65. Kapitel
Jungkook blieb skeptisch, deswegen entschied er noch das restliche Stockwerk zu durchsuchen. Ich folgte in der Zeit meiner hoffentlich richtigen Eingebung.
Er wollte über etwas nachdenken.
Das war der Moment gewesen, in dem in meinem Inneren etwas geklingelt hat.
Es ist ein guter Ort zum Nachdenken.
Das hatte er vor nicht einmal zwei Tagen selbst gesagt. Ich glaubte fest daran ihn dort wiederzufinden. Die Tür zum Dachgarten war geschlossen. Ich atmete tief ein und aus bevor ich den kalten Knauf der Tür in meine Hand nahm und die schwere Tür aufdrückte.
Ich konnte nicht einmal ansatzweise erklären, wie erleichert ich war, ihn hier zu finden. Endlich. Mir kam es so vor wie eine Ewigkeit, die wir nach ihm gesucht hatten, dabei war es gerade einmal eine gute Stunde gewesen - wenn es hoch kam. Meine Beine taten mir bereits weh und ich war gegen Ende immer langsamer geworden.
Dann rief ich mir jedoch das Gesicht des Jungen ins Gedächtnis und entschied, dass ich nicht aufgeben konnte, ehe wir ihn gefunden hatten. Das war ich ihm irgendwie schuldig. Wenn nicht einmal die Jungs und Suji ihn fanden oder eine Ahnung hatten wo er sein könnte, musste ich ihn eben finden. Ich schrieb Suji schnell, dass ich Yoongi gefunden hatte und dass wir uns im Gemeinschaftsraum treffen würden. Dann packte ich das Handy schnell wieder ein.
Jeder, der das Dach betreten hätte, hätte gedacht es wäre verlassen, aber das plötzliche Summen der Luft hatte mir schon beim Betreten gesagt, dass ich ihn hier finden würde. Und genau da stand er auch. Am Rande des Daches, seine Hände in den Taschen vergraben, und starrte auf die Stadt hinunter.
Ich schüttelte den Kopf. Es schien beinahe so als hätte er die Zeit um sich herum vollkommen vergessen. Als gäbe es in diesem Moment nur ihn und die immer dunkler werdende Stadt. Nichts weiter.
Wortlos stellte ich mich neben ihn und einen Augenblick lang war er ziemlich überrascht mich hier zu sehen. Er fasste sich aber schnell wieder.
"Die Jungs suchen dich. Ich dachte ich sag dir lieber Bescheid.", sagte ich leise.
Der Dachgarten bot so viel Platz, dass man sich hier wohlmöglich prima verstecken konnte, ich hatte den Jungen trotzdem in wenigen Augenblicken entdeckt. Ihn konnte man hier einfach nicht übersehen. Seine Ausstrahlung allein reichte um ihn ausfindig zu machen. Seine hellen Haare sorgten auch nicht gerade dafür, dass er zwischen den dunklen Blättern verschwinden konnte. Das Gelände war kalt unter meinen Fingern, aber Yoonig stand so nah neben mir, dass seine Wärme auf mich abfärbte. Ein paar Lichter der Innenstadt gingen schon an und mit jeder Sekunde wurde es dunkler um uns herum.
"Woher wusstest du, dass ich hier oben sein würde?"
Ich zuckte mit den Schultern.
"Jungkook hat erwähnt, dass du über etwas nachdenken wolltest. Und das hier ist ein prima Ort zum Nachdenken, richtig?"
"Richtig."
"Wie kommt das?"
Ich konnte nicht verhindern, dass mir bei seinem Anblick ein Lächeln auf die Lippen trat. Egal wie sauer ich war, die Erleichterung, die ich in diesem Moment verspürte war größer. Er drehte sich nicht zu mir um, aber ich konnte sehen, dass er ebenfalls leicht lächelte.
"Keine Ahnung. Vielleicht... weil man von hier oben einfach den vollen Überblick hat."
