💔17.Dezember❣️
Einen wunderschönen 3. Advent wünsche ich euch allen. Das heutige 17. Türchen öffnet heute die liebe Jen3er. Sie schenkt euch eine Geschichte fürs Herz. Es wird vielleicht zunächst erst einmal gebrochen, aber Jen hat die wundervolle Eigenschaft als Autorin eure Herzen wieder eins nach dem anderen zusammenzusetzen zu können. Was könnte für den 3. Advent also passender sein als eine Liebesgeschichte?
Habt viel Spaß beim Lesen und lasst viel Liebe da.
MEET ME IN WINTER
MÄRZ
„Oh Shit!" Bestürzt wendete ich mich ab, drehte mich um und verließ augenblicklich das Zimmer.
Oh mein Gott.
OH. MEIN. GOTT.
Das war gerade nicht wirklich passiert. Das hatte ich nicht gesehen. Das ... es ging einfach nicht. Verdammt. Nein.
Die Tür, die ich gerade hinter mir geschlossen hatte, wurde aufgerissen. „June ..."
„Blake", machte ich. Ich schluckte schwer und konnte noch immer nicht ganz glauben, was sich da gerade vor meinen Augen abgespielt hatte. Es waren nur Sekunden gewesen, Sekunden, in denen ich einen Blick auf etwas erhascht hatte, das eindeutig danach ausgesehen hatte, was ich gedacht hatte, zu sehen. Machte das Sinn?
Ich traute meinen eigenen Gedanken nicht.
„Es ist alles ganz anders als du denkst." Blake streckte eine Hand nach mir aus, aber ich wich einen Schritt zurück. Mein Herz stolperte. Und dann kam der Moment, in dem meine Welt in sich zusammenbrach. Wie ein Kartenhaus stürzte sie plötzlich ein, und mein Herz hörte auf zu schlagen.
Mit der Erkenntnis.
„Was denke ich denn?", wisperte ich. Wasser sammelte sich in meinen Augen, und ich spürte, wie meine Nase zu kitzeln begann. So kündigten sich die Tränen an, die ich nicht würde aufhalten können, wenn ich nicht sofort das Haus verließ.
„Keine Ahnung", sagte Blake und trat jetzt einen Schritt auf mich zu. „Aber das sah vielleicht aus, wie ..."
„Als würdest du mich betrügen?" Meine Stimme schwankte bedrohlich. Ich wollte es nicht aussprechen, aber ja, ich musste es tun. Es hatte genau so ausgesehen. Daran gab es nichts zu rütteln. Sein nackter Oberkörper und die achtlos hochgezogene, aber noch offenstehende Jeans, die ihm fast von den Hüften rutschte, verstärkten das Bild nur. „Mit meiner besten Freundin?"
„June ..." Er wand sich wie ein Wurm, verzog gequält das Gesicht und suchte offenbar nach einer plausiblen Begründung, die er mir auftischen konnte, um das zu erklären, was ich gerade gesehen hatte. Zwei fast nackte Körper in einem viel zu großen Bett.
„Oh Gott, Blake!" Zu allem Überfluss überschlug sich meine Stimme jetzt auch noch. Die Tränen waren nicht mehr aufzuhalten und liefen mir über die Wangen. Ganz plötzlich traf es mich wie ein Schlag. All meine Träume, meine Pläne, meine ganze Zukunft waren in dieser Sekunde wie eine Seifenblase zerplatzt. Aus und vorbei. „Wir wollten heiraten."
Der Schlag in die Magengrube ließ mich aufkeuchen.
„June ..."
„Wir wollten eine Familie gründen!"
„Ich weiß ..."
„Wir wollten eine gemeinsame Zukunft."
Gleich.
Gleich würde ich zusammenbrechen.
Schwer schluckte ich und fuhr mir durchs Gesicht, um die Tränen von den Wangen zu wischen. Mein Herz riss entzwei, und es kam mir fast so vor, als könnte ich es hören, wie es in tausend Teile zersplitterte. All die Scherben meiner traumhaften Zukunft lagen vor mir auf dem Fliesenboden.
Blake griff nach meinem Arm und hielt ihn unerbittlich fest. „Das können wir doch immer noch." Seine Finger bohrten sich mir ins Fleisch. „Ich liebe dich, June. Wirklich. Ich will dich immer noch heiraten. Wir kriegen das hin."
