86. Kapitel
Ich hatte mir in dem Jahr, das wir uns nicht gesehen hatten, oft vorgestellt, wie es wohl sein würde, ihn wieder zu treffen. Wie würden wir uns entgegen treten? Wie Bekannte? Wie Freunde? Oder gar wie Fremde? Der Gedanke allein gefiel mir nicht besonders. Dass die Zeit, die wir miteinander, sowohl als Freunde als auch als Paar zusammen verbracht hatten, umsonst gewesen sein könnte.
Ich wollte und konnte ihn als Mensch nicht aus meinem Leben streichen. Das war eine Erkenntnis, die ich in den letzten zwölf Monaten gemacht hatte. Es war die erste auf einer langen Liste. Die zweite wichtige Erkenntnis war, dass ich immer Gefühle für ihn haben würde. Egal, ob wir uns das nächste Mal als Freunde oder Fremde begegnen würden.
Diese zweite Erkenntnis war es, die mir mein Leben ungemein erschwerte. Ich schlief immer schlechter und ich fragte mich immer öfter, wann und wie ich ihn wohl wiedersehen würde. Würde er sich noch einmal mit mir treffen wollen, wenn ich ihn kontaktieren würde? Und wie konnte ich ihn überhaupt kontaktieren? Sämtliche Telefonnummern von Suji, Yoongi und den Jungs hatte ich nicht mehr, seit mein Handy kaputt gegangen war. Ich hatte sie auch nie irgendwo notiert. Ich war so naiv gewesen zu denken, dass, wenn ich ihn traf, dann würde ich nie mehr den Kontakt zu ihm verlieren. Nicht so wie in unserer Schulzeit. Die Entscheidung alles dem Schicksal zu überlassen, war hirnverbrannt gewesen. Ich hätte die Nummer irgendwo notieren sollen, auch wenn ich keinen Blick mehr darauf geworfen hätte. Selbst wenn nur eine ein prozentige Chance bestand, dass ich es irgendwann doch tun würde.
Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich, wenn ich seine Telefonnummer hatte, überhaupt den Mut zusammenbringen konnte, ihn erneut zu kontaktieren. Ich würde nicht wissen, was ich sagen sollte.
"Ist das in Ordnung?"
Die Frage meiner Chefin kam unerwartet.
"Oder haben Sie etwas dagegen?", erkundigte sie sich und obwohl ich liebend gern genickt hätte, schüttelte ich den Kopf. Ich konnte ihr nicht so vor den Kopf stoßen. Nicht nach allem, was sie für mich getan hatte. Nach den Zeitungsartikeln wäre es ein leichtes für sie gewesen, mich einfach fristlos zu kündigen, aber sie hatte nicht viel auf die Berichte der Presse gegeben. Sie hatte mich angeschaut, einen Augenblick lang überlegt, der sich für mich damals wie eine Ewigkeit anfühlte, und hatte mich angelächelt.
"Machen Sie sich keine Sorgen.", hatte sie gesagt und sich um alles weitere gekümmert. Ich war nicht eine Sekunde lang im Café bedrängt worden, selbst als einige Reporter meine Arbeitsstelle herausgefunden hatten. Keiner von ihnen näherte sich mir auf mehr als zehn Schritte. Meine Chefin erkannte die Unruhestifter, sobald sie in das Café betraten und sorgte dafür, dass sie mir keine Probleme bereiten würden.
Auch ein Jahr später machte sie sich noch Sorgen um mich. Selbst als ich nun mit dem Kopf schüttelte, beobachtete sie mich abschätzend. Ich versuchte mein Lächeln zu vertiefen.
"Ich hab wirklich kein Problem damit. Es läuft sowieso nur im Hintergrund. Ich werde kaum Zeit haben mir die Konferenz anzuschauen."
Mit einem Blick in den Gastraum nickte sie bedächtig. Heute war wirklich mehr los als normalerweise, deswegen glaubte sie meiner Aussage zögernd.
"Es ist nur so, dass viele Leute danach gefragt haben. Gestern war ihr letztes Konzert und heute blicken sie auf ihre Welttournee zurück. Deswegen sind so viele Menschen daran interessiert.", versuchte sie sich zu erklären, aber es gab nichts wofür sie sich vor mir hätte rechtfertigen müssen. Es war ihre Entscheidung und daran konnte ich nichts ändern. Ich war an ihre Entscheidungen gebunden, nicht andersherum. Allein der Fakt, dass sie sich bei mir erkundigte, ob es in Ordnung sei, die Veranstaltung live auf unseren Fernsehbildschirmen auszustrahlen, war mehr als genug in meinen Augen.
