79. Kapitel
Es dauerte keine Stunde da klopfte es bereits an der Studiotür. Zunächst dachte ich es wäre einer der Jungs, weil Yoongi allein bei seiner Besprechung war, aber ich täuschte mich.
Manager Sejin lächelte mir entgegen und ich war so erschrocken, dass ich erst ein paar Sekunden später zur Besinnung kam und mich tief vor ihm verbeugte. Ich hatten den Manager noch nie so nah gesehen. Bislang hatte ich ihn immer aus der Ferne gesehen und geredet hatte ich daher auch noch nie mit ihm - wenn man von den flüchtigen Begrüßungen absah, wenn man sich zufällig auf dem Gang traf, aber trotz allem aneinander vorbei hetzte. Nun ragte er vor mir auf wie ein unerschütterlicher Berg, der Alles von BTS fernhielt, was es fernzuhalten galt.
Und ich dachte Namjoon wäre groß... Manager Sejin musste ihn um mindestens einen halben Kopf überragen. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, damit ich ihn richtig ansehen konnte.
"Hallo, es freut mich Sie endlich kennenzulernen. Obwohl wir uns schon öfter über den Weg gelaufen sind. Ich bin Sejin, einer von BTS Managern.", begrüßte er mich und verbeugte sich seinerseits.
"Es freut mich auch Sie kennenzulernen. Ich-"
"Duzen wir uns doch. Das ist angenehmer für uns beide.", schlug er vor und ich nickte heftig, wenn auch etwas überrumpelt mit dem Kopf. Ein solches Angebot konnte man schließlich nicht ablehnen.
"Es tut mir leid, aber ich dachte Sie- du hättest erst um zwei Zeit..." Ich klopfte ein paar Mal gegen meine Uhr, aber sie war nicht stehen geblieben. Die Zeiger bewegten sich stetig weiter. Der Manager nickte.
"Yoongi hat mich angerufen und gesagt, dass du bereits da bist und in seinem Studio wartest. Ich wollte dich nicht unnötig aufhalten und ich hatte gerade nichts Besonderes zu tun."
"Dankeschön." Ich wusste nicht was ich sonst sagen sollte. Ich biss mir nervös auf die Unterlippe.
Sejin lächelte, wohl wissend, was gerade in meinem Kopf vor sich ging.
"Bitte, gehen wir doch in mein Büro. Wir müssen nicht zwischen Tür und Angel miteinander sprechen."
"Sicher. Klar." Ich schnappte schnell Mantel und Tasche und folgte Sejin. Die Tür zu Yoongis Studio fiel mit einem kurzen Piepton ins Schloss und verriegelte sich selbst. Wir liefen ein Stockwerk nach oben und landeten in einem Gang, der, wie ich vermutete, die Führungsetage des Entertainments beinhaltete. Ein Büro reihte sich an das nächste und in den Besprechungsräumen wurden fleißig Gespräche geführt. Ich hätte zu gerne einmal Mäuschen gespielt.
Manager Sejin führte mich zu einer Tür aus Milchglas. Aus dem Zimmer strahlte ein warmes Licht.
"Bitte."
Er hielt mir - ganz der Gentleman - die Tür auf und bedeutete mir mit einer Handbewegung den Raum zu betreten.
Das Büro des Managers sah anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Wände und Möbel waren weiß und bis auf ein paar Mappen, die unordentlich auf dem Schreibtisch lagen, war es sehr aufgeräumt. In den Regalen standen mindestens hundert Ordner fein säuberlich beschriftet. Wenn man aus dem Fenster schaute, konnte man gerade so über die kahlen Baumkronen auf die weit entfernte Stadt blicken. Ein Schwarm Vögel flog gerade ihre Runde, als ich mich auf einem Sessel vor dem riesigen Schreibtisch niederließ und zwischen seinen Polstern einsank.
Sejin lächelte.