Ein Teil von mir wollte so sehr, dass wir es hinbekommen würden. Ein Teil von mir wollte diesen Mann, wollte ihm verzeihen und wollte noch immer mit ihm zusammen sein. Ein Teil wollte ihn heiraten. Ein anderer hätte ihn am liebsten geköpft. Und dieser Teil übernahm jetzt die Oberhand.
„Fass mich nicht an", zischte ich, bemüht, nicht hier vor seinen Augen zusammenzubrechen.
„Lass uns darüber reden."
„Lass mich los!" Ich entriss ihm meinen Arm und rieb mir mit den Fingern über die Stelle, an der er mich berührt hatte. „Marissa wartet sicher auf dich", sagte ich so gefasst, wie es nur ging, und schluckte einen dicken Klumpen in meiner Kehle hinunter. Mit einer kurzen Geste deutete ich auf die Tür zu unserem Schlafzimmer. Dann drehte ich mich um und ging. Mit schnellen Schritten verließ ich den Mann, der mir alles bedeutet hatte, verließ das Haus, in dem ich eine Familie gründen wollte, und verließ das Leben, das ich immer führen wollte.
APRIL
...
Sterben.
Mit jedem Atemzug.
Mit jedem Herzschlag.
Jedem Gedanken.
Jeder Bewegung.
Einfach nur Sterben.
MAI
...
Leben.
Es tat weh.
Jeder Atemzug.
Jeder Herzschlag.
Jeder Gedanke.
Und jede Bewegung.
Zu jeder Sekunde, jeder Minute, jeder Stunde. An jedem Tag.
Immer.
Und doch musste ich weiterleben.
Allein.
JUNI
...
Ich zog das Messer, das Blake und Marissa mir in die Brust gerammt hatten, heraus, verließ mein Bett und lebte weiter.
Irgendwie.
JULI
„Wir sollten auf einen traumhaft schönen letzten Abend anstoßen!" Mein bester Freund Lucas hob sein Glas und hielt es mir entgegen. Sein Grinsen war ansteckend.
„Auf den letzten gemeinsamen Abend!" Kiras Glas klirrte gegen seines.
„Whoop, whoop!", machte ich und ließ auch mein Glas gegen die anderen beiden klingen. „Auf einen wahnsinnig entspannten letzten Abend zu dritt!"
„Wir haben es mehr als verdient." Damit kippte Lucas den Inhalt seines Sektglases in einem Rutsch hinunter. „Und jetzt lasst uns die Nacht zur Nacht der Nächte machen."
„Ein bisschen viel Nacht in nur einem Satz, findest du nicht?", merkte Kira trocken an.
Lucas zuckte mit den Schultern. „Bin ich Deutschlehrer, oder was?"
„Nein, zum Glück nicht."
„Du sagst es."
Wir leerten unsere Gläser, und Lucas besorgte uns sofort neue Getränke. Es war eine laue Sommernacht mitten im Juli. Mein letzter Abend in der Stadt. Nachdem ich meinen Ex-Verlobten Blake mit meiner ehemals besten Freundin Marissa beim Sex erwischt hatte, hatte ich unsere anstehende Hochzeit platzen lassen und all meine Zukunftsträume aufgegeben. Ich hatte mehrere Monate gebraucht, um wieder halbwegs mit meinem Leben klarzukommen. Ich war zu meinen Eltern gezogen, hatte in meinem alten Kinderzimmer gewohnt und diese Schmach der betrogenen Verlobten über mich ergehen lassen. Und dann war das verlockende Job-Angebot gekommen, und ich hatte angenommen. Morgen würde ich in den Zug steigen und Los Angeles verlassen, um mitten in die Einöde zu ziehen und dort für meine Firma als Geschäftsführerin eine Zweigstelle zu leiten. Marketing.
Gerade reichte Lucas uns neue Gläser, als mein Blick auf jemanden fiel. Sofort versteifte ich mich.
Oh Gott.
Nicht das noch.
Ich trat einen Schritt zurück und schlüpfte hinter Lucas, um mich zu verstecken.
„June?", machte dieser.
„Alles in Ordnung."
Lucas sah mich streng an. „Echt jetzt?"