Ich folgte seinem Blick. Die Mond bahnte sich seinen Weg hinter den Bergen hervor. Die Sonne war langsam aber sicher gesunken. Ich hörte seinen ruhigen Atemzügen zu. Mein Herzschlag hatte sich auch langsam wieder beruhigt. Ein wenig schneller schlug es trotz allem immer noch und das lag nicht an der Suche, die uns durch das gesamte Gebäude geführt hatte. Das hämmernde Herz lag einzig und allein an der Person neben mir.
"Warum bist du hier?" Yoongis Frage brachte mich ein wenig aus dem Konzept.
"Du warst wie vom Erdboden verschluckt und hast auf keine Anrufe reagiert. Wir haben uns Sorgen gemacht.", sagte ich, doch Yoongi schüttelte den Kopf. Sein Blick war immer noch auf die Stadt unter uns gerichtet.
"Ich meine nicht hier auf diesem Dach." Er machte ein paar Handgesten. "Ich meine hier in Seoul."
Seine Worte versetzten mir einen kleinen Stich. Er tat ja geradeso als würde er es bedauern mich wiedergetroffen zu haben. Ich knirschte mit den Zähnen.
"Ich bin umgezogen, das hab ich dir doch schon erzählt-"
"Wir haben uns in Daegu kennengelernt. Wieso mussten wir uns hunderte Meilen weiter weg wieder begegnen?"
"Zufall, schätze ich."
Yoongi schüttelte nur abwesend den Kopf.
"Ich glaube nicht an Zufälle.", sagte er leise. Ich nickte und blickte wieder nach unten. Die Stadtlichter und die entfernten Geräusche waren irgendwie beruhigend. Ich konnte verstehen, warum es Yoongi immer nach oben zog. Er kam von der stickigen Stadtluft in die unendliche Weite mit unbegrenzten Möglichkeiten und tonnenweise frischer Luft.
Nach einer Weile fing der Junge wieder an zu reden.
"Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Ich dachte nicht mehr, dass wir uns jemals wieder sehen werden.", sagte er und ich nickte.
Den Gedanken hatte ich oft gehabt. Vor allem als er gerade frisch weggezogen war. Mit den Jahren war das Gefühl langsam abgeklungen, es hatte mich aber nie ganz verlassen.
Es waren Jahre vergangen in denen wir in der gleichen Stadt lebten und uns trotzdem nie über den Weg gelaufen waren und dann auf einmal stand er einfach so vor mir, in dem Café in dem ich arbeitete und bestellte sich einen Kaffee. Dabei hätten noch Jahre vergehen können, in denen wir uns nicht gesehen hätten. In dieser Stadt konnte man in demselben Gebäude leben ohne sich auch nur einmal zu begegnen. Es war ein Wunder, dass ich manche Nachbarn überhaupt beim Namen kannte. Und doch musste man sich schließlich irgendwann über den Weg laufen.
"Ich hätte nicht gedacht, dass ich so ein Glück haben würde.", sprach er weiter und es war das erste Mal, dass er sich direkt zu mir wandte. Er sah müde aus. Unter seinen Augen befanden sich schwarze Ringe und er wirkte so, als habe er ein paar Tage lang kein Auge zugemacht. Ich fragte mich unwillkürlich, wie lange er das Leben als Idol noch so hinnehmen wollte und auch konnte. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen bei diesem Gedanken. Yoongi arbeitete einfach zu viel. Das hatte er immer schon getan. Schon als wir in der Schule waren und unsere einzige Sorge unsere Hausaufgaben hätten sein sollen.
Yoongi griff unvermittelt nach meiner Hand. Ich runzelte die Stirn.
"Was machst du da?"
"Mein Päckchen loswerden.", sagte er und ich sah ihn verständnislos an.
"Ich hab dir gesagt, dass du es mitbekommen wirst, wenn ich es loswerde.", sagte Yoongi dann und seine Worte ließen mich aufhorchen.
Er schnaubte.