"Willst du etwas trinken?", fragte er und riss mich aus meinen Gedanken. Mein Blick war zu der Decke gewandert, die drei Meter über unseren Köpfen schwebte. In dem Zimmer fühlte man sich ungewöhnlich frei. Anders als in den normalen kleinen Zellenbüros, die ich kannte, konnte man hier wahrscheinlich sehr konzentriert arbeiten. Ich nickte eifrig.
"Danke. Wasser wäre toll."
Sejin griff hinter sich in einen Minikühlschrank und holte eine Wasserflasche hervor.
"Davon gibt es in Yoongis Studio wahrscheinlich nicht sehr viel. Wenn er arbeitet vergisst er meist zu trinken."
Er schüttelte leicht lachend den Kopf und öffnete die Flasche mit einem leichten Zischen.
"Die einzigen Getränke, die sich in seinem Studio anhäufen sind Weine. Er muss ja eine beachtliche Sammlung haben.", bemerkte der Mann beiläufig. Den berühmt berüchtigten Weinschrank in seinem Studio hatte ich nur kurz begutachtet. Darin lagerten an die 20 Weine aus unterschiedlichen Ländern. Auf ihren Touren kamen sie nur selten zum Shoppen, aber wenn sie dann doch ein paar freie Minuten hatten, durfte Wein als Mitbringsel natürlich nicht fehlen. Er hatte sogar einen Wein aus Deutschland, aber ich kannte das Weingut nicht.
"Er hat ein kleines Regal in seinem Studio.", bestätigte ich die Annahme des Managers vorsichtig. Ich war mir immer noch nicht sicher, wie ich mit dem Mann umgehen sollte. Er hatte mir zwar sofort das 'Du' angeboten, was keine Selbstverständlichkeit war, aber immerhin war er immer noch einer von Yoongis Managern. Außerdem wurde ich generell nicht sehr schnell warm mit neuen Menschen. Auch jetzt lächelte er mich freundlich an, als er mir das Glas Wasser auf einen kleinen Untersetzer stellte.
"Dankeschön."
Ich trank einen Schluck, damit meine Hände wenigstens etwas zu tun hatten. Das kalte Wasser prickelte belebend in meinem Mund. Manager Sejin ließ sich auf seinen Stuhl mir gegenüber nieder. Er schaute mich abwartend an.
Sollte ich etwas sagen? Oder hatte er mir eine Frage gestellt, die ich in meinem Delirium völlig überhört hatte? Sejin zog eine Augenbraue in die Höhe. Allein der Gedanke bereitete mir Bauchschmerzen. Der Versuch einen guten Eindruck zu hinterlassen wurde schwindend geringer. Das Atmen fiel mir immer schwerer, doch dann lachte Manager Sejin laut auf. Das Lachen hallte von den Wänden wieder und er lehnte sich entspannt zurück. Meine Augen weiteten sich erschrocken und meine Atmung setzte beinahe komplett aus. Der Mann grinste breit.
"Es tut mir leid. Es ist einfach... Dieser Gesichtsausdruck... Das letzte Mal hat Suji mich so angeschaut. In genau der gleichen Situation.", erklärte er immer noch lachend. Ich fiel vorsichtig in das Lachen mit ein.
"Du musst dir keine Sorgen machen.", versicherte er mir.
"Ich will dir oder euch auch gar nichts vorschreiben oder dir so viel Angst machen, dass du das Gebäude verlässt und nie mehr wiederkommst. Ich möchte nur mit dir reden." Ich nickte langsam.
"Okay."
"Hier bei Big Hit ist es so, dass so gut wie jeder jeden kennt. Wir sind so etwas wie... ja wie eine Familie. Wir stehen zusammen auf, wir essen zusammen, verbringen Zeit miteinander."
Er zuckte kurz mit den Schultern.
"Zugegeben, die Arbeit kann ab und zu schwierig werden. Nicht jeder vertritt die gleiche Meinung und da kann es ab und zu auch etwas lauter werden. Aber wie bei einer guten Familie verträgt man sich am Ende des Tages auch wieder miteinander."
