29. Kapitel
Mein Herz raste immer noch, als Soomin schon längst verschwunden war und ich die Tür zu unserer Wohnung bereits hinter mir verschlossen hatte. Hatte er gerade wirklich vorgeschlagen meinen Freund zu spielen? Und hatte ich wirklich seinem Plan seine Freundin zu spielen zugestimmt? Na prima. Keine zehn Minuten später und schon bereute ich es. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Vielleicht hatte ich zu vorschnell gehandelt. Nein. Ich hatte ganz sicher zu vorschnell gehandelt.
"Dumme, dumme Mihee.", sagte ich mir selbst und schlug meinen Kopf mehrmals gegen den Türrahmen. Ich erschrak fast zu Tode als Minseok seinen Kopf aus der Küche steckte und mich fragend beobachtete.
"Geht es dir gut?", fragte er. Sein Blick huschte zwischen Türrahmen und meinem Kopf hin und her. Ich ließ meinen Kopf dagegen lehnen. Ich schloss die Augen.
"Super. Es ging mir nie besser.", sagte ich sarkastisch und Minseok seufzte leise. Er ließ es glücklicherweise auf sich beruhen. Er lächelte aufmunternd und nickte in Richtung Küche.
"Deine Mutter und Jitae sind immer noch bei dem Fußballspiel. Deine Mutter meinte wir sollten schon einmal anfangen." Mein Bruder war neuerdings zu einem Fußballfan geworden und war einer Mannschaft hier in Daegu beigetreten für die er nun mit großer Leidenschaft spielte.
"Willst du...?" Minseok nickte erneut in Richtung Küche und ich nickte.
"Ja, ich komme jetzt.", sagte ich, harrte allerdings noch ein paar Sekunden in meiner Position aus. Minseok verschwand und ließ mich in meinem Selbstmitleid baden. Ich seufzte. Ich hatte noch nie alleine mit Minseok gegessen. Immer waren entweder meine Mutter oder mein Bruder dagewesen, die die Unterhaltungen mit ihm führten, während ich still schweigend mein Essen in mich hinein schaufelte. Doch dieses Mal würde ich um ein Gespräch wohl nicht so einfach herum kommen.
Ich hängte meine Jacke in die Garderobe und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Dann begab ich mich langsam ins Esszimmer, während ich immer und immer wieder die vergangenen Minuten in meinem Kopf Revue passieren ließ.
Der Tisch war bereits gedeckt, eine Sache, die meine Mutter so an sich hatte, weil sie es nicht haben konnte, wenn nichts auf dem Tisch stand. Minseok hatte auch schon das Essen, gebratene Nudeln, in einem Topf auf den Tisch gestellt und wartete erwartungsvoll, dass ich ebenfalls ihm gegenüber Platz nahm.
Als er mich langsam in den Raum kommen sah, setzte er sich noch aufrecht hin und lächelte mich überschwänglich an. Ich konnte nicht anders als leicht zurück zu lächeln, dafür gab er sich einfach viel zu viel Mühe.
Stillschweigend taten wir uns von den Nudeln auf den Teller und begannen zu essen. Obwohl ich es nicht unangenehm fand, wenn niemand etwas während dem Essen sagte, in dem Moment war die Stille mir schon fast ein wenig peinlich. Auch Minseok sah ich die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Er versuchte krampfhaft es zu verbergen, aber man konnte wahrscheinlich aus einer Meile Entfernung sehen, dass er nervös war. Noch nervöser als damals, als er und meine Mutter meinem Bruder und mir offenbarten, dass er bei uns einziehen würde.
"Wie war das Spiel?", fragte er auf einmal. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her.
"Gut. Wir haben gewonnen", sagte ich kurz angebunden, obwohl ich mir nicht einmal sicher war, ob wir wirklich gewonnen hatten, doch Minseok nickte.
"Gut.", sagte er und wir fielen erneut in Schweigen.