Außerdem würde sie mit ihrer Wahl den Livestream nicht zu zeigen sicher ein paar potenzielle Kunden vertreiben. Es war wie sie gesagt hatte. Die Öffentlichkeit hatte ein großes Interesse an den Jungs und ihrer Welttournee und wenn sie die Konferenz hier schauen würden, würden sie auch ein paar Getränke und Snacks kaufen. Je nachdem wie lange die Pressekonferenz dauern würde, würden es auch ein paar Getränke und Snacks mehr sein. Und damit mehr Umsatz.
"Ich könnte es wirklich verstehen, wenn Sie das nicht wollen. Ich würde es absolut nachvollziehen können.", sagte meine Chefin nachdrücklich.
"Wirklich kein Problem.", wiederholte ich noch einmal und drehte mich dann schnellstmöglich wieder zu den Kaffeemaschinen um. Sie sollte nicht sehen, dass es mir sehr wohl Sorgen bereitete. Glücklicherweise hatte sie eine gute Menschenkenntnis und bemerkte, dass ich nicht wirklich darüber reden wollte. Ich nahm mein Schicksal einfach hin. Sie nickte.
"Ich sag Sana Bescheid. Sie wird sich schon darum kümmern." Mit diesen Worten verließ sie die Küche und ich konnte mir endlich über die tränennassen Augen wischen.
Durch das kleine Fenster zwischen Küche und Gastraum konnte ich sehen, wie sie Sana, die gerade einen Tisch bedient hatte, am Arm festhielt, als sie an ihr vorbeihetzen wollte. Sie hob verwirrt eine Augenbraue und unsere Chefin redete kurz auf sie ein. Dann nickte sie und ihr Blick schweifte kurz zur Küche, wo sie mich zurecht vermutete.
Wir hatten uns beide dazu entschieden als Teilzeitkraft im Café zu bleiben, auch wenn wir mittlerweile unseren Abschluss in der Tasche hatten und in Büros arbeiteten. Wir blieben aus Anhänglichkeit. In unserer Studentenzeit hatten wir hier so einiges erlebt. Die Leute, die immer noch hierhin kamen, um für ihre Klausuren zu lernen, erinnerten uns an diese schönen Zeiten. Es war ziemlich nostalgisch den Studenten zuzusehen und sich gleichzeitig zu freuen, dass es uns nie mehr so ergehen würde wie den verzweifelnden Studenten, die ratlos über ihren Notizen brodelten und einen Kaffee nach dem anderen hinunter kippten.
Sana kam schweigend in die Küche und stellte ein Tablett mit leeren Tellern, Gläsern und Tassen auf die Ablage. Ich machte mich wortlos an die Arbeit das Geschirr in die Spülmaschine einzusortieren. Sana spülte die Kaffeekannen und Teebehälter mit einem Schwamm. Einige Minuten arbeiteten wir so stumm nebeneinander her, während unsere Chefin ab und zu Bestellungen aus dem Verkaufsraum zu uns durchgab.
Aber natürlich konnte meine beste Freundin sich irgendwann nicht mehr zurückhalten.
"Du weißt, dass du nicht immer stark sein musst, oder?", sagte sie im Flüsterton. Ich nickte leicht.
"Ich weiß."
Mit einem Mal stellte sie das Geschirr klappernd auf den Tisch. Das Wasser spritze aus dem Spülbecken und die Arbeitsplatte vibrierte flüchtig von der Heftigkeit ihres Ausrasters.
"Dann weiß ich nicht, warum du dich immer so benimmst, als wärst du über alles hinweg.", fuhr sie mich scharf an. Meine Hände fingen augenblicklich an zu zittern. Ich hatte unzählige Male mit ihr darüber geredet und wir waren nie auf einen grünen Zweig gekommen. Zu Beginn hatte sie noch nachsichtig genickt, wenn ich mit ihr über meine gescheiterte Beziehung geredet hatte, aber nach einer Zeit wurde sie aufbrausender.
"Wenn du die ganze Zeit über ihn nachdenkst, warum rufst du ihn nicht endlich an? Verdammt nochmal, so schwer kann das ja wohl nicht sein." Das war ihr erster Ausbruchs von vielen gewesen.
