Kapitel 8: Das Eröffnungsfest (I)
„Bist du aufgeregt?" Mein Vater stand mit verschränkten Armen vor einem großen bodentiefen Fenster und schaute nach draußen. Ich wusste, dass er sich absichtlich von mir abgewandt hatte, damit ich seine eigene Nervosität nicht sehen konnte. Ein unnötiges Unterfangen, denn ich konnte sehen, wie sein Zeigefinger in einem unruhigen Rhythmus auf seinen Arm tippte.
„Nein", log ich und strich zum tausendsten Mal mein Kleid glatt, von dem ich immer noch nicht wusste, wie es mir gefiel. Ich sah atemberaubend aus- doch gleichzeitig war ich mir so fremd, dass ich mich im Spiegel kaum erkannte.
Die letzten Tage waren binnen eines Wimpernschlags vergangen. Und nun saß ich in dem Zimmer, in dem ich die nächsten Wochen verbringen würde und wartete darauf, dass das Eröffnungsfest begann. Auch wenn ich es zuerst nicht gedacht hätte, so war ich nun doch neugierig darauf, die anderen Seelensucher heute das erste Mal anzutreffen. Sie waren alle im Laufe der letzten Woche in Belvêo angekommen und hatten im ganzen Land für große Aufregung gesorgt. Genau jetzt befanden sie sich in diesem Gebäude- dem Regierungshaus von Belvêo. Genauso wie ich warteten sie in diesem Moment darauf, sich den Menschen zu präsentieren, die nur wegen ihnen aus allen Ecken des Landes angereist waren.
Mir war bewusst, dass ich mich gedanklich bereits jetzt von den anderen Auserwählten abgrenzte. Doch darüber verspürte ich nicht das geringste schlechte Gefühl. Es war besser so. Ich durfte nicht riskieren, dass ich durch aufkommende Sympathie mein eigentliches Ziel aus den Augen verlor.
Plötzlich klopfte es und mein Vater, der immer noch aus dem Fenster starrte, zuckte zusammen. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet und eine Frau mit tiefroten Haaren lugte ins Zimmer. „Es ist gleich soweit. Bist du startklar, Limeana?"
Ich nickte und stand auf. Meine Hände, die bis eben noch leicht gezittert hatten, faltete ich nun locker und entspannt vor meinem Schoß.
„Super." Vermenia, wie die Frau hieß, grinste mich breit an. Sie würde bis zu dem Zeitpunkt, in dem ich das erste Mal einen Fuß in das Seelenland setzte, meine Organisatorin sein und meinen Stundenplan und alle anderen Aktivitäten Im Blick behalten, damit ich mich ganz und gar auf das Training konzentrieren konnte.
Vermenia betrat das Zimmer und schloss schwungvoll die Tür hinter sich. Ihr rotes Haar, dass zu einer kunstvollen Frisur aufgedreht worden war, bildete einen fast schon aggressiven Kontrast zu der gelb-weißen Einrichtung meines kleinen schönen Zimmers.
„Also, ich möchte mit dir noch einmal kurz den Plan für die nächsten Stunden durchsprechen, damit dein Auftritt perfekt wird. Aber keine Sorge, damit werden wir nicht viel Arbeit haben, du siehst einfach nur fantastisch aus."
Ich lächelte ein wenig gezwungen.
Vermenia schlug ein kleines Buch auf und zückte einen Stift aus einer praktischen Tasche, die sie sich um den Bauch geschnallt hatte. Sowas musste ich mir unbedingt auch irgendwann zulegen, denn damit konnte man bestimmt durch den Wald streifen ohne eine störende Tasche ständig auf dem Rücken tragen zu müssen.
„Das Fest wird in einer halben Stunde beginnen. Die anderen Organisatoren sind auch gerade bei ihren Schützlingen und besprechen den genauen Ablauf." Mit einem konzentrierten Blick blätterte Vermenia durch die Seiten. „Gleich werde ich dich in den Flur bringen, der zu der Empore führt, die über den Festbereich ragt. Du weißt, welche ich meine?"
Schnell nickte ich und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. In meinen Beinen kribbelte es, ich brauchte dringend ein wenig Bewegung.
„Sehr gut. Dort werden wir auf die anderen Seelensucher treffen. Allerdings werdet ihr alle den Umhang tragen, das bedeutet, dass ihr euch das erste Mal sehen werdet, wenn die Menschenmasse es tut. Ziemlich aufregend, ich weiß, aber keine Sorge, ihr werdet später noch genug Zeit haben, um euch kennenzulernen."
Um ehrlich zu sein, machte ich mir darüber die wenigsten Sorgen. Zwei Drittel der Teilnehmer würden bis zum letzten Hindernis bereits ausgeschieden sein, und da ich vorher nicht wissen konnte wer bis zum Ende durchhalten würde, erschien es mir nicht besonders ratsam, engen Kontakt aufzubauen.
„Dann wird Ranajea eine Ansprache halten, aber sie wird nicht alleine dort stehen. Die Regierungsleute aus den anderen Teilen des Landes werden mit ihr dort sein."
Auch das wusste ich bereits. Die fünf Seelensucher, die am Ende der Suche mit einer anderen Seele den magischen Teil unseres Landes verließen, wurden danach für drei Jahre ein Mitglied der Regierung im jeweiligen Teil des Landes, aus dem sie kamen. In diesen drei Jahren hatten sie die Möglichkeit, direkt in das politische Geschehen einzugreifen um das Beste aus unserem Land herauszuholen.