„Bitte Lucas, stell keine Fragen und bleib einfach genau so stehen."
„Du versteckst dich? Vor Blake?"
Und ob ich mich versteckte. Blake war der Allerletzte, mit dem ich reden wollte. Ehrlich. „Lucas!", machte ich gequält. „Keine Fragen, hatte ich gesagt."
„Dir ist aber schon klar, dass ich nicht den ganzen Abend hier stehen bleibe und deinen Schutzwall spiele, oder?"
„Ich will jetzt nicht mit ihm reden."
Kira musterte mich nachdenklich. Dann sah sie mich streng an und fragte: „Was ist wirklich passiert mit Blake?"
„Nichts."
„June ..."
„Und wenn ihr beiden da schön nebeneinander stehen bleibt, wird auch heute Abend nichts mit Blake passieren", unterbrach ich sie und schob sie energisch neben Lucas. „Ja genau. Gleich viel besser so."
„Das ist albern", meinte Lucas trocken und hatte die Augenbrauen hochgezogen. „Das weißt du aber selbst, oder?"
Albern oder nicht - die Wand aus meinen Freunden würde mich vor seinen Blicken schützen. Und mich davor, ihn anzustarren. Und vielleicht würde auch mein geflicktes Herz auf diese Weise diesen Abend überstehen.
„Echt", schnaubte Kira genervt. „Ich habe dich in Ruhe gelassen. Ich habe akzeptiert, dass du nicht reden wolltest, monatelang habe ich mir das Drama angesehen und nie etwas gesagt, aber dieses Verhalten, June, das hast du doch überhaupt nicht nötig."
„Sehe ich auch so." Lucas nickte.
„Schön, dass ihr euch einig seid."
Wer brauchte eigentlich Feinde, wenn er solche Freunde hatte?!
„Erklärst du es jetzt?", forderte Kira mich auf.
Und zum ersten Mal seit Monaten sprach ich über den Moment, in dem meine Welt aus den Fugen geraten war. Wie ein reinigendes Gewitter und wie nach einem heftigen Regenguss, wenn die Luft wieder rein und klar war, fühlte auch ich mich danach aufgeräumter, klarer und tatsächlich ... gut. Vielleicht hatte ich genau das gebraucht – Blake wiederzusehen und endlich mit meinen Freunden über den Schmerz der letzten Monate zu reden.
Um loslassen zu können.
Um ein neues Leben beginnen zu können.
Weit weg von hier.
Irgendwo im Nirgendwo.
OKTOBER
„Wie geht's, wie steht's?"
„Ich habe wahnsinnig viel zu tun", grinste ich und klemmte mir das Handy zwischen Wange und Schulter.
„Das ist gut, oder?"
„Verdammt gut." Auf meinem Schreibtisch stapelten sich Papiere über Papiere. Angebote von verschiedenen Caterern, die ich eingeholt hatte für eine bevorstehende Firmenfeier. Ich musste mich dringend für einen entscheiden.
„Ich wollte auch nicht lange stören", meinte Lucas am anderen Ende der Leitung. „Aber ich dachte, wir treffen uns im Winter. Was meinst du?"
„Treffen?"
Wenn ich ehrlich war, vermisste ich ihn. Er war mein bester Freund, und auch wenn wir regelmäßig telefonierten, vermisste ich die Filmabende, die wir miteinander veranstaltet hatten. Ich vermisste seinen Humor, seine angenehme Art, seine starke Schulter, einfach Lucas. Ja, ich vermisste ihn.
Ich war nun schon fast drei Monate in der Ferne. Ohne richtige Freunde.
„Ja,"
„Wie?"
„Ich komme zu dir", meinte Lucas. „Ich hab Urlaub im Dezember. Du kannst ja darüber nachdenken, ob du auf deiner Couch Platz für mich hättest für ein paar Tage im Winter. Ein Streuner auf der Durchreise, dann geht's für mich weiter."
„Klar", platzte ich heraus. „Voll gerne! Ich freu mich auf dich, Lucas."
„Ich melde mich später nochmal, dann besprechen wir alles", versprach er. „Und ich freue mich auch auf dich, June. Du ahnst gar nicht, wie sehr."