Ich hatte ihr erklärt, dass ich - wie sie ganz genau wusste - seine Nummer nicht mehr auf meinem Smartphone hatte und selbst wenn, würde ich ihn nicht anrufen, weil es nun zu spät war. Sana verdrehte die Augen, verfluchte mich innerlich wahrscheinlich bis zum Gehtnichtmehr und sprach eine Weile nicht mehr darüber, bis sie irgendwann erneut davon anfing. Das ganze Spiel zog sich über Tage, Wochen und Monate hinweg und ich glaubte, dass sie schon bald keine Lust mehr hatte mit mir darüber zu diskutieren, was ich ihrer Meinung nach hätte tun sollen. Ich hätte ihn nur nicht aufgeben sollen.
Ein Blick in den Fernseher sagte mir jedoch, dass ich genau richtig gehandelt hatte. Wann immer ich das Gerät anschaltete, schauten mir sieben strahlende Gesichter entgegen. Zuerst waren sie drei Monate in den USA gewesen. Von dort haben sie ihre Tour gestartet, die sie gestern erfolgreich beendet hatten. Heute würde eine letzte Pressekonferenz stattfinden, die noch einmal auf dieses erfolgreiche Jahr zurückblicken sollte. Ihnen schien es gut zu gehen. Jedenfalls war es das, was sie der Öffentlichkeit immer und immer wieder klar machten und das nicht gerade unglaubwürdig. Ich versuchte hinter ihre Fassaden zu schauen, aber durch einen Bildschirm hindurch ging das schlecht.
"Du weißt warum.", antwortete ich Sana fest und sie schüttelte den Kopf. Wenn ich es näher an mich heran ließ, würde ich nicht mehr aus diesem Todesstrudel an Gefühlen herauskommen.
"Nein, ich weiß es nicht.", gab Sana zu. Sie schnaubte.
"Das sind alles Hirngespinste. Mehr nicht. Du machst dir Sorgen, wo du dir keine Sorgen machen musst. Du bist immer schon einen Schritt zu weit und steigerst dich in alles hinein, ohne wirklich zu wissen was in Wahrheit geschehen würde. Das ist das einzige, was dich davon abhält dich endlich ans Telefon zu hängen und ihn endlich anzurufen, damit ihr endlich alles miteinander klären könnt! So geht das doch nicht weiter!", ratterte sie in einem fort runter.
Ich hatte Sanas Wutrede stumm mit angehört. Ihr Gesicht verfärbte sich rot, je länger sie die Luft anhielt. Dieses Mal entschied ich mich nicht darauf einzugehen, sondern ihr einfach die harten Fakten zu verdeutlichen.
"Ich hab seine Nummer nicht.", sagte ich bloß. Damit sollte sich das alles doch erledigt haben. Mir waren förmlich die Hände gebunden. Das konnte selbst Sana nicht außen vor lassen.
Entgegen meiner Erwartung lächelte sie jedoch schelmisch. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und grinste schief.
"Das Problem lässt sich lösen."
Später stellte sich heraus, dass Sana - dieser kleine Teufel oder Engel, ich war mir noch nicht sicher, wie ich sie nun einstufen sollte - nicht ganz ehrlich zu mir gewesen war. Als mein Handy kaputt gegangen war, hatte sie sich dafür eingesetzt, dass auch meine SD-Karte mit allen Kontaktdaten gerettet werden würde. Natürlich klammheimlich. Weil sie wusste, dass ich ihre Idee nicht gutheißen würde, hatte sie die Nummern notiert und mir kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Sie stand in regem Kontakt mit Suji, die sie einerseits über Yoongi auf dem neuesten Stand und sie andererseits über meinen Zustand auf dem Laufenden hielt.
Suji und Sana waren es, die Yoongi und mich in diesen Monaten ohne Kontakt zueinander, aushorchten und feststellten, dass wir beide auch nach dieser Zwangspause Gefühle füreinander hatten, was ja nur natürlich war. Wir hatten uns schließlich nicht voneinander getrennt, weil es an unseren Gefühlen gemangelt hätte. Es waren die äußeren Umstände gewesen, die uns dazu gebracht hatten. Unsere Leben waren einfach zu unterschiedlich gewesen.
Zu mir sagte sie nur "Abwarten.", was ich kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm. War ich froh, wenn ich einfach wieder in mein warmes Bett zurückspringen konnte und mir über nichts Gedanken zu machen brauchte.