"Ich habe es immer verdrängt. In Wahrheit wollte ich es nie wahrhaben. Ich habe es die ganze Zeit verdrängt.", sprach er weiter und mir war immer noch nicht klar, worauf er eigentlich hinaus wollte.
"Erinnerst du dich an deine erste Party in Daegu?"
Ich nickte.
"Unser Kuss...", sagte er dann und zögerte. Mein Herzschlag setzte schlagartig aus. Damals hatte ich geglaubt, dass nur ich diese Erinnerung in mir trug. Und ich war zufrieden damit gewesen. Später hatte er mir gebeichtet, dass er sich daran erinnerte und ich konnte auch damit leben. Mehr oder weniger. Aber warum erwähnte er es nun erneut?
Er drückte meine Hände einmal beschwichtigend.
"Ich dachte es wäre nur ein dummer Traum gewesen, aber als du mir schließlich die Wahrheit gesagt hast..." Er stockte schon wieder und atmete einmal tief durch, bevor er mit ruhiger Stimme fortfuhr.
"Der Traum war plötzlich Wirklichkeit. Damit konnte ich nicht umgehen."
Er fuhr sich durch die Haare.
"Und dann als du mir vorgespielt hast, dass du mit Soomin zusammen bist, um über deine Gefühle hinweg zu kommen..."
Ich schlug die Hände vor mein Gesicht. Mir war noch nie etwas peinlicher, als in diesem Moment. Mein Gesicht lief rot an. Diesen Anblick wollte ich Yoongi wirklich ersparen. Er sah das allerdings anders. Er nahm meine Hände von meinem Gesicht erneut in seine Hände und schaute mir direkt in die Augen. Er sagte nichts weiter. Warum sprach er so viel von der Vergangenheit? Und was hatte das Alles mit seinem Päckchen zu tun?
"Bist du mir deswegen immer noch böse?", fragte ich leise und wich seinem Blick weiterhin aus. Er legte seine Hand unter mein Kinn und brachte mich dazu ihn anzuschauen. Er schüttelte den Kopf. Ich lächelte erleichtert.
"Ich hab mich nur immer wieder gefragt, wie ich so dumm sein konnte, dass ich nichts davon bemerkt habe.", sagte er schließlich und ich schaute auf den Boden.
"Ich bin froh. Ich wollte nicht, dass irgendwer darüber Bescheid wusste."
"Du hast dich vor allen verschlossen.", bemerkte er. "Du hast es niemandem gesagt?" Ich schüttelte den Kopf, bis mir etwas einfiel.
"Außer Minseok. Er hat es irgendwie gespürt.", fiel mir wieder ein. Yoongi lachte.
"Dann war die einzige Person, die gesehen hat wie es dir ging, die Person mit der du am wenigsten zu tun haben wolltest? Wie ironisch."
Ich musste ebenfalls leise lachen.
"Er ist einer von den Guten. Das weiß ich jetzt und ich mag ihn. Er macht meine Mutter glücklich.", sagte ich und Yoongi nickte verstehend. Dann seufzte er tief.
"Und dann ging ich nach Seoul." Er wandte sich wieder dem Stadtgeschehen vor uns zu. Seine Augen fixierten dabei nichts bestimmtes, sondern schauten in die Vergangenheit. Fast zehn Jahre zurück. Ich atmete tief ein. Die nächsten Worte waren wie Steine in meinem Herzen, auch nach so langer Zeit, aber irgendetwas sagte mir, dass es der richtige Augenblick war um ehrlich mit ihm zu sein.
"Erinnerst du dich noch daran, als ich dir gesagt habe, dass ich Gefühle für dich hatte? Damals als wir in dem Aufzug festsaßen?"
Er nickte und bedeutete mir mit seinem Blick fortzufahren.
"Ich habe dir gesagt, dass meine Gefühle Vergangenheit sind.", sagte ich leise. Ich lächelte Yoongi von der Seite her an.
"Das war eine Lüge.", erklärte ich ihm und er blickte auf seine Füße. Es war unmöglich zu wissen, was er in diesem Moment dachte. Ich lachte leise.