NOVEMBER
Schwungvoll stellte ich meine Teetasse ab. „Pünktlich um 10 Uhr werde ich dort sein", versprach ich der Person am anderen Ende der Leitung.
„Hier geht es drunter und drüber", antwortete Mr Jones von der Bühnentechnik.
„Ja", ich nickte, „ich kann es mir vorstellen, aber behalten Sie einen kühlen Kopf und vor allen Dingen den Überblick. Sie schaffen das. Instruieren Sie die Techniker, geben Sie ihnen die nötigen Befehle, und dann wird es laufen. Um 10 Uhr sehe ich mir an, wie weit Sie mit dem Aufbau gekommen sind."
Das Thanksgiving-Fest stand vor der Tür, und die Firma, für die ich arbeitete, organisierte das jährliche Spektakel. Ich organisierte es. Und heute würde es stattfinden. Der Herbst war fast vorübergegangen. Ende November waren die Tage schon so kühl, dass sich der Morgennebel erst spät verflüchtigte. Und langsam wurde es auch Zeit für Tee und eine warme Decke auf dem Sofa.
Mein Leben ging weiter.
Ich hatte es mir in den letzten Wochen angewöhnt, morgens vor der Arbeit einen Spaziergang durch den nahegelegenen Wald zu machen, und das wollte ich auch heute durchziehen. Deshalb vertröstete ich Mr Jones auf 10 Uhr.
Als ich das Gespräch beendet hatte und mein Handy zur Seite legte, fiel mein Blick auf die Zeitung, auf der sich ein riesiger Teefleck ausgebreitet hatte. „Mist", fluchte ich, weil ich wusste, dass meine Nachbarin die Tageszeitung nach mir lesen wollte. Das machten wir jeden Tag so. Mrs Graham war eine alte, niedliche Dame, der ich jeden Morgen die Presse aus dem Briefkasten holte, sie überflog, um sie dann an sie weiterzugeben. Heute hätte sie einen fetten Fleck Schwarztee auf der ersten Seite. Von meinem schlechten Gewissen geplagt, versuchte ich mit einem Tuch zu retten, was noch zu retten war. Dabei hatte ich offenbar das Papier gewendet und irgendwie die Seite mit den Anzeigen aufgeschlagen.
Und dann traf mich eine Überschrift mitten ins Herz. Auf keine gute Weise.
Wir heiraten!
Marissa Johnson und Blake Irving
Der Rest verschwamm vor meinen Augen. Aber mehr musste ich auch gar nicht lesen, denn in meinem Kopf begann es in Endlosschleife zu rattern. Sie würden heiraten. Blake und Marissa. Mein Blake. Mein Ex-Blake. Und meine Ex-Beste-Freundin Marissa.
Das Messer, das sich vor Monaten in mein Herz gebohrt hatte, glitt tiefer, und ich bekam kaum noch Luft. Mein Blick verschleierte sich. Die Zeitung rutschte mir aus den Händen. Augenblicklich hörte mein Herz auf zu schlagen, nur um Sekunden später wie wild zu pochen. Und mein Fluchtinstinkt übernahm.
Ich verließ Wohnung, ließ sie Tür achtlos ins Schloss fallen und lief die Straße entlang. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, rannte ich immer weiter in den angrenzenden Wald hinein. Aber ich nahm seine Schönheit gar nicht wahr. Ich rannte wie eine Besessene, als wäre Michael Myers höchstpersönlich hinter mir her, um mich zu holen und mir sein Messer in den Bauch zu rammen. Dabei musste er das gar nicht. Der Stich brachte mich bereits um.
Keuchend kam ich irgendwann auf einer Lichtung an. Ich kannte diese Lichtung, denn ich hatte hier schon oft auf der steinernen Bank am Rande gesessen und die Ruhe genossen. Jetzt ließ ich mich erschöpft auf der Steinplatte nieder und rang nach Atem. Dass ich geweint hatte, bemerkte ich erst jetzt, als ich mir die Tränen von den Wangen und aus den Augen strich.
Sie würden heiraten.
Oh Gott. Hier und jetzt musste ich sterben und niemals wiederkommen. Mein Leben war schon vor Monaten vorbei gewesen, als ich meinen Verlobten mit meiner besten Freundin im Bett erwischt hatte. Aber ich hatte überlebt. Irgendwie. Nur um Monate später wieder an diesem Punkt anzukommen.