Eine geschlagene Stunde später stellte Sana die Bildschirme im Gastraum an. In der Zeit hatte sich wohl herumgesprochen, dass die Pressekonferenz in dem kleinen Café ausgestrahlt werden würde, denn immer mehr Leute drängten sich in den warmen Gastraum und nicht wenige Leute drehten gleich ihre Köpfe, als der Livestream mit einem typischen Klopfen auf ein Mikrofon begann. Die Halle, in der die Veranstaltung abgehalten wurde, war ebenso brechend voll wie das Café. BTS erregte immer Aufmerksamkeit, egal wo sie waren.
"Jetzt geht's los.", sagte ein Mädchen und ihre Freundinnen kreischten vor Freude. Die Männer im Raum lachten leise über diese Reaktion, wandten ihre Blicke aber auch neugierig den Fernsehern zu.
Ich versuchte es zu ignorieren, aber einer nach dem anderen traten sie mit festen Schritten auf die Bühne. Zum Schluss kam wie immer Manager Sejin und setzte sich an das Ende der langen Tischreihe. Die Mädchen kreischten wieder laut auf, als die Kamera jeden einzelnen von ihnen in den Fokus nahm. Als Yoongi in Großformat zu sehen war, senkte ich den Blick und schluckte schwer. Ich sollte mich auf meine Arbeit konzentrieren und nicht auf diesen Livestream.
Verbissen räumte ich weiteres Geschirr in die Spülmaschine, konnte die Geräusche der Pressekonferenz aber nicht wirklich in den Hintergrund meiner Gedanken verbannen.
"Herzlich Willkommen. Mein Name ist Lee Seokmin und ich werde diese Pressekonferenz heute moderieren. Ich freue mich, dass sie heute hier sind und werden nun den Zeitplan für die nächste Stunde vorstellen."
Mein Kopf schoss in die Höhe, als ich Seokmin, den lieben, gutmütigen Mann, hörte und auf der Bühne erblickte. Es war schön wieder einmal ein bekanntes und auch freundliches Gesicht zu sehen. Der Mann, der nicht selten auch meinen Chauffeur gespielt hatte, trug einen dunklen Anzug und lächelte herzlich in die Menge an Kameras. Hinter ihm lächelten die Jungs liebevoll über seinen Auftritt. Ich fragte mich, ob er immer noch ab und zu den Chauffeur spielte, oder ob er diese Aufgabe an einen anderen Mitarbeiter übergeben hatte.
Sie sprachen eine ganze Weile über die erfolgreiche Tour und ihre Auftritte im Ausland. Die USA Reise kam nur kurz zur Sprache, bevor sie sich wieder ernsten Themen zuwandten. Seokmin nickte einem Mann zu, der daraufhin aufstand, um von den Jungs besser gesehen zu werden.
"Diese Frage ist für Yoongi. Um genauer zu sein über dein Solo Seesaw. Es ist ein Trennungs-Song, der anhand einer Wippe das stetige Auf und Ab in einer Beziehung erklärt."
Yoongi nickte bedächtig und notierte sich Stichworte auf einem Block, der vor ihm lag, bis der Reporter zu seiner eigentlichen Frage kam.
"Hat das irgendetwas mit den Beziehungsgerüchten von vor einem Jahr zu tun?"
Er betonte Beziehungsgerüchte besonders nachdrücklich. Ein Zeichen dafür, dass er die Pressemitteilungen von Big Hit zu diesem Thema nicht ganz glauben wollte. Die Medien redeten sich auch nach einem Jahr den Mund fusselig darüber, aber außer den Artikeln zu Beginn, hatte es keine neuen wirklich bahnbrechenden Publikationen gegeben. Kameras klickten, die Reporter tippten noch schneller auf ihren Laptops und machten sich Notizen. Yoongi war erst einmal unbeeindruckt.
"Nein. Hat es nicht.", sagte er nüchtern und hielt die Antwort damit wohl für ausreichend. Ich schluckte schwer und hoffte, dass niemand weitere Fragen stellen würde. Und dass es sich damit haben würde.
Hatte es natürlich nicht. Ein anderer Reporter meldete sich und ich fühlte mich ein paar Jahre in die Vergangenheit geworfen. Es war so ähnlich wie bei Suji und Jimin.
