49. Kapitel
In der einen Sekunde saßen wir noch in der Cafeteria zusammen und lachten und scherzten zusammen, regten uns über die Schule und über die nie enden wollenden Hausaufgaben auf und in der anderen Sekunde war alles anders.
In der einen Sekunde stieg er noch die zahlreichen steilen Treppen hinauf und stieg ins Flugzeug und in der anderen erhob sich das Flugzeug schon in die Lüfte und verschwand zwischen den dunklen Wolken, die eine ebenso dunkle Stimmung zurückließen. Die Zwillinge und ich hatten ihn zum Flughafen begleitet. Wir umarmten ihn einer nach dem anderen und wünschten ihm viel Glück. Zu etwas anderem waren wir kaum mehr im Stande, so bedrückt waren wir. Der endgültige Abschied lag schwer auf uns.
"Ich werde euch schreiben.", sagte Yoongi.
Wir nickten stumm.
"Wir bleiben in Kontakt.", sagte Johae leise und ich schluckte schwer, denn innerlich war es das, was ich am meisten fürchtete. Dass der Kontakt nicht bestehen bleiben würde und wir uns alle aus den Augen verloren.
Ich war den Tränen nahe, aber das wollte ich die Jungs unter keinen Umständen sehen lassen. Ich schlug Yoongi spielerisch gegen den Oberarm. Er erinnerte sich. Und zog ein schmerzverzerrtes Gesicht. Dann grinste er.
"Autsch."
"Dieses Mal war es nicht so hart. Aber wenn du jemals Zweifel haben solltest. Denk einfach daran zurück."
"Das werd ich.", sagte er mit einem Mal wieder ganz ernst, bevor er mich erneut in die Arme nahm. Dieses Mal kullerte tatsächlich eine kleine Träne aus meinem Augenwinkel, ohne dass ich auch nur das geringste dagegen tun konnte. Johae und Jinho legten mir jeweils eine Hand auf die Schultern und zogen mich sanft von Yoongi weg.
Er lächelte leicht und in seinen Augen konnte ich vor allem eines lesen. Eine simple Nachricht, die aber eine enorme Auswirkung hatte.
Alles wird gut werden.
Ich musste immer lächeln, wenn ich an diesem Moment zurück dachte, auch wenn es eigentlich traurig war. Es war schön traurig.
Nach seiner Verabschiedung standen wir die meiste Zeit im Hintergrund, weil Yoongi sich von seiner Familie verabschiedete. Die hatte ihn und seine Koffer mit einem gemieteten Auto zum Flughafen gebracht. Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass seine Familie nicht sehr glücklich war über seinen Umzug. Zumindest seine Eltern schienen nicht sehr begeistert von der Idee, ihr Sohn könnte alleine in Seoul umherstreifen oder es als Produzent schaffen. Und das auch noch bei einem Entertainment, dass im Vergleich zu den großen Agenturen noch sehr klein war. Lediglich sein Bruder drückte ihn beherzt und klopfte ihm auf die Schulter. Er lächelte schwach.
Und dann standen wir da. Eine Ansammlung von Menschen, die sich an die Fensterscheiben drückten, um einen Blick auf die Flugzeuge ihrer Liebsten zu erhaschen. Ich hatte einen Kloß im Hals und als Johae schließlich in die Ferne zeigte und "Das ist es.", sagte, schnürte sich mir die Kehle nur noch enger zu. Ich brachte kein Wort heraus, nicht einmal einen Schluchzer.
Das Flugzeug reihte sich in eine lange Schlange von Flugzeugen, die alle hintereinander im Sekundentakt in die Lüfte steigen sollten. Kaum war das erste Flugzeug in der Luft, rollte auch schon das nächste heran und nahm an Fahrt auf. Erst langsam und dann immer schneller hoben sie sich in die Luft und wurden mit jeder Sekunde kleiner und kleiner. Dann verschwanden sie eines nach dem anderen zwischen den Wolken.
Noch drei, noch zwei, eins. Jetzt war er an der Reihe.
Ich stellte mir vor, wie er gerade im Flugzeug saß. Ob er seine Nase vielleicht auch so nah an das Fenster drückte und einen letzten Blick auf Daegu warf? Ob er vielleicht in unsere Richtung sah und ahnte, dass wir genau das gleiche taten wie er?
Ich schloss die Augen für einen Moment, in der Hoffnung ihm so meine Gedanken zu schicken.
Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut werden. Wenn du jemals eine Schulter brauchst, bin ich für dich da. Komme was wolle und egal was nun geschehen wird.
Das Flugzeug brachte sich in Position und rollte langsam los. Dann wurde es immer schneller und als es schon fast das Ende der Fahrbahn erreicht hatte hievte es sich so schwer in die Höhe, das ich beinahe befürchtete, es müsse unter dem ganzen Gewicht in zwei Hälften brechen. Doch dann hoben sich auch die Hinterreifen in die Luft und das Flugzeug flog steil in den Himmel. Wir verfolgten es mit unseren Augen, sahen dabei zu, wie es hinter Wolken verschwand und nach ein paar Sekunden wieder sichtbar wurde. Irgendwo schrie ein kleines Kind, das wahrscheinlich gerade seinen Großeltern nachweinte und ich hätte mich am liebsten angeschlossen. Dann verschwand das Flugzeug ein letztes Mal hinter den dunklen Gewitterwolken und kam nicht wieder hervor.
Das war es. Das war das Ende. Nur das die Zeit weiterlief. Sie hatte nicht gestoppt, auch nicht in dem Moment, in dem Yoongi sich unserem Blickfeld entzogen hatte. Das Leben ging weiter.
Seine Familie brachte das Auto zurück und wir nahmen den Bus. Wir sprachen den Rückweg über kein einziges Wort miteinander. Irgendwann, ich weiß nicht mehr genau wann, fing es an zu regnen. So wie es sich schon seit dem frühen Morgen angekündigt hatte. Es war als würde der Himmel mit uns trauern. Als wäre die Stadt genauso traurig darüber, dass Yoongi nun weg war, wie wir. In der Ferne hörte man das dumpfe Grollen des Donners und in meinem Augenwinkel sah ich den Blitz noch schnell über den Himmel huschen. Dicke Regentropfen klatschten an die Scheiben und eine Weile verfolgte ich die Regentropfen bei ihrem Rennen. Ich versuchte mich mit aller Kraft abzulenken. Denn alles war besser, als darüber nachzudenken, dass er nun 250 km von uns entfernt war.
An fünf Haltestellen vor meiner stiegen Johae und Jinho nur mit einem einfachen Kopfnicken aus und ließen mich in meinen dunklen Gedanken zurück. Die Straßen flogen an mir vorbei und ich kam erst wieder zu mir, als ich die vertraute Umgebung meiner Wohnstraße erkannte und der Bus langsam zum Stehen kam. Als ich ausstieg trat ich in eine große Pfütze. Meine Füße waren nass und kalt, aber es hätte mich nicht weniger kümmern können. Ich war einfach nur traurig.
Ich öffnete die Haustür leise und schlüpfte in die Wohnung, um meine Familie nicht zu wecken. Doch das war gar nicht notwendig. Meine Mutter war schon wach und erwartete mich in der Küche. Sie war auch schon aufgewesen, als ich an diesem Morgen aufgestanden war, um mich fertig zu machen, aber ich hatte ihr gesagt, sie solle sich noch etwas hinlegen. Immerhin war Samstag und ich war bereits um kurz nach fünf aufgestanden, um pünktlich am Flughafen sein zu können. Meine Mutter hatte offenbar nicht auf mich gehört, denn als ich zur Küche kam, wartete schon eine heiße Schokolade in meiner Lieblingstasse auf mich und meine Mutter bereitete das Frühstück vor.
Bei diesem Anblick kamen mir fast die nächsten Tränen und ich umarmte sie stürmisch.
"Huch?"
"Danke Mama.", murmelte ich in ihre Haare und sie strich mir über den Rücken.
"Meine Mihee."
Meine Mutter hatte Superkräfte. Davon war ich nun überzeugt. Sie sagte nichts, sie drängte mich zu nichts und sie fragte nicht nach, wie es am Flughafen war. Sie nahm mich einfach in die Arme und drückte mich fest an sich. Das war mehr Aufmunterung, als ich mir an diesem Morgen hätte wünschen können.
Ich setzte mich auf meinen Stuhl und stützte meinen Kopf auf die Hände. Wortlos tat meine Mutter mir einen großen Schlag Rührei auf meinen Teller und ich fing appetitlos an zu essen. Das Rührei, wovon ich sonst immer bergeweise essen konnte, fühlte sich auf einmal wie Pappe in meinem Mund an. Es verklumpte zu einer ungenießbaren Masse. Ich legte die Gabel wieder beiseite. Meine Mutter beobachtete mich aufmerksam.