War das fair?
„Du suchst verzweifelt nach dem Glück", hörte ich plötzlich eine Stimme neben mir. „Das ist falsch."
Erschrocken fuhr ich herum und erkannte einen alten Mann, der gerade aus den kahlen Büschen trat. Dass ich nicht allein war, hatte ich gar nicht bemerkt.
„Sie haben mich erschreckt", stieß ich hervor und versuchte mich wieder aufzurichten. Hektisch fuhr meine Hand abermals über mein Gesicht.
Seine verhärteten Gesichtszüge verzogen sich, so dass er plötzlich viel freundlicher wirkte. Schwerfällig ließ er sich neben mir auf der Bank nieder. „Das tut mir leid, das wollte ich nicht." Er seufzte tief.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, und ich musste zugeben, dass mich die Nähe des Alten irgendwie beruhigte, mich auf gewisse Weise erdete.
„Ich komme oft hierher", sagte er schließlich. „Dieser Platz erinnert mich an meine Frau. Wir waren oft zusammen hier. Vor langer Zeit." Der Mann sah in die Ferne, und Sonnenstrahlen spiegelten sich in seinen Augen. Irgendwann sprach er weiter. „Meine Frau starb vor beinahe fünfundzwanzig Jahren bei einem Unfall. Damals habe ich mir die Schuld daran gegeben."
„Das mir Ihrer Frau tut mir leid."
„Das muss es nicht." Er lächelte warm. „Inzwischen weiß ich, dass es so kommen sollte. Ich habe gelernt, damit zu leben."
„Wie?"
Er zuckte leicht mit den Schultern. „Es gibt Dinge im Leben, die man nicht aufhalten kann", meinte er und seufzte. „Aber das ist noch lange kein Grund, sich der Welt zu verschließen. Das Schlechte hat hier seinen Platz, ebenso wie das Gute." Jetzt erhob er sich langsam von seinem Platz und strich mir dabei fast zärtlich über die Schulter. „Denk mal darüber nach, Mädchen. Das Leben ist nicht immer leicht, aber alles hat seinen Sinn." Mit schlurfenden Schritten und ohne sich noch einmal umzudrehen, entfernte er sich und ließ mich allein zurück.
Je länger ich ihm nachsah, desto mehr wurde mir bewusst, dass der Alte mir eine Einsicht weitergegeben hatte, die zu erlangen er ein Leben gebraucht hatte. Die Erinnerung an diesen schicksalhaften Moment meines Lebens sollte ich für immer wohl behüten.
DEZEMBER
Wie ungewohnt schön der Wald in den Morgenstunden doch war, in denen es keinen anderen Spaziergänger außer mir gab. Etliche Rottannen standen Säule an Säule aneinandergereiht. Eine unendliche Halle aus Weiß schloss sich an. Der Winter hatte die Natur bereits fest im Griff. Die Welt sah wie gepudert aus, überzogen von einer weißen Schneeschicht, deren Glitzern das Sonnenlicht reflektierte. Leichter Nebel im Unterholz verlieh der Landschaft einen Hauch Mystik, gepaart mit der eigentümlichen Mischung aus Taudunst, Moosduft und dem Geruch von Harz und Tannennadeln fühlte ich mich in eine ferne winterliche Welt versetzt. Meine knirschenden Schritte taten ihr übriges.
Tief sog ich die frische Luft ein und fühlte mich seltsam rein und geerdet.
Als ich auf die Lichtung trat, flog mein Blick zu meiner Steinbank und blieb an einem breiten Rücken hängen. Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag. Wir hatten uns so lange nicht gesehen, aber da war er.
„Lucas!", rief ich.
Er drehte sich um, und sofort erhellte ein breites Grinsen sein Gesicht. Ihm fiel eine rötliche Strähne in die Stirn, die er sich schnell aus dem Gesicht strich. Dann hob er den Arm zu einem Winken. „June!"
Mein Herz hüpfte. Endlich sah ich ihn wieder. Meinen besten Freund.
Mit langsamen Schritten ging ich lächelnd auf ihn zu und prägte mir die Konturen seines athletischen Körpers ein, die rötliche Farbe seines Haares, das ihn ein bisschen wie einen Weasley aus Harry Potter aussehen ließ und sein kantiges Gesicht und die hellblauen Augen. „Hey", flüsterte ich, als ich neben ihm auf die Bank rutschte.