Man hatte den Haien ein Stück Fleisch zugeworfen und nun kämpften sie darum. Um die eine Schlagzeile, die ihnen die lang ersehnte Beförderung einbringen würde.
"Ich denke, was mein Kollege damit sagen möchte ist, dass es viele Parallelen zu den damaligen Gerüchten gibt. Können Sie uns etwas darüber berichten?"
"Ich glaube sie verstehen die Intention des Songs nicht."
Seine Worte lockten ein leichtes Lachen der anderen Reporter hervor, während die beiden Reporter, die die Fragen gestellt hatten, in ihren Sitzen langsam vor Scham versanken.
"Wenn sie wollen gebe ich Ihnen einen kleinen Überblick."
Wieder Gelächter. Die Jungs verkniffen sich ebenfalls das Lachen. Yoongi wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr sachlich fort.
"Seesaw versucht zu vermitteln, was in einer toxischen Beziehung passiert. Daher der Titel. Seesaw, Wippe. Streitsituationen und andere Sachen können dazu führen, dass eine Seite schwerer wird als die andere, das heißt, dass eine Seite anfängt mehr zu geben als die andere. Das führt zu einem Ungleichgewicht, da eine Wippe nur funktionieren kann, wenn beide Seiten gleich schwer sind. Jede Seite muss die gleichen Anstrengungen zeigen, um die Beziehung am Laufen zu halten."
Ich biss mir auf die Lippe. Ich konnte nicht auf den Bildschirm schauen. Ich wollte nicht in seine Augen sehen, während er dies sagte. Glaubte er, dass er mehr gegeben hatte als ich?
"Die Ich-Person im Song sitzt hier am schweren Ende. Sie gibt mehr, als sie selbst bekommt. Die Wippe wird schief, die Probleme beginnen, die Beziehung fängt an zu scheitern, der Erzähler versucht sich anzupassen. Beide sind nicht mehr glücklich miteinander, aber keiner von beiden will zuerst gehen. Das Wippspiel sollte enden und der Erzähler trifft die Entscheidung, die Beziehung zu beenden. Gleichzeitig will keiner von beiden die Verantwortung übernehmen. Für die Entscheidung an sich und für die Gefühle des jeweils anderen. An der Stelle landen beide am gleichen Ende. Sie wollen die Beziehung beenden. Sie sehen ein, dass sie beide einander müde geworden sind. Paradoxerweise sind sie sich an dieser Stelle wieder einig. Ein Wettbewerb zwischen den beiden Personen entsteht. Wer kann mehr geben? Wer ist die bessere Partie?"
So war es nie zwischen uns gewesen. Wir waren auf einer Ebene. Es war nicht seine Schuld gewesen und auch nicht meine Schuld, dass es gescheitert war. Ich war mir sicher, dass wir beide sehr wohl über unsere Gefühle für einander Bescheid wussten. Wenn ich immer noch Gefühle für ihn hatte, hatte er vielleicht auch noch Gefühle für mich? Mein Kopf hob sich automatisch und ich sah ihn das erste Mal seit Wochen richtig an. Seine Augen waren kalt, wie an dem Tag, an dem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie zeigten keinerlei Gefühle, aber ich wusste, dass es dahinter nur so brodelte vor unterdrückten Emotionen.
"Letztendlich war der Erzähler am schweren Ende derjenige, der mehr liebte und er forderte seinen Gegenpart dazu auf ehrlich zu sein und zu entscheiden. Sie sollte entscheiden, ob sie ihn noch liebt und ob sie noch dieselben Gefühle hat wie er für sie. Und dann sollte sie aufhören darüber nachzudenken, wie er darüber fühlen würde. Sie sollte eine Entscheidung treffen."
Er hielt kurz inne, bevor er ein wenig verbittert mit seiner Geschichte abschloss.
"Am Ende war er wieder allein."
Er endete mit seiner Erklärung und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine Freunde hatten sich unentwegt Notizen gemacht. Ab und zu bissen sie sich auf die Lippen, wenn sie über Yoongis Worte nachdachten. Trotz der nun bedrückten Stimmung, hoben die Reporter erneut die Hand.
Seokmin machte eine einladende Geste in die Richtung einer Frau.
"Bitte."
Die Frau ergriff das Mikrofon, dass man ihr entgegenhielt und sprach mit weicher Stimme hinein.
"Sie sehen also keine Parallelen zu den Gerüchten?"