Sie schüttete mir noch einen Rest heißer Schokolade nach. Aber nicht einmal die Marshmallows, die sie darauf verteilte, brachte mich zu einer Reaktion. Ich starrte einfach vor mich hin. Sie seufzte leise, sagte aber immer noch nichts. Sie machte auch keine Anstalten in den nächsten Minuten etwas zu sagen. Stattdessen saß sei einfach da und leistete mir still Gesellschaft. Irgendwann hielt ich die Stille in unserer Wohnung und das fröhliche Zwitschern der Vögel draußen nicht mehr aus.
"Ich vermisse ihn.", sagte ich leise und meine Mutter griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand. Sie strich mir über den Handrücken.
"Ich weiß.", sagte sie langsam. "Aber es wird besser werden."
Ich biss mir auf die Lippe. Ich war mir da nicht so sicher.
"Ich weiß nicht.", sagte ich unsicher.
Meine Mutter holte tief Luft. Sie drückte meine Hand einmal beschwichtigend.
"Aber ich weiß es."
Eine Weile saßen wir einfach so ruhig da. Ich starrte vor mich hin und meine Mutter strich mir immer mal wieder sanft über den Handrücken.
"Dir liegt viel an ihm, hab ich recht?", fragte sie dann unvermittelt. Ich blieb stumm. Ich glaubte nicht, dass sie wirklich eine Antwort erwartete. Wahrscheinlich kannte sie die Antwort sowieso. Eigentlich war es genau die Antwort, die sie sich immer gewünscht hatte. Sie war von Anfang an ein Fan von Yoongi gewesen. Und ich konnte es ihr nicht einmal verübeln.
"Ich habe auch gedacht ich käme niemals darüber hinweg, weißt du.", sagte sie dann.
"Als die Sache mit deinem Vater war.", gestand sie und ich blickte überrascht auf. Sie redete nie über meinen Vater. Jedenfalls nie freiwillig. Das letzte Mal, dass ich mit ihm geredet hatte musste schon ewig her sein. Ich hatte mich absichtlich nicht mehr bei ihm gemeldet. Mir widerstrebte es einfach mich bei ihm zu melden, wo er doch derjenige war, der uns für eine andere Frau verlassen hatte. Er hatte seine Familie, seine Frau und seine Kinder für diese Frau verlassen.
An diesem Punkt wusste ich noch nicht einmal, ob ich überhaupt noch Kontakt zu ihm haben wollte, wenn er sich so entschieden dagegen wandte sich bei uns zu melden.
"Ich habe gedacht ich falle in ein tiefes Loch, als er mir alles gebeichtet hat.", sagte meine Mutter. Es war das erste Mal, dass sie so offen mit mir darüber sprach und ich wollte sie nicht daran hindern.
"Und ich dachte ich würde immer weiter fallen, und tiefer und tiefer. Und irgendwo würde der Boden auf mich warten und ich würde hart darauf aufkommen und mich nicht bewegen können. Ich dachte: Jetzt ist alles vorbei."
Ich schluckte schwer und drückte meinerseits ihre Hand. Ihre Augen waren auf einmal weit entfernt. Als würden sie in die Vergangenheit blicken.
"Ich dachte ich würde niemals davon loskommen. Ich dachte ich müsste immer in diesem dunklen Loch sitzen und traurig sein."
Dann lächelte sie.
"Aber so war es nicht."
Sie ließ ihre Blicke durch die Küche schweifen und ihre Augen blieben letztendlich an mir hängen.
"Ich hatte immer noch euch, meine Kinder, und als ich Minseok traf hat sich alles wie durch Zauberhand gewendet."
Sie lächelte mich aufmunternd an. Selbst jetzt in diesem Moment versuchte sie mich aufzumuntern, wobei sie doch selbst allen Grund dazu hatte traurig zu sein. Tränen sammelten sich in meinen Augen.
"Manchmal sollte man sich einfach ruhig hinsetzen und abwarten. Das Leben wird immer so verlaufen, wie es sein sollte. Und am Ende wird noch alles gut werden. Das hab ich damals gelernt."
Ich lachte leise auf, weil es so absurd war, dass meine Mutter noch etwas lernen konnte. Immerhin war es meine Mutter, die Frau, die auf alle meine Fragen eine Antwort hatte. Die Person, die immer einen Rat für mich hatte, egal um was es ging. Aber sie war auch nur ein Mensch. Sie war nicht vollkommen, auch wenn man seine Eltern oft in diesem Licht betrachtete. Sie hatte Fehler, was nur menschlich war und auch sie war mal traurig und niedergeschlagen. Und doch war sie nun hier und versuchte stark zu sein, für meinen Bruder und für mich.