Einen Augenblick schweiften seine Augen in die Ferne. Ich folgte seinem Blick und erkannte ein Bild an der Wand, auf dem BTS mit Manager Sejin abgelichtet waren. Auf der Fotografie lachten sie alle fröhlich. Ich erkannte sofort, dass es kein gestelltes Lachen war. Das Lachen und die Freude in ihren Augen war echt. Und hinter ihnen stand ein noch breiter lächelnder Sejin. Sie waren wirklich eine kleine Familie.
Sejin klatschte in die Hände und riss uns beide wieder zurück in die Gegenwart.
"Und jetzt da du mit Yoongi zusammen bist, bist du schließlich auch in Begriff ein Teil dieser Familie zu werden. Und ich bin natürlich neugierig. Wie haben du und Yoongi sich überhaupt kennengelernt? Ich habe am Rande mitbekommen, dass ihr in derselben Schule wart?"
Mein Herz wurde plötzlich ganz warm bei seinen Worten und das erste Mal fühlte ich mich nicht so wie ein Eindringling, der die Ordnung bei Big Hit auf den Kopf stellte, sondern wie ein Teil eines großen Ganzen. Wie ein Teil der Familie, den man sich nicht mehr wegdenken wollte. Ich lächelte. Langsam aber sicher kam ich aus mir heraus und ich erkannte, dass ich wirklich nichts zu befürchten hatte.
"Ja, das stimmt. Wir gingen ein paar Monate zusammen zur Schule. Kurz bevor er nach Seoul ging. Das war vor zehn Jahren.", begann ich. Sejin lächelte und für einen kurzen Moment spiegelte sich der blaue Himmel in seinen Brillengläsern.
"Und wie war er so? Ich war nicht von Anfang an bei Big Hit und ich glaube ich habe die schlimme Phase der Jungs weitgehend übersprungen, aber ich habe Bilder von ihm gesehen."
Er hielt einen Finger in die Höhe.
"Warte einen Moment. Gleich haben wir's."
Er tippte ein paar Sekunden durch sein Smartphone, bevor sich ein siegessicheres Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.
"Hier." Er hielt mir sein Handy entgegen, auf dem nun Yoongi zu sehen war. Sein zehn Jahre jüngeres Ich in grün gestreiftem Hemd und hochgegelten Haaren. Das Lachen konnte ich nicht mehr zurückhalten.
"Ich erinnere mich daran. Dass das Bild heute noch im Internet kursiert..."
Das Internet erinnerte sich wirklich an alles. Ganz schön erschreckend. Gerade Idols blieben von dieser Tatsache nicht verschont.
"Ich hab das Hemd ausgesucht.", erinnerte ich mich dann und Sejins Augen wurden ganz groß.
"Du warst das?"
Ich nickte.
"Er hatte zwei zur Auswahl. Das oder ein orangenes." Sejin verzog schmerzvoll das Gesicht.
"Dann doch lieber grün gestreift. Zum Glück hat sich Yoongis Modebewusstsein in der Zeit geändert. Er zieht sich jetzt viel stilvoller an."
Wäre es anders gewesen, sähe es ziemlich düster für ihn aus. Vor meinem inneren Auge stellte ich mir Yoongi heute in dem grünen Shirt vor und schüttelte den Kopf. Ein Glück für ihn, dass er das heutzutage niemals mehr freiwillig anziehen würde.
Manager Sejin war sehr interessiert mehr über Yoongi zu seiner Schulzeit zu erfahren. Er lachte, stellte Fragen und nickte aufmerksam. Als ich zugab, dass ich ihn am Anfang nicht sehr freundlich fand schmunzelte er.
"Er kann ab und zu etwas rau sein, aber er meint es nicht so. Das hab ich mittlerweile herausgefunden. Hinter der scheinbar harten Schale befindet sich ein sehr weicher Kern."