Yoongi schüttelte entschieden den Kopf.
"Nein, das tue ich nicht. Meine Beziehung zu dem Mädchen war rein freundschaftlich. Wir kannten uns aus der Schule, wie sie sicher wissen."
Die Reporter waren aufmerksam und stolperten natürlich über ein kleines Wort.
"War?"
Nun begann Yoongi sich doch etwas unwohl auf seinem Platz zu bewegen. Gut möglich, dass die Reporter zu viel in dieses kleine Wort hineininterpretierten. Für sie hörte es sich sicherlich so an, als wäre aus dieser Freundschaft irgendwann mehr geworden. Yoongi wusste, wie er damit umgehen musste.
"Ja, war. Sie können sich vielleicht denken, dass die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit nicht bei allen Menschen gleich groß ist. Manche Menschen stehen nicht gerne im Rampenlicht und unsere Freundschaft ist daran zerbrochen.", bemerkte er.
"Sie hat die Freundschaft beendet?"
"Könnten Sie es ihr verdenken?" Seine Stimme klang nun etwas forsch, was auch den Reportern nicht entging. Sie hauten in die Tasten. Ein Raunen ging durch die Halle. Mein Herz schmerzte als hätte man mir ein scharfes Messer hineingerammt und mehrmals herumgedreht.
"Können Sie sich vorstellen noch einmal neu zu beginnen?"
"Wie bitte?" Yoongi legte die Stirn verwirrt in Falten und die Jungs sahen sich fragend an.
"Wer hat das gesagt?", stellte Manager Sejin die Frage. Ihre Blicke waren suchend über die Menge geglitten, bis eine junge Frau zögerlich die Hand erhob."
"Tut mir leid, ich wollte nicht-"
"Bitte wiederholen Sie Ihre Frage." Seokmin lächelte sie aufmunternd an und die Frau atmete erleichtert auf. Sie schien noch sehr jung zu sein. Wahrscheinlich war es eine ihrer ersten richtigen Pressekonferenzen. Jedenfalls strich sie sich nervös die Haare aus dem Gesicht. Vielleicht lag es auch einfach an dem souveränen Auftreten der Jungs.
"Können Sie sich vorstellen noch einmal neu zu beginnen? Ich - ich meine auch wenn die Freundschaft zu Bruch gegangen ist, ist es doch wie in Ihrem Song. Es war wie eine Wippe, aber auch wenn es erst nicht funktioniert hat, kann es doch jetzt anders sein, oder?" Die Frau erlangte mehr Selbstbewusstsein, je länger sie sprach. Die restlichen Reporter beobachteten sie fasziniert und auch die Jungs und Manager Sejin nickten aufmunternd. Yoongi runzelte als einziger die Stirn.
"Ich - ich meine nur. Es ist eine Wippe, auf die man immer wieder aufsteigen kann."
Sie setzte sich verlegen auf ihren Platz zurück und ihre Worte schwangen bedeutungsschwer durch den Raum. Ich brauchte eine Zeit lang, um die Bedeutung hinter ihren Worten zu verstehen. Im Gastraum zeigte sich eine erste Regung seit Beginn der Versammlung.
"Aww. Das ist so niedlich."
Auf den Bildschirmen war nun Yoongi in Nahaufnahme zu sehen. Seine Wangen waren merklich rot angelaufen. Meine Hände fingen an zu schwitzen.
"Das liegt nicht an mir.", sagte er und der Teller, den ich gerade abtrocknen wollte, sprang fast auf den Boden. Mit einem Mal wurde mir eiskalt. Was hatte er da gerade gesagt? Hatte ich ihn richtig verstanden? Kaum eine Sekunde später kam Sana schon wieder in die Küche und hielt mir mit einer auffordernden Bewegung ihr Smartphone entgegen. Die Glocke des Cafés ertönte, aber sie ignorierte die neue Kundschaft einfach.
"Würdest du ihn jetzt bitte anrufen?"
Mein Blick wanderte von dem Bildschirm, auf dem immer noch Yoongi zu sehen war zu ihr und ihrem Smartphone.
"W-was?"
Sie nahm drängend meine Hand in ihre und legte das Telefon hinein.
"Die Nummer ist schon gewählt."
Ich starrte sie immer noch sprachlos an. Ihr Smartphone wurde mit jeder Sekunde schwerer in meinen Händen. Sie hatte Yoongis Nummer? Aber woher? Ich verstand nichts mehr. Nicht eine Silbe.
