Kapitel 1
1862
Annithy Hortons Magen zog sich vor Angst zusammen. Ihre Hände sanken mit dem Brief in ihren Schoß. Ihr war Übel und es fühlte sich an als würde jemand ein Schwert in ihr Herz jagen, hinausziehen und immer wieder hineinstoßen. Das darf nicht wahr sein. Oh Gott, lass das nicht wahr sein. Alles, nur das nicht! Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen und sie schloss sie schnell. Doch der Schmerz blieb. Die Stimme ihrer Haushälterin drang wie aus weiter Ferne in ihr Ohr und dann hörte sie nichts mehr.
„Anni, wach auf! Hörst du mich?" Ihr Vater tätschelte leicht ihre Wangen und sie öffnete wieder ihre Augen. Verwirrt sah Annithy um sich. Sie lag im Wohnzimmer auf dem großen roten Sofa. Vor ihr standen ihr Vater und Miss Appelby, die Haushälterin, mit bestürzten und erleichterten Gesichtern.
„Kind, du weißt gar nicht was du uns für einen Schrecken eingejagt hast." Liebevoll strich Miss Appelby über ihr Kastanienbraunes Haar.
„Weißt du wieder was geschehen ist?", fragte ihr Vater besorgt.
Annithy erinnerte sich. Der Brief. Dieser schreckliche Brief vor dem sie so Angst gehabt hatte. Der Brief der sie und ihren Vater dazu zwang sich zu trennen. Für den Krieg. Vielleicht für immer.
Sie griff nach seiner Hand. „Du wirst doch hierbleiben, Vater, oder? Du wirst nicht gehen." Ihre Stimme zitterte.
Schmerzerfüllt blickte Vater sie an. „Ich werde müssen. Ende des Monats werde ich fahren." Eine Träne lief über ihre Wange. „Und was ist mit mir? Wo soll ich dann hin?"
„Ich werde Beths schreiben und sie fragen ob sie dich aufnehmen kann."
Annithy stöhnte. „Aber Tante Beth wohnt so weit weg. Ich will doch bei meinen Freunden bleiben und was ist mit meinem Studium?" Sie fühlte sich Elend. Sie hatte ein Stipendium gewonnen und wollte Lehramt studieren. Ihr größter Traum war es in ihrer Heimatstadt Forstcity zu unterrichten.
„Es tut mir leid für dich Ann, aber es sieht so aus als müsstest du deine Pläne verschieben."
Annithy stöhnte nochmals.
„Schäm dich, Kind", schollt jetzt die Haushälterin, „Dein Vater zieht an die Front und du denkst nur daran zu studieren."
Annithy wurde rot und noch mehr Tränen liefen ihr die Wange hinunter. „Tut mir leid. Ich wollte nicht so egoistisch sein." Sie schniefte.
Liebevoll nahm ihr Vater sie in die Arme. „Schon gut. Ich bin sicher, dass es dir bei Tante Beth gefallen wird. Bestimmt werdet ihr euch schnell miteinander anfreunden."
Annithy zwang sich zu einem Lächeln. „Ich hoffe es."
„Wurden eure Väter in den Krieg einberufen?" Annithy saß mit ihren Freundinnen, Jane Caldwell und Priscilla Andrews, auf einer Picknickdecke auf einer Lichtung im Wald. Die Sonne schien auf sie herunter und die Blätter der Bäume leuchteten in den schönsten Grüntönen. Eine leichte Brise wehte und das Zwitschern der Vögel erfüllte die Luft. Ihre Freundinnen schüttelten ihre Köpfe.
„Nein, Gott sein Dank nicht, aber ich habe gehört, dass Mr Elliot für neun Monate zum Ende des Monats einberufen wurde." Jane strich sich eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus dem Gesicht.
Annithy seufzte. „Mein Vater auch, nur ohne die neun Monate. Gestern kam der Brief. Er wird wohl anders als die anderen bis zum Ende des Krieges bleiben müssen, als Strafe, dass er sich als ehemaliger Soldat nicht freiwillig gemeldet hat oder so."
Priscilla nahm Annithy tröstend in die Arme. „Das tut mir leid, Ann."
„Danke."
Sie schwiegen eine Zeit lang. Annithy lies ihren Blick über die Lichtung schweifen und kniff die Augen zusammen, als sie die Baumkronen musterte. Ein großer Mäusebussard zog über ihnen immer enger seine Kreise, schraubte sich tiefer und tiefer bis er aus ihrem Blickfeld verschwand. So wie sie bald aus dem Blickfeld ihrer Freundinnen verschwinden musste. Und niemand wusste wie lange.
Schließlich unterbrach sie die Stille. "Ich frag mich, wie es sein wird, wenn er weg ist. Leider müsst ihr dann auch in Birchview einkaufen gehen."
Priscillas Karamellbraune Augen weiteten sich. „Moment mal, du bleibst nicht hier?"