Das Klirren der Essstäbchen auf den Tellern war so laut, dass es mir so vorkam, als müsste man es mindestens bis zur nächsten Wohnung hören können. Minseok räusperte sich.
"Und was hast du sonst noch so gemacht heute?" Ich atmete laut. Irgendwie tat mir Minseok leid, dass er so krampfhaft versuchte eine Konversation aufzubauen. Aber ich war sicherlich nicht in der Verfassung für so etwas, weswegen ich meine Antworten so kurz wie nur möglich hielt.
"Nichts weiter. Hausaufgaben... Nichts besonderes."
"Aha. Schön, schön.", er nickte langsam.
"Ich finde es gut, dass du dich so in die Schularbeit reinhängst.", lobte er mich und ich versuchte es erneut mit einem kleinen Lächeln. Schon wieder Stille.
"Du und dieser Junge..."
Ich hielt mitten in der Bewegung inne, als ich begriff. Daher wehte also der Wind. Minseok war neugierig. Wegen Soomin. Ich sagte fürs erste nichts.
"Ihr scheint euch gut zu verstehen."
Das klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.
"Jap." Ich aß meine Nudeln weiter.
"Versteht ihr euch... besser?"
"Besser?"
"Also, besser als..." Bevor er es aussprechen konnte, ließ ich die Bombe platzen.
"Er ist... irgendwie... mein Freund?", sagte ich weit unsicherer, als ich mir das selbst gewünscht hatte. Ich ließ meine Augen nicht von Minseok. Ich war gespannt auf seine Reaktion. Und die hatte es wirklich in sich.
Er verschluckte sich an seinem Getränk und lief rot an, während er gleichzeitig versuchte zwischen unzähligem Husten wieder zu Atem zu kommen. Seine Augen standen weit hervor vor Schreck.
Ich schluckte schwer und wusste nicht was ich tun sollte. Deswegen tat ich so, als wäre es keine große Sache und stopfte Nudeln in meinen Mund. Minseok hatte sich wieder beruhigt.
"Du bist... bist du nicht etwas zu jung für... einen Freund?", fragte er unsicher und ich atmete tief ein.
"Ich denke nicht?"
Minseok legte seine Essstäbchen an die Seite und faltete die Hände zusammen.
"Und was sagt deine Mutter dazu?"
"Sie sagt gar nichts dazu. Weil sie es nicht weiß."
Minseok legte die Stirn in Falten und kratzte sich am Hinterkopf.
"Ich... fühle mich geehrt, dass du es mir gesagt hast. I-Ich weiß-"
Ich winkte schnell ab, bevor Minseok zu emotional wurde. Und erzählte prompt die Wahrheit.
"Er ist nicht wirklich mein Freund." Kaum waren die Worte raus, hätte ich mich dafür am liebsten geschlagen.
"Er ist dein Freund, aber irgendwie auch nicht? Das musst du mir erklären."
Ich schluckte schwer und wich seinem Blick aus. "Naja, wir tun nur so..."
"Ihr tut nur so als wärt ihr zusammen?" Ich nickte langsam unnd Minseok seufzte tief.
"Ähm... ja. Ist kompliziert."
"Erklär es mir." Er schaute mich aufrichtig an. Gerade als ich anfangen wollte zu sprechen zögerte ich.
"Du musst dir das nicht anhören. Vergiss einfach, was ich gesagt habe-"
"Ich will es aber verstehen." Er raufte sich die Haare. "Du bist doch ein schlaues Mädchen. Warum machst du dann so etwas?"
Ich schob meinen Teller beiseite. Der Appetit war mir gänzlich vergangen.
"Es ist ja nicht so, als ob ich mir das ganze ausgesucht habe!", sagte ich aufgebracht, was mir sofort wieder leid tat, weil Minseok absolut nichts für meine Situation konnte.
Er zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Er blieb, trotz meines Ausbruchs, vollkommen ruhig. Und ich sprach schließlich weiter. Es musste irgendwann sowieso gesagt werden. Warum also nicht jetzt?