Sana verdrehte die Augen.
"Mensch, Mihee. Als dein Handy kaputt gegangen ist, hab ich dafür gesorgt, dass die Speicherkarte gerettet wird. Ich hab die Nummern aufgeschrieben und mir Yoongis Nummer nur zur Sicherheit eingespeichert. Ich hab ihn nie kontaktiert oder so, falls du das wissen willst. Aber Suji und ich haben viel geschrieben. Und uns ist klar, dass diese Sache zwischen euch noch nicht beendet ist, also würdest du bitte auf den grünen Hörer drücken und sehen, was er zu sagen hat?"
Ihre Rede oder besser gesagt ihr Geständnis überrumpelte mich so sehr, dass ich genau das tat, was sie sagte. Ich drückte auf den grünen Hörer und wartete.
Und wartete. Und wartete.
Das nervtötende Tuten hörte nicht auf, bis mir eine Kleinigkeit siedend heiß einfiel. Ich legte hektisch wieder auf und zeigte auf den Fernsehbildschirm.
"Er ist mitten in der Pressekonferenz! Ich kann ihn nicht einfach anrufen!" Ich schlug die Hände vor dem Mund zusammen und starrte Sana mit großen Augen an. Die amüsierte mein Anblick eher, als dass sie es beunruhigte.
"Die Konferenz ist eine Aufzeichnung. Das alles lief bereits vor einer Stunde. Die Medien können ihre Berichte schon schreiben und Big Hit hat noch einmal die Möglichkeit über alle Artikel zu lesen, die veröffentlicht werden sollen. Das minimiert die Risiken eines Skandals."
"Aber es heißt doch, dass sie live-"
"Bei unter zwei Stunden Zeitverzögerung ist das noch legitim."
Meine Gedanken liefen auf Hochtouren, aber alles lief in Zeitlupe ab.
"Woher weißt du das?", fragte ich überfordert, bevor mir die Antwort wie Schuppen von den Augen fiel.
"Suji."
Sana nickte zufrieden grinsend.
"Du hast es erfasst."
Ich blinzelte. Meine Augen schienen die Informationen von den Bildschirmen, Sanas Smartphone in meinen Händen und das allgemeine Chaos im Café nur verschwommen wahrzunehmen.
"Aber warum geht er dann nicht ans Telefon?"
Sana zuckte mit den Schultern, gerade als ihr Smartphone in meinen Händen anfing zu klingeln. Ich zuckte zusammen und beinahe wäre das Gerät auf den Boden gefallen.
Unbekannte Rufnummer.
Sana sah mich abwartend an.
"Na los, geh schon ran!", forderte sie mich auf. Ich nickte langsam. Mein Hals war plötzlich rau, meine Stimme kam lediglich als Krächzen hervor.
"Okay."
Meine Hände zitterten, als ich den Lautsprecher an mein Ohr legte.
"Y-Yoongi?"
Am Ende der Leitung war es still. Er musste sich irgendwo an einem ruhigen Ort befinden. An einem Ort, wo er ungestört sein konnte. Die Pressekonferenz lief ungestört weiter und ich konnte es nicht fassen, dass er tatsächlich am anderen Ende sein sollte. Das heißt, ich konnte mir nicht sicher sein, solange er kein Wort sagte.
Auf dem Bildschirm lächelte er verlegen in die Kamera und machte gute Miene zum bösen Spiel.
"Yoongi? Bist du da? I-Ich hab die Pressekonferenz gesehen. Ich-" Ich schluckte schwer.
"Wo bist du?"
Ich seufzte erleichtert auf, als seine Stimme erklang. Obwohl sie eine monatelange Welttournee hinter sich hatten sprühte er nur so vor Energie.
"Im Café. Ich wollte mit dir über-" Mehr konnte ich nicht aussprechen.
Er hatte aufgelegt. Ich blinzelte verwirrt zwischen dem Telefon und Sana hin und her.
"Er hat aufgelegt.", bemerkte ich atemlos.
"Er hat einfach aufgelegt."
Sana packte mich an den Schultern und bugsierte mich kurzerhand auf einen freien Stuhl.
"Jetzt reg dich nicht gleich auf. Er wird wissen, was zu tun ist."