Zu Beginn hatte niemand es für eine gute Idee gehalten, dass Ranajea dieses Gesetz in Kraft treten ließ. Die Seelensucher seien zu jung, um eine so große Nation zu führen. Doch die Herrscherin hatten sich davon nicht beirren lassen und hatte diese Regelung durchgesetzt. Junge Menschen seien die beste Wahl, wenn es um neue und innovative Ideen ginge, hatte sie damals in ihrer berühmtesten Rede gesagt.
Seitdem waren keine größeren Beschwerden mehr aufgekommen, denn wie sich herausstellte, hatte die Herrscherin, wie schon so oft in ihrem ebenfalls kurzen Leben, recht. Das Land erblühte unter den Händen junger Menschen und wuchs zu einer starken Nation heran. Natürlich hatten sie das nicht allein bewältigt, denn Ranajea hatte als allgemeines Oberhaupt immer das letzte Wort und jedem Mitglied der Regierung standen mehrere Berater zur Verfügung.
Ein ganz und gar frisches und überwältigend gut funktionierendes System, von dem ich irgendwann ein Teil sein würde- auch wenn ich liebend gerne auf diesen Teil meiner Karriere als Seelensucherin verzichtet hätte.
„Hallo? Hörst du mir überhaupt noch zu?", riss Vermenia mich gespielt empört aus den Gedanken.
„Tut mir leid", sagte ich und lächelte schief. „Ich bin heute ein bisschen neben der Spur."
„Macht nichts", meinte Vermenia mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Das ist die Aufregung. Also, wo war ich stehengeblieben? Ach ja."
Die rothaarige Organisatorin blätterte ein paar Seiten in ihrem kleinen Buch zurück und runzelte kurz die Stirn, bevor ihre Miene sich aufhellte.
„Zuerst werden die Auserwählten von Belvêo vorgestellt werden, das bedeutet du", sie zeigte mit dem Stift auf mich, „und Giarina und Mantino werden als erste nach draußen treten müssen. Danach folgen dann die Erwählten von Surreika, Walia, Kraveen und Pravena."
„Hast du sie schon kennengelernt?", unterbrach ich meine Organisatorin.
Vermenia schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe eine Liste mit ihren Namen, aber weitere Informationen habe ich nicht erhalten. Im Übrigen stehen sie mir auch nicht zu."
„Tut mir leid", sagte ich und setzte mich wieder auf den Stuhl um ihr zu signalisieren, dass sie fortfahren konnte.
„Viel gibt es vorerst nicht mehr zu sagen", entgegnete Vermenia und klappte ihr Buch schwungvoll zu. „Nachdem ihr alle vorgestellt wurdet, werden wir Organisatoren dafür sorgen, dass ihr den wichtigsten Menschen die Hand schüttelt. Du weißt schon, die Einflussreichen, die daran interessiert sind, euch vielleicht später eine gute Arbeitsstelle zu bieten. Oft sind das ja auch Seelensucher aus den vergangenen Jahren."
Ich nickte, denn auch das war mir nicht neu. In meinem Leben war ich bereits zwei Mal auf der Eröffnungsfeier gewesen und hatte einige der Seelensucher mit eigenen Augen gesehen. Damals hatte ich sie dafür bewundert, dass sie so unglaublich mutig waren, und in weniger als einer Stunde würde ich an ihrer Stelle stehen.
Ich konnte mich noch daran erinnern, wie groß mir die Seelensucher damals vorgekommen waren, doch nun war ich selber 16 Jahre alt und fühlte mich alles andere, als groß oder erwachsen- auch wenn nicht behaupten konnte, dass ich noch ein Kind war. Dieser Phase war ich bereits vor Jahren entwachsen und wenn ich daran dachte, legte sich ein bitterer Geschmack auf meine Zunge.
„Und danach habt ihr erstmal frei", sagte Vermenia und grinste wieder breit. „Dann könnt ihr tun und lassen was ihr wollt. Feiert, trinkt, habt Spaß. So viel Freizeit werdet ihr danach für einige Zeit nicht mehr haben."
Mich persönlich beängstigte diese Aussicht nicht wirklich. Der erste Monat des Jahres würde bald zu Ende gehen, und dann fing das Training an. Die Vorbereitungen auf die Seelensuche gehörten zu wenigen Dingen, denen ich mit echter Vorfreude entgegenblickte. Diese würden für insgesamt fünf Monate laufen, bis die diesjährige Seelensuche dann im siebten Monat endlich starten würde.
„Nun Limeana, die, die die Wahrheit erkennt. Fühlst du dich dazu bereit, die Herzen unseres Landes im Sturm zu erobern?"
Ich warf meinem Vater, der die ganze Zeit über stumm in der Ecke gestanden hatte, einen kurzen Blick zu. Er wirkte angespannt und sah so aus, als wollte er am liebsten so schnell wie möglich nach Hause flüchten, doch er nickte mir kaum merklich zu. Er lächelte nicht und zeigte auch sonst kein Anzeichen der Freude, doch ich wusste, dass er mich in meinem Vorhaben immer noch unterstütze.
Er würde mich bei allem unterstützen, wenn es wirklich meinem tiefen Wunsch entsprach. Und dafür war ich ihm so dankbar, dass man es unmöglich in Worte fassen konnte.
Gemeinsam mit Vermenia stand ich auf reckte entschlossen meinen Kopf in die Höhe.
Ich war bereit, meinem Land gegenüberzutreten.
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