8. Kapitel
Das wahre Daegu? So viel wie ich bisher von der Stadt gesehen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Teil überhaupt existierte. Bei den ganzen langweiligen grauen Hochhäusern, die aus der Erde schossen und das Stadtbild mehr wie eine leblose, als eine fröhliche Stadt wirken ließen, war mir das wohl nicht zu verdenken. Ich konnte mir schlichtweg nicht vorstellen, dass die Stadt irgendwie lebendig aussehen konnte.
"Vertrau mir.", sagte Yoongi und ich seufzte leise.
"Habe ich eine andere Wahl?"
"Eigentlich nicht."
Das klang in meinen Ohren nicht gerade beruhigend und Yoongi machte auch keine Anstalten mich zu beruhigen. Er sah lieber dabei zu, wie meine Panik von Schritt zu Schritt weiter anstieg. Er genoss es richtig mich leiden zu sehen. Ich hasste es, wenn ich nicht wusste, was vor sich ging und mit jedem Schritt wurde meine Laune schlechter. Wir liefen bestimmt schon eine halbe Stunde durch mit Bäumen gesäumte Straßen.
"Wann sind wir da?", fragte ich bestimmt schon zum zehnten Mal, aber aus Yoongi war immer noch nichts heraus zu bekommen. Stattdessen blieb er plötzlich mitten auf dem Gehweg stehen. Ich bemerkte erst, dass er stehen geblieben war, als ich schon ein paar Schritte weitergegangen war und ihn auf einmal nicht mehr neben mir sah. Hektisch drehte ich mich um und sah ihn grinsend da stehen. Ich beeilte mich wieder zu ihm zu gehen und schaute ihn fragend an. Er machte eine einladende Geste zu dem Gebäude neben sich.
"Wir sind da."
Ich seufzte. Der Klotz, auf den der Junge zeigte, war einer dieser mir verhassten Hochhäuserbauten.
"Ernsthaft?" Yoongi grinste einfach weiter. Im selben Moment musste ich mich fragen, ob das wirklich der Junge war, den ich erst diesen Mittag in der Schule kennen gelernt hatte. Er war wie ausgewechselt seitdem wir das Schulgebäude verlassen hatten. Er lächelte in einem fort und strahlte geradezu vor noch ungenutzter Energie. Bis auf den Fakt, dass er immer noch nicht sehr gesprächig war, war er ein vollkommen anderer Mensch.
"Ich sagte bereits, vertrau mir einfach." Er hielt mir die Tür auf und ich folgte seufzend seinen Anweisungen. Das Gebäude versprach, was es von außen hielt. Es war ein ganz gewöhnlicher Wohnungsbau. Kein Tageslicht drang von außen in das Gebäude. Die kalten Wände aus Beton schienen mich beinahe zu erdrücken. Die Glühlampen an den Decken, die immer mal wieder aufflackerten machten diesen schlechten ersten Eindruck nicht gerade besser.
"Willst du mich umbringen oder warum bringst du mich hierhin?", fragte ich an Yoongi gewandt und er ließ seine Zähne kurz aufblitzen.
"Hätte ich dich umbringen wollen, hätte ich dich eben einfach weiterlaufen lassen müssen.", sagte er und meine Augen wurden so groß wie Teller, so geschockt war ich.
"Was soll das denn bitte heißen?", fragte ich. Meine Stimme klang eine Oktave höher als normal und ich trat unwillkürlich einen Schritt näher an den Jungen, obwohl wir uns hinter den (hoffentlich) sicheren Wänden des Wohnkomplexes aufhielten. Yoongi lachte nur noch mehr, dabei konnte ich darin nichts wirklich Witziges finden.
"Du bist verrückt.", sagte er nur und ich schnaubte. "Du kennt dich hier wirklich nicht aus. Du wärst geradewegs in das schlimmste Viertel der Stadt gelaufen ohne es zu wissen."
"Woher soll ich das denn auch bitte wissen? Ich bin gerade erst drei Tage hier. Tut mir leid, dass ich da noch nicht die Chance hatte nach 'Daegus Mafia' zu googeln." Ich rollte mit den Augen.
"Du brauchst ganz dringend Hilfe.", entgegnete Yoogi. Wir standen vor einem alten Aufzug und er drückte auf den Knopf. Ein Licht blinkte auf und gab die Türen nach ein paar Sekunden frei. Wir stiegen ein und in derselben Sekunde, in der sich die Türen schlossen wusste ich, dass es eine schlechte Idee gewesen war.
Der Aufzug war alt. Mehr als alt. Er hätte bestimmt ohne weiteres als der erste erfunde Aufzug von 1857 gelten könnten. Dementsprechend hörte er sich auch an und ich klammerte mich an das Gelände, als der Aufzug mit einem Ruck losfuhr. Zu meinem Leidwesen war er auch noch zeimlich langsam.
Yoongi schüttelte den Kopf und ich zuckte mit den Schultern.
"Bist du noch nie mit einem Aufzug gefahren oder was?", fragte er belustigt und ich lachte sarkastisch.
"Natürlich bin ich schon einmal mit einem Aufzug gefahren! Nur wusste ich damals auch, dass ich wirklich an meinem Ziel ankommen würde." Yoongi atmete tief ein.
"Ich glaube ich habe gehört, das hier drinnen letzte Woche jemand stecken geblieben ist. Er wurde glaube ich ein paar Tage später gefunden." Ich schaute ihn genervt an und er ließ seine Zähne erneut aufblitzen. "Beruhigt dich das?" Ich nickte. "Total." Ich ging gar nicht weiter auf seine Kabbeleien ein, weil mir jetzt bewusst wurde, dass er mich nur ärgern wollte. Bestimmt hatte er auch ältere Geschwister, denn mit seinem Verhalten erinnerte er mich ungemein an Jitae.