"Ich hab allen immer vorgespielt, dass es mir gut ging. Ich habe mir selbst auch immer etwas vorgespielt. Eine Zeit lang wollte ich es mir selbst nicht eingestehen. Erst als du weg warst hab ich erkannt, dass ich unglaublich dumm war."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Aber diese Einsicht kam wohl zu spät.", sagte ich. Yoongi räusperte sich. Er spannte sich plötzlich an.
"Es ist nie zu spät.", sagte er leise.
"Ich muss dir auch etwas beichten aus dieser Nacht.", sagte er langsam.
"Als wir im Aufzug saßen und du deine Gefühle gestanden hast. Du warst eingeschlafen. Wir warteten schon seit einer Weile und deine Worte wollten mir nicht mehr aus dem Kopf."
Mir war es am liebsten, dass wir diesen Teil der Konversation einfach übersprangen und wieder zurück zu den Jungs und Suji gingen. Yoongi blieb von der Sorge seiner Freunde allerdings vollkommen unberührt.
"Ich wollte nur wissen, wie es sich anfühlt.", sagte er und ich schaute ihn verständnislos an. Was wollte er damit sagen? Er nahm meinen Blick wahr und lachte leise.
"Ich hatte gefürchtet, dass du alles mitbekommen hast und ich dir alles erklären muss. Du bist sofort wach geworden. Du hast aber nie etwas erwähnt. Ich dachte..." Er stockte. Dann fuhr er leise fort.
"Ich habe eingesehen, dass ich deine Gefühle erwidere und ich habe dich geküsst.", sagte er und mein Mund sprang auf. Die Erinnerungen brachen über mich ein, wie ein Tsunami. Ich erinnerte mich. An seine Augen, die meinen so nah gewesen waren. Wie er zurückgezuckt war und den Blick abgewandt hatte, als hätte er etwas Verbotenes getan. Jetzt verstand ich endlich warum.
"Ich dachte es war nur ein Traum.", sagte ich und holte tief Luft. Er hatte Gefühle für mich gehabt?
Yoongis Kopf schoss in die Höhe.
"Du erinnerst dich?" Ich nickte und dieses Mal war Yoongi derjenige, der sein Gesicht in den Händen vergrub und ich war diejenige, die nach seiner Hand griff und sie drückte.
Er öffnete den Mund, so als wolle er etwas sagen, blieb dann aber stumm. Seine Augen schweiften zum Himmel und wieder zu mir zurück.
"Was-", fing er an, doch unterbrach sich. Er starrte auf unsere miteinander verflochtenen Hände. Er schluckte und ich wartete, außen ruhig, aber innerlich schlug mein Herz so schnell wie schon lange nicht mehr.
"Was würdest du heute sagen?", stellte er die Frage.
"Wenn ich dich fragen würde wie du zu mir stehst?"
Ich schaute auf die Stadt. Die Lichter schienen meilenweit entfernt zu sein und die Geräuschekulisse rückte mit jeder Sekunde weiter in den Hintergrund. Es gab nur ihn und mich. Jetzt wusste ich, was er damit meinte, dass man hier oben gut nachdenken könnte. Es galt jetzt oder nie.
"Eigentlich hat sich nichts geändert.", sagte ich und schaute ihm tief in die Augen. Seine Augen funkelten.
"Für mich auch nicht.", sagte er dann leise und mein Herz wollte vor Freude anfangen zu tanzen, zu schreien und zu singen. Alles gleichzeitig. Ich konnte nicht in Worte fassen, wie glücklich ich war diese Worte nach so vielen Jahren aus seinem Mund zu hören.
Doch die Sorge überwog letztendlich und schwebte schwer über uns. Für uns hatte sich nichts geändert. Wir waren immer noch wir. Doch eigentlich hatte sich alles geändert. Auch wenn unsere Gefühle dieselben waren, konnten wir in unseren beiden Welten jemals zusammen glücklich werden?
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