Eine Weile schwiegen wir und ich dachte über seine Worte nach. Es stimmte, dass Yoongi manchmal etwas rau wirkte. Wahrscheinlich zu rau in den Augen anderer. Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, aber jetzt dachte ich, dass es vielleicht einfach nur ein Schutzmechanismus war. Je weniger er von außen an sich heran ließ, desto weniger kümmerten sich die Leute darum. Zeigte man einmal Schwäche wurde man das beliebte Ziel, sei es nun von Medien, Hatern oder sonst irgendwem, der den Jungs das Glück und den Erfolg nicht gönnen wollte. Mit seiner harten Schale schützte er sich davor, während die Worte ihn von innen zerfraßen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Er hatte auch mit mir noch nie darüber gesprochen, was das Leben eines Idols für ihn bedeutete. Er zeigte sich immer unbekümmert und sorglos, aber die Realität sah leider anders aus.
"Ich hab auch gehört, dass er oft Basketball gespielt haben soll, als er noch zur Schule ging, stimmt das?", fragte Sejin.
"Stimmt. Er war ziemlich gut. Ich hab ihn nur einmal spielen sehen - damals mit der Schulmannschaft. Er hatte eine richtige Fangemeinschaft.", erinnerte ich mich lachend, aber meine gute Laune verflog schnell. Ich erinnerte mich auch, was noch an diesem Tag passiert war. An dem Tag hatte Soomin Yoongi erzählt, dass wir zusammen waren. Yoongi war stinkwütend davongestapft und ich hatte wie ein Wasserfall geheult. Und der arme Soomin hatte mir Beistand geleistet.
"Ich war mit Yoongi einmal bei einem Baseballspiel in den USA. Das hat ihm sehr gefallen, aber vielleicht sollte ich auch einmal ein Basketballspiel mit ihm besuchen. Mal sehen, ob wir dafür Zeit haben werden.", überlegte Sejin.
"Hat Seoul überhaupt eine Basketballmannschaft? Ich habe noch nie etwas darüber gehört." Ich lachte. Was Sport anging, zählte ich nicht unbedingt zu den Menschen, die über alles Bescheid wussten. Geschweige denn selbst Sport machte.
Sejin winkte ab.
"Oh nein, ich rede von den Mannschaften in Amerika. Sollten wir Zeit haben, sollte ich ein Spiel einplanen. Außerdem ist es gute Publicity.", erklärte er. In meinem Kopf begannen sich die Rädchen langsam ratternd zu drehen.
"Wieso Amerika? Habt ihr dort Termine?", fragte ich verwirrt. Der Mann sah mich erstaunt an.
"Unsere Reise in die USA in zwei Wochen.", sagte er. Mein Mund klappte auf. Eine USA Reise? In zwei Wochen? Einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob Yoongi diese Reise irgendwann erwähnt hatte und ich einfach nur so schusselig war und es wieder vergessen hatte. Aber je angestrengter ich überlegte, desto sicherer wurde ich mir, dass ich von dem USA Trip gerade zum allerersten Mal hörte.
"Entschuldige bitte, aber ich dachte Yoongi hätte mit dir darüber gesprochen." Sejin sah ehrlich bestürzt aus und ich wusste nicht, wie ich mit dieser neuen Information umgehen sollte. Mein Fuß fing nervös an auf den Boden zu tippen und ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.
"Wir bleiben drei Monate dort und machen Werbung für BTS. Wir sind bei mehreren Talkshows vorgemerkt und-"
"Drei Monate?", entfuhr es mir entgeistert. Sejin räusperte sich und nickte vorsichtig. Er rückte seine Brille in einer geschmeidigen Bewegung zurecht.
"Es tut mir wirklich leid. Ich dachte Yoongi hätte mit dir darüber gesprochen."
"Nein. Das hat er nicht.", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, gerade als die Tür aufsprang und der Übeltäter höchstpersönlich seinen Kopf durch die Tür steckte. Er lächelte warmherzig. Ich verschränkte verbissen meine Arme.