"Soomin hat es gesagt um Yoongi loszuwerden, weil ich traurig war und er mich nicht so sehen sollte. Da ist es Soomin einfach so herausgerutscht. Als Notlösung."
Minseok sah so aus als würde er erst einmal eine Weile brauchen, um das Gesagte zu verarbeiten. Ich winkte wieder schnell ab.
"Aber es war eine dumme Idee. Das werde ich morgen klären." Ich lächelte leichte und Minseok schüttelte den Kopf.
"Dir liegt wirklich viel an Yoongi, oder?"
Ich starrte auf den Tisch, konnte aber nicht verhindern, dass ich rot wie eine Tomate wurde. Ich nickte.
"Das ist wirklich etwas kompliziertes in das du dich da hineingeritten hast.", sagte Minseok schließlich seufzend.
"Das kannst du laut sagen." Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich schaute erst wieder auf, als ich eine Hand auf meinem Rücken spürte. Eine Hand die beruhigend auf und ab fuhr. Minseok strich mir beruhigend über den Rücken. Und er lächelte leicht.
"Keine Sorge. Das wird schon wieder. Es gibt nichts, dass sich nicht lösen lässt.", sagte er und ich schaute ihn erstaunt an.
"Weißt du, ich habe so etwas auch früher gemacht. So getan, als wäre ich mit einem Mädchen zusammen, damit sie ihren Ex eifersüchtig machen konnte."
"Wirklich?" Das hätte ich niemals von Minseok gedacht. Als er in seinen Erinnerungen schwelgte lachte er leise.
"Es ist natürlich fürchterlich schief gegangen. Eigentlich wollte ich ihr nur einen Gefallen tun, weil sie eine meiner besten Freunde war, womit ich allerdings nicht gerechnet hatte war, dass ihr Ex mir dafür gehörig eine verpassen würde."
Ich riss die Augen geschockt auf, als Minseok seine Geschichte erzählte, doch er lachte nur.
"Er hatte mir ein besonders schönes Veilchen verpasst. Aber für den Rest meiner Schulzeit musste ich mir keine Sorgen machen, dass mir irgendjemand blöd daher kam. Ich hab mich nämlich ziemlich gut geschlagen, wie ich finde."
"Du hast dich geprügelt?", fragte ich.
"Natürlich habe ich zurückgeschlagen. So konnte ich es ja nicht auf sich beruhen lassen. Nicht, wenn ich nicht die Lachnummer der ganzen Schule werden wollte. Ich finde, er sah sogar schlimmer aus als ich. Nur das Veilchen hatte ich nicht so schön hinbekommen.", erzählte Minseok lächelnd.
"Gewalt ist natürlich nie eine Lösung!", warf er schnell ein und ich lachte. "Nicht dass du denkst ich würde dir raten, dich zu prügeln. Das war absolut nicht das, worauf ich hinaus wollte." Ich lachte nur noch lauter bei seinem vergeblichen Versuch sich herauszureden.
"Was ich damit eigentlich sagen will, am Ende wird alles wieder gut werden. Auch wenn es im Moment nicht danach aussieht." Seine Augen blitzten. "Und egal was du machst, wenn du reden willst, bin ich für dich da."
"Danke.", sagte ich leise. Einerseits glücklich, andererseits verwundert. Es war wahrscheinlich die längste Unterhaltung, die ich jemals mit Minseok geführt hatte. Und ich hätte nicht gedacht, dass ich mich danach so viel besser fühlen würde.
Minseok stand abrupt auf und wandte sich mit dem Rücken zu mir zum Spülbecken um, um schon ein paar Schalen und Teller zu säubern.
"Außerdem... ich weiß, ich bin nicht dein Vater. Aber ich gebe mir Mühe. Nicht, um so etwas wie eine Vaterfigur zu werden, sondern damit es allen hier gut geht. Und das schließt dich mit ein.", sagte er dann. "Und ich hoffe, dass wir doch irgendwann gut miteinander auskommen können."