„Hey." Sofort legte Lucas den Arm um mich und zog mich an seine Seite. „Schön, dich zu sehen."
Ich ließ meinen Kopf auf seine Schulter sinken. „Schön, dass du da bist."
„Ich sagte doch, wir treffen uns im Winter wieder." Ganz zart hauchte er mir einen Kuss auf die Wollmütze, was in mir ein Gefühl auslöste, das ich bisher in seiner Gegenwart noch nicht verspürt hatte. Kleine Schmetterlinge erhoben sich und flatterten durch meine Magengegend. Ich seufzte.
Eine ganze Weile blieben wir genau so sitzen und betrachteten gedankenverloren den weißen Winterwald, die Lichtung und die Sonne, die sich träge in den Himmel erhob, uns unsere Gesichter wärmte und den Schnee um uns herum glitzern ließ. In seinen Armen fühlte ich mich plötzlich geborgen und ganz. Da war etwas, das an meinem Herzen zupfte, das bisher dort nicht gezupft hatte, wenn ich mit ihm zusammen gewesen war.
Vielleicht war es nur der Winter, das bevorstehende Weihnachtsfest, die Sonne und seine Nähe.
Vielleicht war es nur das Gefühl, endlich wieder jemanden bei mir zu haben, den ich kannte und dem ich vertraute. Meinen besten Freund.
Vielleicht war es aber auch etwas anderes.
Jedenfalls nahm Lucas irgendwann den Arm von meiner Schulter und stand auf. Er warf mir einen auffordernden Blick und ein breites Grinsen zu. „Ich find's schön, hier zu sein."
„Und ich find's schön, dass du da bist."
Nachdenklich nickte er, erwiderte aber nichts mehr. Stattdessen bückte er sich und nahm eine Handvoll Schnee zwischen die Finger, den er langsam zu Boden rieseln ließ. Dann bückte er sich erneut, und ein fieser Verdacht keimte in mir auf.
„Lucas ...", warnte ich ihn und hob drohend den Zeigefinger. Er würde doch wohl nicht ...
Doch. Er würde.
Im nächsten Moment lachte er auf und warf mir einen Schneeball an den Kopf. Ich kreischte und sprang auf. „Das war eine eindeutige Kriegserklärung", rief ich und versuchte verzweifelt, mir das gefrorene Wasser aus der Jacke zu schütteln. Es blieb im Nacken kleben.
Dann klaubte ich selbst Schnee vom Boden zusammen und rannte ihm hinterher. Schließlich holte ich ihn ein – oder er ließ sich freiwillig einholen, was mir im Prinzip egal war – und schüttete ihm die volle Ladung als Rache in den Nacken.
Lucas lachte und raffte seinen Kragen. „Du kleines Biest."
„Du Mistkerl!"
Die nächsten zwanzig Minuten führten wir uns wie kleine Kinder auf, die übermütig durch den Wald rannten, Schnee zusammensuchten und sich wild damit bewarfen. Wir stürzten uns auf den Boden und wälzten uns in der weißen Prachz. Zum ersten Mal seit Monaten musste ich so heftig lachen, dass ich tatsächlich Seitenstechen davon bekam. Lucas benahm sich wie ein halb Verrückter, der noch niemals zuvor Schnee gesehen hatte.
Es war faszinierend, ihn so zu sehen.
So hatte ich ihn noch niemals zuvor erlebt. Kindlich und losgelöst.
Und vielleicht war es gerade dieses neue Gesicht an ihm, das mich ihn mit neuen Augen sehen ließ.
Schließlich brachen wir erschöpft nebeneinander auf dem Boden zusammen. Ich war von unserer Schneeballschlacht so geschafft, dass ich nur noch in den Himmel starren konnte, um wieder zu Atem zu kommen. Zaghaft griff ich nach seiner Hand, und er erwiderte den Druck. Schweigend lagen wir auf der Lichtung und sagten kein Wort. Irgendwann merkte ich, wie mein Hintern allmählich feucht wurde, und drehte mich zu ihm. „Das hat wahnsinnigen Spaß gemacht", sagte ich leise, „aber ich denke, wir sollten uns jetzt mit einem heißen Tee aufwärmen."