In dem Moment verstand ich, dass sie in manchen Augenblicken versuchte zu perfekt zu sein. Um unseren Ansprüchen gerecht zu werden. Ein Mensch allein konnte das wohl kaum schaffen. Wahrscheinlich, oder ganz sicher sogar, kam auch von mir zu viel Druck.
"Ich dachte Erwachsensein ist einfacher."
Sie lachte. "Das denkt jeder, wenn er noch so jung ist. Aber so ist es nicht. Oder meinst du, nur weil ich alt bin, bin ich auch erwachsen?"
Davon war ich ausgegangen.
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein. Das Alter hat damit nichts zu tun. Man kann auch noch im Alter dazulernen. Und meistens sind das die wichtigsten Lektionen in unserem Leben. Das ist Erwachsenwerden", sagte sie.
"Und ich glaube ich habe es bis heute nicht geschafft, richtig erwachsen zu werden." Sie streckte über den Tisch und strich mir über die Haare.
"Aber du, du bist schon so erwachsen.", sie lächelte. "Ich bin richtig stolz auf dich."
Ich lächelte. Erwachsen war eine der Beschreibungen, die definitv nicht zu mir passten.
Ich musste mir eingestehen, dass ich meine Mutter bis dahin immer wie eine Art allwissendes Wesen eingestuft hatte, ohne jemals ihre menschliche Seite zu betrachten. Auch sie hatte schlechte Tage und es lag an mir ihr in diesen schweren Zeiten beizustehen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihr in all der Zeit, die wir nun schon in Südkorea waren, nicht wirklich geholfen hatte. Meistens hatte ich es nur noch schlimmer gemacht.
"Es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe.", sagte ich leise und meine Mutter runzelte die Stirn.
"Was?"
"Ich habe mich immer nur um mich selbst gekümmert und hab gar nicht an deine Gefühle gedacht.", sagte ich kleinlaut und erwartete schon eine Bestätigung, aber nichts dergleichen kam.
"Ich würde dich um nichts in der Welt eintauschen wollen, meine kleine.", sagte meine Mutter unvermittelt und kaum waren die Worte draußen, rollten die ersten dicken Tränen über meine Wangen und ich umarmte sie noch einmal fest.
Es dauerte einige Minuten bis ich mich von dieser emotionalen Achterbahnfahrt erholt hatte. Meine Mutter lächelte als sie mir noch einen Löffel Rührei auf meinen Teller tat. Auch wenn er schlecht angefangen hatte, wurde der Tag damit doch irgendwie noch schön. Jedenfalls schöner, als ich es noch beim Aufstehen gedacht hatte.
Um zehn schließlich tat sich auch etwas in Jitaes Zimmer. Mit verschlafener Miene und verstrubelten Haaren, die selbst den schlimmsten Vogelnestern Konkurrenz machte, betrat er die Küche.
"Was'n hier los?", fragte er und gähnte herzhaft. Er war der geborene Langschläfer. Hinter ihm trat nun auch Minseok in den Türrahmen. Er sah ähnlich verschlafen aus wie Jitae nur standen seine kurzen Haare etwas geordneter vom Kopf ab. Wüsste ich es nicht besser, hätte man glatt meinen können, die beiden wären verwandt.
"So früh schon alle wach?" Er gähnte ebenfalls und Jitae ließ sich auf seinen Platz fallen. Er schob Teller und Tasse beiseite und legte stattdessen seinen Kopf auf den Tisch. Seine Augen fielen wieder zu.
Meine Mutter und ich lachten.
"Ich mach euch noch Rührei.", sagte ich immer noch lachend und meine Mutter setzte in der Küche bereits eine neue Kanne Kaffee auf.
"Und heiße Schokolade.", flüsterte ich meinem Bruder leise ins Ohr, aber er regte sich keinen Zentimeter.
Jitae wurde bei der Erwähnung seiner geliebten heißen Schokolade normalerweise immer hellwach, aber heute sprang er nicht einmal darauf an.
Er nickte langsam und lächelte schwach aus halb geöffneten Augen. Ich ging schulterzuckend in die Küche.
Dann rief er: "Vergiss die großen Marshmallows nicht!"
Alles wie gehabt.
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