In der nächsten Sekunde sprangen die Türen wieder auf und ließen uns in einen dunklen Gang frei. Er nickte mir zu und bedeutete mir ihm weiter zu folgen. Das beklemmende Gefühl verfolgtemmich auch weiterhin. Wir kamen schließlich vor einer großen Tür zum Stehen.
"Ich hoffe du hast keine Höhenangst." Yoongi ergriff die Türklinke und mit einem lauten Knarzen öffnete sich die Tür vor uns. Mit blieb fast der Atem weg. Warme Luft kam uns entgegen und das sanfte Rauschen der Bäume empfing uns und machte den Blick auf die Stadt vor uns frei. Wir standen mitten auf dem Dach. Mein Mund klappte auf und ich hörte Yoongi leise lachen.
Wir standen mitten auf dem Dach und trotzdem kam es mir so vor als wären wir mitten in einem Dschungel. Über die gesamte Dachfläche erstreckten sich an die hundert Blumen und Bäume. Wie viele Stockwerke hatte das Hochhaus noch einmal gehabt? 20? 30? Ich wusste es nicht mehr, aber in diesem Moment war es mir auch egal. Ich konnte nicht anders als zu staunen, während ich mit langsamen Schritten das Dach erkundete. Yoongi sah mir dabei lachend zu.
Er ließ sie auf eine Bank am Rand fallen und ich setzte mich neben ihn. Ich hatte immer noch nichts gesagt, doch in dieser ruhigen Minute tauchten plötzlich tausende Fragen auf.
"Woher kennst du diesen Ort?", fragte ich neugierig und ich sah, wie Yoongi neben mir tief Luft holte. Ich stockte.
"Warte, wohnst du hier?", fragte ich und ich kam mir unglaublich dumm vor, dass mir dieser Gedanke erst jetzt gekommen war. Woher sonst sollte er diesen Ort kennen, wenn er nicht selbst in dem Gebäude lebte?
"Nicht jeder kann in einer Villa am Strand wohnen.", antwortete Yoongi etwas bitter auf meine Frage nur und ich nickte. Er hatte Recht.
"Aber nur zu deiner Information. Ich wohne nicht hier.", sagte er dann und wir verfielen in Schweigen. Das war mir auch nur Recht. Ich konnte weiter darüber nachdenken, woher er diesen wundersamen Ort wohl kannte und außerdem konnte ich in aller Ruhe beobachten, wie die Sonne hinter den Bergen langsam unterging und die Stadt in ein orangefarbenes Licht tauchte. In dem Moment kam mir Daegu gar nicht mehr so leblos vor, auch wenn wir hier auf dem Dach die einzigen waren und um uns herum alles ruhig war. Vielleicht waren wir sogar die einzigen, die je an diesem Ort gesessen hatten und den Sonnenuntergang beobachtet hatten.
"Das ist Daegu.", sagte Yoongi verträumt und ich blickte ihn etwas verwirrt an. Seine Augen waren ausschließlich auf die Stadt vor ihm gerichtet. Sein ganzes Wesen strahlte.
"Das ist es, was Daegu ausmacht." Er hob einen Zeigefinger in die Höhe, um mich davon aufzuhalten weiter nachzufragen. Ich sollte einfach nur zuhören.
Die Sonne ging immer weiter unter, bis sie schließlich ganz hinter den Bergen verschwand und das Sonnenlicht durch die Stadtlichter ersetzt wurde. Es war beinahe so, als hätte jemand einen Lautstärkeregler in die Höhe geschoben. Kaum war die Sonne untergegangen, drang das Stadttreiben zu uns durch. Autos wurden in dem Licht plötzlich erkennbar und überall leuchtete es. Die Stadt leuchtete. Und dieses Leuchten sprang unwillkürlich auf mich über. Auf Yoongi und mich. Ich atmete tief ein. Die Luft war trotz allem noch ziemlich warm. Alles in allem war es einer der wenigen Spätsommertage, die uns noch erreichen sollten. Bald würde der Winter voll und ganz über uns einbrechen.
"Wenn die Sonne untergeht, wacht Daegu auf. Das ist der Moment, wo die Stadt erwacht und wirklich lebt.", sagte er. Er machte keinen Versuch seine Worte weiter zu erklären, aber das brauchte er auch nicht. Ich verstand, was er meinte. Er beschrieb meinen ersten Eindruck der Großstadt eins zu eins. Am Tag sah die Stadt langweilig aus. Trostlos und irgendwie nicht wirklich lebhaft, aber nachts änderte sich das schlagartig. Menschen drangen mit einem Mal aus ihren Häusern und erkundeten die Straßen. Überall leuchtete und glitzerte es und mit einem Mal war der Druck, der den ganzen Tag über auf allen zu lasten schien, von einem abgewichen zu sein. Das erste Licht des Mondes war der Beginn des Lebens.
"Hab ich zu viel versprochen?", fragte er, während sein Blick immer noch auf die Stadt vor uns gerichtet war.
Ich schüttelte leicht den Kopf. Meine Augen lagen immer noch wie gebannt auf der Stadt, meiner neuen Heimat. Die Dunkelheit umfing uns gänzlich, aber es war kein beklemmendes Gefühl. Es war befreiend."Du hast nicht zu viel versprochen."
Nein, das hatte er wirklich nicht.
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