaf wiedergeben können. Lange hatte sie nichts mehr von ihm gehört und sie fragte sich, ob er ihren zweiten Brief überhaupt erhalten hatte. Würde er ihr je wieder schreiben?
Sie schob sich gerade die Gabel mit einem Stück Kuchen in den Mund, als es klopfte. Sie stöhnte auf, wischte sich schnell den Mund ab und erhob sich. Kauend glättete sie ihr Kleid und ging zur Tür. Wieder klopfte es. Sie schluckte den Bissen hinunter und öffnete dann die Tür und wünschte sich sofort sie hätte es nicht getan.
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