"Was zu tun ist?" Mein Verstand arbeitete mittlerweile so schnell wie ein Laptop, der heiß lief. Es lief also rein gar nichts. Alles drehte sich und ich hatte keine Ahnung wo oben und unten war.
Sana lachte herzhaft. Unsere Chefin steckte den Kopf durch die Tür und schaute uns auffordernd an. Sie hatte den Laden gerade geschlagene fünf Minuten alleine geschmissen und vermisste ihre Mitarbeiter.
"Ich könnte Hilfe hier draußen vertragen.", sagte sie beiläufig, aber in einer Tonlage, die klarstellte, dass wir uns zusammenreißen sollten. Die Menge lichtete sich zwar mit dem Ende der Pressekonferenz, aber der Ansturm an Menschen ließ noch nicht nach. Sana reckte einen Daumen in die Höhe und unsere Chefin stellte sich kopfschüttelnd hinter die Theke, um besagten Andrang zu bewältigen.
"Du hast ihn angerufen. Er weiß genauso gut wie du, was das bedeutet." Sana zwinkerte bedeutungsvoll und mein Mund sprang auf.
Die nächste Stunde war ich kaum zu gebrauchen. Ich konnte keine Bestellungen entgegen nehmen, nicht Spülen, keine Tische abräumen, nichts. Meine Chefin sah es, sagte aber nichts dazu, wofür ich ihr mehr als dankbar war. Sana schaffte es mit Mühe mich nach einer Dreiviertelstunde hinter die Theke zu schieben und mich dazu zu bringen, neue Bestellungen zu notieren, die glücklicherweise nun nicht mehr so zahlreich waren wie noch vor einer Stunde. Unsere Chefin sorgte in der Küche dafür, dass nichts zu Bruch ging. Immer wieder glitten meine Augen nervös zum Eingang. Ich brachte es gerade fertig wieder einigermaßen zu funktionieren, als der alles entscheidende Moment gekommen war und mein Herz erneut mit doppelter Geschwindigkeit weiterschlug.
Nach zwölf Monaten stand er endlich wieder vor mir. In Fleisch und Blut und nicht durch einen kleinen flackernden Bildschirm getrennt. Die Luft vibrierte augenblicklich, sobald er den Fuß über die Türschwelle setzte und mein Gesicht wurde rot vor Aufregung.
Seine Atmung ging nur stoßweise, als wäre er gerannt. Die Tür zum Café hatte er so stürmisch aufgerissen, dass die Glocke über der Tür immer noch laut klingelte. Die Gäste starrten ihn an, als wäre er das achte Weltwunder. Seine Haare waren dunkel, so frisiert wie bei der Konferenz. Seine Haut war hell wie immer und er trug einfache Klamotten. Keine Klamotten, die ihn sofort als Idol enttarnt hätten, aber er trug keine Kappe oder sonstiges, was sein Gesicht verdeckte. Als die Besucher ihn einer nach dem anderen erkannten, zückten sie ihre Smartphones und begannen Fotos von ihm zu schießen oder ihn zu filmen. Er bemerkte es nicht einmal. Seine Augen waren ausschließlich auf mich gerichtet.
Während sich sein Brustkorb schnell hob und senkte und das Blitzlichtgewitter immer stärker wurde, zeichnete sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen ab. Seine Grübchen, die ich so sehr liebte, kamen mit jeder Sekunde mehr zum Vorschein und das Grinsen, das sein ganzes Gesicht erstrahlen ließ, wurde immer breiter. Ein Blick von ihm reichte, und ich wusste sofort, was er meinte. Vielleicht dachten wir doch nicht so verschieden, wie wir glaubten.
"Hallo Mihee."
Vielleicht war es unser Schicksal. Ein einziges Hin und Her. Hoch und runter. Wie bei einer Wippe. Jeder von uns würde etwas dazu beitragen, dass es funktionierte, manchmal mehr, manchmal weniger. Es würden schlechte Tage auf uns zukommen. Aber es würden auch wieder gute Tage kommen. Solange wir zusammenhielten, aneinander festhielten, würde keiner von uns jemals unsanft auf dem Boden ankommen. Und sollten wir uns doch jemals wieder verlieren, war das auch okay. So war das Leben. Ein 'Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage' gab es in dieser Welt nicht. Und auch das war okay. Wir würden immer zueinander zurück finden. Und wir würden glücklich sein. Irgendwie.
Ich lächelte ebenfalls.
"Hallo Yoongi."
E N D E
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