Kapitel 19
Annithy blickte aufs Meer hinaus. Sie musste ihren Kopf irgendwie frei bekommen. Doch es nützte nichts. Ihre Gedanken drehten sich die ganze Zeit um ein und dasselbe. Es musste doch irgendetwas geben, um Jo zu helfen oder um seinen Tod hinauszuzögern. Er konnte jetzt nicht sterben. Gott konnte so etwas doch nicht zulassen, oder doch? So hing sie ihren Gedanken nach. Da hörte sie Schritte im weichen Sand und drehte sich um. Olivia kam auf sie zu. Ihr helles Kleid wehte in der Meeresbrise.
„Ich dachte mir das du hier bist." Sie setzte sich zu ihr.
„Hast du mich gesucht?"
Sie nickte. „Du denkst an Jos Krankheit nicht wahr?"
„Ja."
Olivia seufzte. „Ich auch. Ich konnte gestern lange nicht einschlafen, weil ich die ganze Zeit daran denken musste." Sie schwieg.
Endlich sagte Annithy: „Man muss doch irgendetwas tun können. Irgendwas." Sie fühlte sich so hilflos wie schon lange nicht mehr.
„Das denk ich auch die ganze Zeit, nur mir fällt nichts ein."
Annithys Gefühl der Hilflosigkeit verwandelte sich in Wut. Gott, du kannst mir doch nicht wieder einen Menschen schicken der mir so wichtig wird und ihn mir dann sofort wieder nehmen. Das darfst du nicht, hörst du? Ganz unerwartet begann sie heftig zu weinen. Sie hatte die ganze Zeit versucht es zu verdrängen, doch jetzt übermannten sie ihre Gefühle. Olivia nahm sie in ihre Arme und die beiden weinten gemeinsam.
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Aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen Monate. Die Klausuren zum Ende des Collegejahres standen an. Annithy hatte noch nichts von ihrem Vater gehört, doch sie versuchte sich deshalb keine Gedanken zu machen. Sie wusste, wie lange es gedauert hatte bis ihre Briefe ihn erreichten und umgekehrt. Auch der Zustand von Jo änderte sich nicht.
Eines Tages, Annithy lernte gerade für eine wichtige Prüfung, stand er unvermittelt vor der Haustür. „Hast du Lust auszureiten?" Er lehnte sich gegen den Türrahmen.
„Ich muss lernen." Sie hasste es das zu sagen. Wie gerne würde sie jetzt auf Ambers Rücken am Strand entlang galoppieren.
Jo verdrehte die Augen. „Du lernst nur noch, Ithy. Komm schon."
Sie überlegte. Einerseits musste sie dringend lernen, aber anderseits wollte sie nach draußen in die Sonne und ihren Kopf freibekommen. „Ok, aber nicht lange."
Jos Augen leuchteten. „Klar."
Sie sattelten Amber und Annithy schwang sich in den Sattel. Gemeinsam ritten sie vom Hof. Ihre Anspannung und Angst vor den Prüfungen viel immer mehr von ihr ab und als sie die Pferde am äußersten Rand der steilen Klippe am Strand zum Stehen brachten und sie Sonne das Meer zum Funkeln und glitzern brachte, musste sie unwillkürlich lächeln.
„Und? War doch eine gute Idee oder?"
Annithy sah zu Jo rüber. „Ja, das war eine gute Idee, danke."
Sie ließ ihr Gesicht von der Sonne wärmen. Als sie ihre Augen öffnete sah sie zu Jo und bemerkte das er sie beobachtete. „Was ist?"
Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Glücklich steht dir."
Annithys Herz wurde warm vor Rührung. Jo war wirklich der seltsamste Junge, dem sie je begegnet war. „Sehe ich sonst so traurig aus?", fragte sie leise.
„Eher angespannt. Du machst dir immer um irgendetwas Sorgen."
Annithy wandte den Blick wieder aufs Meer. „Vielleicht hast du recht."
Er lächelte. „Bestimmt."
„Machst du dir denn nie sorgen?"
Er folgte ihrem Blick und wischte sich eine Strähne aus der Stirn. „Weißt du, manchmal, da habe ich das Gefühl, an dem Gedanken gleich sterben zu können, zu ersticken. Um ehrlich zu sein macht mich das manchmal fast Wahnsinnig." Er schwieg und es sah so aus als würde er nach den richtigen Worten suchen. Annithy wurde plötzlich klar wie schwer Jo jetzt zu tragen hatte. Und sie? Sie war ihm keine gute Stütze. Er war immer da gewesen, um sie zu trösten und sie heulte sich sogar jetzt noch bei ihm aus, wo es ihm viel schlechter ging als ihr. Sie bekam ein schlechtes Gewissen.
Jo fuhr fort: „Dann bete ich immer und versuche meine Sorgen auf Gott zu werfen, so wie es in der Bibel steht."
Annithy seufzte Sehnsüchtig. „Ich wünschte ich könnte das auch. Ich bitte Gott immer, dass er mich erhört, aber ich verspüre dabei keinen Frieden."
„Das liegt daran, dass du alles selber klären willst, Ithy. Du hast ein großes Gefühl von Verantwortungsbewusstsein. Du schaffst es nicht deine Sorgen einfach loszulassen. Du musst sie einfach Gott übergeben und du wirst frei und glücklich."
„Frei und glücklich", hauchte Annithy leise. Wie gerne wollte sie das sein.