"Man hat mir gesagt, dass du schon hier bist. Ich konnte heute früher Schluss machen. Habt ihr alles beredet?", fragte er, als wäre er ein Unschuldslamm.
Ich schnaubte.
"Ja, das haben wir.", sagte ich und meine Stimme muss sich wohl ziemlich schnippisch angehört haben. Jedenfalls sog Sejin scharf die Luft ein.
Er sprang, durch die plötzliche Spannung im Raum aufgeschreckt, schnell auf, klatschte erneut in die Hände und ging um seinen breiten Schreibtisch herum. Ich erhob mich mit schweren Beinen aus dem weichen Polster des Sessels.
"Mihee, es hat mich gefreut dich kennenzulernen.", sagte Sejin und verbeugte sich. Ich tat es ihm gleich.
"Mich hat es auch gefreut.", sagte ich und obwohl der Mann der Überbringer der für mich nicht ganz so tollen Neuigkeiten war, lächelte ich ihn an. Immerhin hatte er keine Schuld daran, dass ich nichts davon gewusst hatte. Mein Blick schweifte wieder zu Yoongi und mein Lächeln gefror. Am liebsten hätte ich ihn mit meinen Blicken in eine steinerne Statue verwandelt, wie die Medusa aus der griechischen Mythologie. Aber ich hatte weder einen so starken Drang zu Chaos wie sie, noch verfügte ich über Schlangen, die mir anstelle der Haare aus dem Kopf wuchsen. Yoongi blieb ein Mensch aus Fleisch und Blut und in seinen Augen spiegelte sich lediglich die Verwirrung wieder.
Wortlos ging ich an ihm vorbei nach draußen auf den Gang. Ich hörte noch wie Sejin Yoongi schnell etwas zuraunte und Yoongi daraufhin schwer seufzte. In der nächsten Sekunde hetzte er mir bereits hinterher.
"Ich kann es dir erklären.", sagte er, kaum, dass er mich eingeholt hatte und mich zum Stehen zwang.
"Das will ich hoffen.", erwiderte ich verbissen.
"Ich verspreche dir, ich erkläre dir alles, was du wissen willst, Mihee."
"Aha." Ich glaubte ihm kein Wort. Es wäre leichter gewesen, wäre er von Anfang an ehrlich mit mir gewesen. Yoongi seufzte.
"Ich erkläre dir alles. Aber nicht hier." Er schaute mich so traurig an, dass ich seiner Bitte letztendlich nachgab.
"Na schön.", sagte ich und wandte mich ab. Er folgte mir schweigsam bis zu seinem Studio, dass er mit schnellen Handbewegungen öffnete. Die Tür fiel schwer ins Schloss, und die Regale vibrierten kurz durch das schwungvolle Zuschlagen der Tür.
Mein Blick schweifte über die Unordnung in seinem Studio. Wahrscheinlich hatte er nie wirklich die Absicht gehabt aufzuräumen. Die Amerikareise war der eigentliche Auslöser dieses Chaos. Er packte.
Für drei Monate brauchte er schließlich seine Notizen. Er konnte nicht unvorbereitet in einen Flieger steigen und darauf hoffen, dass ihm die Lyrics einfach zuflogen, auch wenn er das sicher geschafft hätte. Die Zeichen waren direkt vor meiner Nase und ich hatte sie nicht erkannt. Wie sollte ich auch? Ich hatte ja keine Ahnung, dass es für ihn bald 'Welcome to the United States of America' heißen sollte. Hatte er überhaupt daran gedacht mir etwas von dieser Neuigkeit zu erzählen oder hatte er gehofft, dass ich einfach Verständnis dafür hatte, dass er von jetzt auf gleich für drei Monate nicht mehr in Seoul sein würde?