"Das hoffe ich auch.", sagte ich zu seiner Verwunderung. Und zu meiner.
Ich konnte es nicht leugnen, ich war wirklich gerührt von seinen Worten. Er hatte sich zumindest mehr um mich gesorgt in den letzten Wochen, als mein richtiger Vater es je getan hatte. Wann hatte ich das letzte Mal von ihm gehört? Ich wusste es nicht einmal. Und es war mir auch egal. Ich schnappte erschrocken nach Luft, als ich die Wahrheit hinter meinen eigenen Gedanken erkannte. Mein eigener Vater war mir im Laufe unseres Umzuges und neuen Lebens in Südkorea gleichgültig geworden. Minseok fasste meine Reaktion falsch auf und legte seine Hand auf meine Schulter.
"Wir bekommen das schon wieder hin."
Ich war Minseok noch nie so dankbar gewesen, wie in diesem Moment.
Genau in dem Augenblick, in dem sich Minseok wieder dem Spülen zuwandte, hörten wir, dass die Haustür aufgeschlossen wurde. Keine Sekunde später stand Jitae in der Küche, im Trikot und verdreckt von oben bis unten. Er strahlte von einem Ohr zum anderen.
"Wir haben gewonnen!"
"Hey, super!" Minseok schlug mit Jitae ein und dieser setzte sich an den Tisch, um sich über die Nudeln herzumachen. Nun stand auch unsere Mutter im Türrahmen.
"Und wie ist es gelaufen?" Man könnte denken, sie fragte wie das Basketballspiel gelaufen war. Ich wusste allerdings genau, was sie meinte. Ihr Blick lag auf Minseok und mir und sie lächelte erwartungsvoll. Ich sah über den Tisch hinweg zu Minseok. Er lächelte mich an. Ich lächelte zurück.
"Eigentlich ganz gut. ", sagte ich und Minseoks Lächeln wurde breiter. Ich hielt meine Schüssel, in der sich immer noch ein paar Nudeln befanden und die ich nun weiteraß, zur Bestätigung in die Höhe.
"Wir haben euch auch noch etwas dagelassen." Meine Mutter lächelte mich warm an und fuhr mir dann zu meiner großen Verwunderung zärtlich über den Kopf. Das hatte sie nicht mehr getan seit ich zehn Jahre alt war und fand, dass so eine Geste in meinem Alter nicht mehr angebracht war. Jetzt musste ich feststellen, dass das Gefühl sehr beruhigend war. Ich lächelte.
Endlich schien es wieder langsam bergauf zu gehen und meine Gefühle für Yoongi würde ich auch noch unter Kontrolle bringen. Dank Minseok wusste ich jetzt, dass ich immer mit ihm reden konnte und dass ich auch wirklich gut mit ihm reden konnte.
In meinem Zimmer runzelte ich verwirrt die Stirn über die letzten vergangenen Stunden. Minseok schien wirklich ein guter Mann zu sein. Ich nahm mir vor in nächster Zeit weniger egoistisch sein und auch einmal an meine Mutter denken und an den Stress und Kummer den ich ihr in den letzten Wochen sicherlich bereitet hatte. Er tat ihr gut mit Minseok zusammen zu sein. Eigentlich tat es uns allen gut. Selbst mir, die Minseok sonst eher feindlich gegenüber getreten war. Ich hoffte, dass sie wenigstens noch einmal nach unserem Vater glücklich werden konnte, richtig glücklich. So glücklich, dass sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete und ihr Lachen durch die ganze Wohnung hallte. So wie es früher gewesen war. Und nach diesem Tag hoffte ich wirklich, dass Minseok derjenige war, der meiner Mutter dieses Glück zurückgeben konnte. Wenigstens einer von uns hatte dieses Glück verdient.
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