Jo lehnte sich etwas vor und sah sie eindringlich an. „Versuchs doch einfach."
„Ich werde mir Mühe geben."
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Die Prüfungen kamen und Annithy konnte in den Nächten vorher nicht schlafen. Mit aller Kraft versuchte sie ihre Müdigkeit und Nervosität vor Tante Beth zu verbergen. Die Zeit der Auswertung schien sich ins unermessliche zu ziehen, doch endlich kamen die Ergebnisse. Tiffiny und sie standen vor dem schwarzen Brett, um einen Blick auf die Liste derer zu werfen, die bestanden hatten.
„Da!", Tiffiny tippte auf die Liste, „Hier stehst du. Du hast bestanden Ann!"
Würden nicht so viele andere ihrer Mitstudenten um sie herum stehen hätte Annithy Tiffinys Hände genommen, währe herumgehüpft und hatte sich die Freude aus dem Leib geschrien. Als Tiffiny ihren Namen fand strahlten ihre Augen beinah so hell wie die Sonne. Sie ergriff Annithys Hand und zog sie vom Brett weg. Annithy hätte nie gedacht Tiffiny einmal sprachlos zu sehen, aber genau das geschah. Freudentränen rannen über Tiffys Gesicht und dann konnte Ann ihre eigenen auch nicht zurückhalten.
Eine halbe Stunde später versammelten sich alle Studenten und Professoren in der großen Aula. Es gab zwei Stipendien und noch einige Preise zu vergeben. Studenten wurden für ihren Fleiß oder für das beste Sozialverhalten – was Ann und Tiffy ein bisschen „schräg" fanden, wie Tiffiny sich ausdrückte- ausgezeichnet. Und dann kamen sie zu den Stipendien.
„Das erste Stipendium", hallte die Stimme von Direktor Culter durch den großen Raum, „ist für das zweite Collegejahr, also für die diesjährigen Erstsemester, gedacht." Er legte eine dramatische Pause ein. Niemand schien es zu wagen zu atmen. „Dieses Stipendium geht an Miss Annithy Horton!"
Wie vom Donner gerührt starrte Annithy nach vorne. Sie hatte als Beste der Erstsemester die Prüfungen bestanden! Ein tosender Applaus brach los und Tiffiny fiel ihr glückwünschend und lachend vor Freude um den Hals. „Du musst nach vorne gehen, Ann."
Doch Annithy konnte nicht. Ihre Füße fühlten sich an als hingen Bleigewichte daran. Tiffiny drückte sie hoch und gab ihr einen leichten Schubs. Um nicht zu fallen, begann Annithy sich aus ihrer Reihe zu schieben. Die Mitstudenten, an denen sie vorbeikam, beglückwünschten sie. Sich strich ihre feuchten Hände an dem Rock ihres grünen Kleides ab. Wie in einem Traum ging sie auf die Bühne zu und wurde zu den drei Treppenstufen gewinkt, die hinaufführten.
Der Direktor strahlte sie stolz an. Er schüttelte ihre Hand, sagte etwas zu ihr, was nicht durch den Schleier ihrer Freude und Überraschung drang und wandte sich dann zum Publikum. Anschließend überreichte er ihr dann das Blatt Papier, das ihr bestätigte, was da gerade vor sich ging. Noch mehr Applaus brandete los und einige Pfiffen durch die Zähne.
Annithy sah in die Menge. Alle schienen sich für sie zu freuen nur ein Augenpaar funkelte sie Zorn- und Hasserfüllt an, sodass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Schnell wandte sie den Blick von Carol Lewis ab und straffte tapfer die Schultern. Sie schluckte und blinzelte wie wild gegen die Tränen der Freude und durfte dann zurück zu ihrem Platz.
Kaum hatte sie sich gesetzt riss Tiffiny ihr das Blatt aus der Hand und überflog es mit ihren Augen. Kopfschüttelnd gab sie es Ann zurück.
„Du bist so intelligent. Vater wird mich fragen, warum nicht ich das Stipendium erworben habe." Sie seufzte, aber dann lachte sie wieder. „Du hast es mehr verdient als ich, liebste Ann."
Sie bekamen gar nicht mit, wie der andere Student sein Stipendium überreicht bekam. Tiffiny umarmte Annithy wieder und hielt den Rest der Rede ihres Vaters ihre Hand.
Wie beflügelt steuerten die beiden später auf den Ausgang zu und liefen die Stufen runter. Bei ihrem Einspänner drehte Ann sich noch einmal um, um einen Blick auf das College zu werfen.
„Nach den Ferien kommen wir wieder und dann beginnt unser letztes Jahr an diesem herrlich schönen College." Annithy legte eine theatralische Sehnsucht in ihre Stimme und seufzte gespielt.
Tiffiny boxte sie gegen die Rippen. „Hör auf. Unser erstes Jahr ist gerade vorbei und du redest schon vom letzten. Ich fühle mich schon richtig alt."
Annithy lachte, stellte sich auf Zehenspitzen um einen Blick von oben auf Tiffinys Kopf zu werfen. „Tatsächlich! Hier ist ja schon ein graues Haar", lachte sie.
„Du bist blöd." Doch dann lachte auch Tiffiny. „Besuch mich in den Ferien, ja?"
„Klar und wenn du Großstadtgöre dich traust, kannst du auch mich besuchen."
„Worauf du dich verlassen kannst." Sie umarmten einander zum Abschied und Annithy fuhr zurück nach Wimbledon.
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