Tränen, von denen ich nicht wusste woher sie kamen, sammelten sich in meinen Augen, als ich mich immer weiter in die Sache hineinsteigerte, aber ich schaffte es sie zurückzuhalten. Ich drehte mich mit verschränkten Armen zu ihm um. Er stand unsicher vor seinem Schreibtischstuhl und hielt sich an der Stuhllehne fest. Ich stand immer noch wie bestellt und nicht abgeholt im Eingangsbereich des Studios. Mir war nicht nach Sitzen zumute, auch wenn meine Beine anfingen unkontrolliert zu zittern.
"Wann wolltest du mir von der USA Reise erzählen?"
Yoongi schluckte schwer und er versuchte nicht mich anzuschauen.
"Mihee..."
"Wann wolltest du es mir sagen?", fragte ich noch einmal nachdrücklich. Es war eine simple Frage. Warum konnte er sie nicht einfach beantworten?
"Ich weiß es ja selbst erst seit gestern. Lass mir doch etwas Zeit, das alles zu verarbeiten."
Das war in meinen Augen keine Ausrede.
"Und? Gestern Abend haben wir noch miteinander geredet. Und heute morgen auch. Du hast es mit keiner Silbe erwähnt. Du hattest die Chance dazu."
"Ich dachte es wäre nicht so wichtig.", sagte er kleinlaut.
"Nicht so wichtig?"
Ich raufte mir die Haare.
"Du wirst drei Monate weg sein! Und das soll nicht wichtig sein?", stellte ich fest.
"Mach daraus keine große Sache, bitte.", sagte er leise. Er kam einen Schritt auf mich zu, um mich versöhnlich zu umarmen wie ich dachte und ich wich zurück bis ich an den kalten Türknauf anstieß. Yoongi seufzte und hing seine Jacke in der Garderobe auf. Er stand unschlüssig vor mir. In seinen Augen konnte ich sehen, dass er mich gerne umarmt hätte, aber er wusste genauso gut wie ich, dass das nicht der richtige Zeitpunkt war, um Zuneigung zu zeigen. Nicht bevor die Sache nicht geklärt war. Ich bewegte mich keinen Zentimeter von der Stelle.
"Es ist aber eine große Sache!", zischte ich und schnalzte mit der Zunge.
"Drei Monate, Yoongi. Drei Monate! Weihnachten, die Winterferien, Silvester. Du hast gesagt, dass du nach Daegu mitkommen willst und deiner Familie von uns erzählst.", erinnerte ich ihn an seine Versprechungen, die er mir vor nicht allzu langer Zeit gemacht hatte.
"Ich weiß, was ich gesagt habe.", brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
"Drei gottverdammte Monate, Yoongi!", kreischte ich fast. Meine Stimme vibrierte vor Wut und mein Hals fing an wehzutun.
"Du hast es mir versprochen und jetzt willst du dein Verspechen brechen. Bedeutet das gar nichts für dich? Ich hab dir gesagt, dass es wichtig für mich ist, dass deine Familie über uns Bescheid weiß. Ich hab dir gesagt, dass es mir etwas bedeutet!", schrie ich ihn an. Ich wusste nicht wie gut diese Wände gedämmt waren, aber in diesem Moment war es mir auch egal. Sollten doch alle mitbekommen, dass ich mich mit ihm stritt. Ich atmete schwer und schaute ihn abwartend an.
Unvermittelt legte Yoongi seine Hände auf meine Schultern.
"Wenn du dich nicht kontrollieren kannst, atme tief durch.", sagte er ruhig, aber ich stieß seine Hände wütend weg. Warum war er überhaupt so ruhig, während ich nur vor Wut schäumte. Das machte mich nur noch aufbrausender. Ein paar Tränen schafften es zu meinem Leidwesen doch nach draußen.
"Was soll das werden?"
Yoongi legte seine Hände beharrlich wieder auf meine Schultern zurück. Er übte leichten Druck aus. Seine Augen fixierten mich und einen Moment verlor ich mich in dem warmen braun seiner Augen, das kurz so aussah wie das goldene Braun der Herbstblätter. Sein Blick allein sorgte für einen flüchtigen Augenblick dafür, dass meine Atmung aussetzte.