„Nein, ich werde voraussichtlich zu Vaters Schwester gehen. Sie und ihr Mann wohnen in Wimbledon." Annithy hasste es diese Worte aussprechen zu müssen.
„Aber... dann verlässt du ja Forstcity!", rief Jane entsetzt.
„Sag bloß." Selbst für Annithy klang ihre Stimme zu ironisch und zu genervt.
„Oh, Entschuldige. Du hast es schon schwer genug wir sollten dich nicht so bemitleiden, sondern trösten und ablenken."
Annithy drückte dankbar die Hand ihrer Freundin. „Du musst dich nicht entschuldigen Jane. Die Situation ist neu für uns. Ich werde zu Tante Beth und Onkel Alec ziehen und dort bleiben bis Vater zurückkommt. Mein Studium muss leider auch warten." Warum musste immer alles so schwer und kompliziert in ihrem Leben sein?
„Aber dann verfällt doch dein Stipendium! Du standst doch praktisch mit einem Bein schon im College.", protestierte Priscilla.
Annithy zuckte nur mit den Schultern.
„Priss, du hast alles nur noch schlimmer gemacht", flüsterte Jane.
Priscilla schlug sich die Hand vor den Mund. „Ach Ann, tut mir leid. Ich bin so blöd."
„Schon gut Prissy. Ich bin dir nicht Böse." Annithy zwang sich zu einem Lächeln; das Erste nachdem der Verhängnisvolle Brief angekommen war.
„Kannst du nicht mit Miss Appelby in eurem Haus bleiben? Du weißt doch wie man den Laden führt und mein Vater könnte euch nach Birchview mit nehmen zum Großeinkauf."
Annithy schüttelte nur den Kopf. Alles in ihr wünschte sich, dass sie begeistert aufspringen und loslaufen könnte, um ihrem Vater diesen Vorschlag zu unterbreiten, aber sie wusste, dass es hoffnungslos war. „ Vater will nicht das die Verantwortung des ganzen Ladens auf meinen Schultern liegt. Ich soll bei Tante Beth alles Lernen was eine Frau lernen muss. Mutter konnte mir ja nicht allzu viel beibringen." Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Wenn Mutter doch nie gestorben wäre! Dann wäre sie nicht so einsam. Dann würde ihr Herz nicht immer so schwer sein. Dann müsste sie jetzt nicht weg.
„Aber, Miss Appelby hat dir doch ein wenig kochen beigebracht und Handarbeiten ebenfalls." Jane konnte es sichtlich nicht so recht glauben das Annithy gehen sollte.
„Gib dir keine Mühe, Jane. Tante Beth wollte mich schon damals zu sich nehmen als Mutter starb und wenn sie jetzt erfährt das Vater in den Krieg muss wird sie höchstpersönlich kommen um mich zu holen, wenn es sein muss." Annithy seufzte, musste aber auch unwillkürlich lächeln, da sie ihre Tante als ernste und strenge Frau in Erinnerung hatte. Eine solche Tat von ihr wäre sicher amüsant zu beobachten. „Ich muss damit klarkommen."
„Hast du deine Tante eigentlich jemals gesehen?" Jane schnippte eine Fluse von ihrem Kleid.
„Ja, auf den Beerdigungen von Robert und Mutter war sie und danach wollte sie mich immer zu sich nehmen, aber ich bin nie mitgegangen."
„Wir werden dir so oft schreiben wie es geht", versicherte Jane.
„Und du wirst uns zu Weihnachten besuchen, ok?"
„Abgemacht." Annithy lächelte.
Wie lieb ihre Freundinnen doch waren. Sie versuchten sie zu ermutigen und zu trösten. Schon jetzt vermisste sie sie.
„Danke."
„Wofür?"
„Für eure Freundschaft und dass ihr immer für mich da seid."
Priscilla lächelte verschmitzt. „Ist doch Ehrensache."
Die drei legten sich auf die Decke und starrten rauf zum Himmel. Ein paar Wolken zogen vorbei. Die drei Mädchen interpretierten die verrücktesten Dinge in sie hinein.
Als eine Schmetterlingswolke vorüber segelte hauchte Jane: „Wie schön!"
„Ich wünschte ich könnte wie so ein Schmetterling davonfliegen. Von all den Problemen des Alltags." Priscillas Stimme Klang Sehnsüchtig.
„Und ich erst", seufzte Annithy.
Priscilla schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ich bin schon wieder ins Fettnäpfchen getreten, nicht wahr?"
Annithy lachte. Sie wunderte sich selbst darüber, aber sie konnte nicht anders. Es war befreiend und wohltuend. Die Anspannung der letzten Stunden fiel von ihr ab. Ihre Freundinnen stiegen in ihr Lachen mit ein.
„Ich werde euch beide schrecklich vermissen", brachte sie schließlich hervor.
„Wir dich auch."
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