"Atme tief durch, wenn du dich aufregst und konzentrier dich. Dann zähl langsam bis drei."
Yoongi würde nicht nachgeben solange ich seiner Bitte nicht nachgehen würde. Ich war beinahe gezwungen dieses kindische Spiel mitzuspielen. Seine Hände lagen schwer auf meinen Schultern, aber es war nicht unangenehm. Anstatt auf meinen Zorn, der immer weiter an die Oberfläche kriechen wollte, konzentrierte ich mich darauf. Auf seine warmen Hände auf meinen Schultern und seine dunklen Augen, die jeden Zentimeter meines Gesichts zu erfassen schienen.
Ich atmete tief ein, während Yoongi mich beobachtete. Ich konzentrierte mich ebenfalls auf sein Gesicht und studierte seine Gesichtszüge. Ich begann zu zählen. In meiner Stimme spiegelte sich immer noch mein Ärger wieder.
"Eins."
Mein Blick wanderte über sein Gesicht und blieb an seinen Augen hängen. Sie wurden von langen dunklen Wimpern umrahmt. Seine Wimpern waren länger als meine eigenen. Die Haut um seine Augen herum schimmerte leicht rötlich, was allein schon einen starken Kontrast zu seiner weißen Haut darstellte. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht, aber sie verdeckten nicht die tiefe Falte, die sich in seiner Stirn abzeichnete. Es schien so, als würde er mir leicht zunicken. Als würde er mich dazu aufmuntern fortzufahren.
"Zwei."
Ich konnte seine Hände auf meinen Schultern nun fast nicht mehr spüren. Dafür drohte ich mich in seinen Augen zu verlieren. Ich fragte mich, ob er wohl Kontaktlinsen trug. Das sonst so dunkle Braun wurde von einem schmalen goldenen Ring durchzogen, was nur dazu führte, dass ich meinen Blick nicht mehr davon abwenden konnte. Hauchdünne Linien führten zu seinen Pupillen, die wie schwarze Löcher auf mich wirkten. In ihnen konnte ich meine eigene Reflektion erkennen. Yoongi schluckte. Auch seine Augen waren keine Sekunde von meinem Gesicht gewichen. Ich konnte nicht erkennen, ob er in seinem Inneren vielleicht genauso vor Wut brodelte wie ich. Von außen ließ er nichts an sich heran. Ich atmete tief ein.
"Drei."
Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Ich wusste nicht, wie er es geschafft hatte, aber meine Wut war wie weggeblasen. Zurück blieb eine eigenartige Leere in meinem Brustkorb und der Gedanke an seine durchdringenden Blicke.
Ich senkte den Blick und biss mir auf die Lippe. Mein Brustkorb hob und senkte sich ruhig, aber mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen.
"Ich will mich nicht mit dir streiten.", sagte ich leise.
"Ich hätte mir nur gewünscht, dass du derjenige sein würdest, der es mir sagt."
Seine Hände fuhren von meinen Schultern hinunter zu meine Händen und er fuhr behutsam mit seinen Fingern über meine Haut.
"Ich wollte auch derjenige sein, der es dir sagt. Aber du weißt, dass ich nicht der Schnellste bin."
Er brachte es doch tatsächlich fertig, mich in dieser Situation zum Lachen zu bringen. Dabei wollte ich eigentlich noch ein wenig wütend auf ihn sein. Oder zumindest nicht gleich ganz nachgeben.
"Das habe ich schon bemerkt."
Yoongi nahm meine Hände fest in seine. Seine Augen waren auf unsere verflochtenen Finger gerichtet.
"Ganze zehn Jahre hat es gedauert, bis wir zusammen gekommen sind."
Er legte seine Hand an meine Wange und sein Daumen strich vorsichtig über die Stelle, wo sich noch vor wenigen Minuten ungewollt Tränen ihren Weg nach draußen gebahnt hatten.
"Bitte glaub mir, dass ich es dir heute sagen wollte. Ich wusste einfach nicht wie."
Er zögerte, aber nun war ich diejenige, die ihn an mich zog und fest drückte. Seine Arme legten sich um meinen Körper wie eine warme Decke und ich schloss für ein paar Sekunden die Augen. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht, auch wenn ich die Worte bereits gefühlt tausendmal in meinem Kopf wiederholt hatte.
"Du wirst drei Monate nicht hier sein. Ich werde dich drei Monate nicht sehen können.", sagte ich gegen den Stoff seines Pullovers und seine Umarmung wurde fester.
"Was soll ich denn drei Monate ohne dich machen?", sprach ich weiter. Ich wusste selbst, dass ich mich wie ein weinerliches Kind verhielt, aber ich konnte es einfach nicht abschalten. Es war wie Yoongi gesagt hatte: Zehn Jahre hatte es gedauert, bis wir zueinander gefunden hatten. Wir waren nicht einmal einen Monat zusammen, aber der Alltag mit Yoongi fühlte sich bereits so natürlich an, dass ich nicht darauf verzichten wollte.
Yoongi hielt mich abrupt einige Zentimeter von sich weg. Seine Augen waren groß geworden, als hätte er einen Einfall gehabt.
"Du kommst mich einfach besuchen.", sagte er gerade heraus und seine Stimme klang so überrascht, das ich kurz auflachte. Bei ihm klang es so einfach.
"Ich kann dich nicht besuchen kommen. Weißt du wie teuer so ein Flug in die USA ist? Außerdem kann ich nicht so einfach hier weg. Ich hab immer noch Vorlesungen und Projekte.", bemerkte ich. Yoongi drückte mich auf das Sofa und nahm mir gegenüber Platz. Unsere Beine verhakten sich ineinander.
"Warte einen Moment. Das ist die Idee." Seine Hände hielten meine Schultern immer noch fest.
"Du wirst Anfang der Winterferien nachkommen, und dann kannst du entweder bis Neujahr bleiben oder für Weihnachten wieder zu deiner Familie. Ganz egal. Aber du hast mindestens zwei Wochen Zeit um mich besuchen zu kommen.", sagte er euphorisch.
"Ich weiß nicht...", zögerte ich. Um das Geld für einen Hin- und Rückflug aufzutreiben musste ich mindestens einen Monat arbeiten und vielleicht sogar noch andere Schichten im Café übernehmen. Außerdem was waren schon zwei Wochen im Vergleich zu drei Monaten? Yoongi erriet meine Gedanken.
"Besser als überhaupt nicht. Und mach dir über den Flug keine Sorgen. Suji wird auch um die Zeit nachkommen und Big Hit arrangiert einen Flug für euch beide." Meine Augen wurden groß wie Teller, als er diesen Vorschlag machte.
"Du meinst einen Privatflug?", fragte ich entgeistert. Yoongi winkte ab.
"Mach dir darüber keine Sorgen, okay? Wir bekommen das hin."
Ich traute mich schon nicht mehr irgendetwas gegen diese Idee zu sagen. Yoongi sah einfach zu glücklich und zufrieden aus, als dass ich seiner Freude nun die Tür vor der Nase zu schlagen wollte.
"Klar... wir bekommen das hin.", sagte ich vorsichtig. Ich war mir sicher, dass Yoongi früher oder später einsehen würde, dass sein Plan so nicht in die Tat umgesetzt werden konnte, aber seinem Gesichtsausdruck nach zufolge, würde die Einsicht wohl eher später kommen.
"Es wird funktionieren. Du wirst schon sehen."
Er zog mich in eine Umarmung und ich ließ meinen Kopf kraftlos gegen seinen Oberkörper fallen.
Wir bekommen das hin.
Wenn Yoongi das schon sagte...
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