„Ganz deiner Meinung." Seine Augen funkelten mich warm an, und er drückte noch einmal meine Hand, ehe er aufstand und mich mit sich nach oben zog.
Einige Minuten später standen wir atemlos in der Küche meiner kleinen Wohnung und hatten Schuhe, Socken, Jacken und Pullover ausgezogen. Der Wasserkocher gluckerte und rauschte. Seine Haare standen strähnig ab. Mehrmals fuhr er sich mit den Fingern dadurch, aber es machte es nicht besser. Sie standen nur noch mehr ab. Grinsend schüttelte ich den Kopf und ging ins Badezimmer, um ihm meinen Bademantel zu holen, und mich selbst aus meiner nassen Jeans zu befreien. Schnell streifte ich mir meine Jogginghose und warme Socken über und ging zurück, um Lucas den Bademantel zu reichen.
„Ich hoffe, das geht so."
„Sicher."
Schließlich machten wir es uns mit zwei Tassen heißem Tee und einer dicken Wolldecke auf dem Sofa bequem. Ich betrachtete meinen Tee und pustete den Dampf beiseite.
„Schöner Spruch", meinte Lucas und deutete mit dem Kopf auf den Becher in meinen Händen. „Love your life. Live it. Love it. Enoy it."
„Fand ich auch."
„Man sollte sich an den Spruch halten."
Ich nickte langsam. Gerade deshalb hatte ich mir diese Tasse gekauft. Weil sie mich daran erinnerte, was ich in den Monaten nach Blakes Betrug alles versäumt hatte. Zu leben, zu lieben, zu genießen.
Plötzlich seufzte Lucas tief.
„Was war das denn?", fragte ich und musste schmunzeln.
Er zuckte mit den Schultern, nippte an seinem Tee und sagte dann leise: „Ich weiß nicht." Erneut nahm er einen kleinen Schluck und schnalzte mit der Zunge. „Ich habe nur gerade gedacht, dass dieser Tage perfekt zum Verlieben wäre."
Die Schmetterlinge, die ich schon die ganze Zeit im Magen gespürt hatte, flatterten wild durcheinander, kaum hatte er die Worte ausgesprochen. Meine Augen huschten zu ihm, und unsere Blicke verschränkten sich ineinander. Etwas Warmes durchströmte meinen Körper und ließ mein Herz höherschlagen. Wie Recht er hatte. Bisher hatte ich es nie sehen wollen, aber jetzt erkannte ich es. Ich erkannte ihn. Schwer schluckte ich den dicken Kloß im Hals hinunter und räusperte mich. „Ja", wisperte ich, „ich weiß, was du meinst."
Das Blau seiner Iris wirkte fast leuchtend, als er langsam näher rückte. Lucas streckte die Hand aus und wickelte einige meiner dunklen Strähnen um seinen Zeigefinger. „Kennst du dieses eine Lied?", fragte er mit rauer Stimme.
Mein Herz schlug mir wie wild gegen die Brust. Ich schüttelte den Kopf, konnte aber den Blick nicht von seinem abwenden. Ich war verwirrt und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles in mir sträubte sich, diesen Weg einzuschlagen, und doch wollte ich es. Schließlich fragte ich leise: „Welches Lied?"
„And if you can't be with the one you love ..."
„Love the one you're with", vollendete ich die Zeile flüsternd.
Wenn du nicht mit dem zusammen sein kannst, den du liebst, lieb den, mit dem du zusammen bist.
Aber Lucas hatte Unrecht.
Ich liebte Blake nicht mehr.
Unwillkürlich sah ich hinunter auf seinen Mund. Meine Tasse stellte ich langsam auf dem Tisch neben dem Sofa ab, ohne den Blick von seinen Lippen abzuwenden. Ich fühlte mich wie hypnotisiert und plötzlich so sehr zu ihm hingezogen, dass es nur noch eins gab. Uns. Mit der Zunge fuhr ich mir über die Lippen, und er tat dasselbe. Dann endlich, nach etlichen Sekunden der Stille und der Erwartungen, rutschte er noch näher an mich heran und zog in derselben Bewegung mich dichter zu sich. Erwartungsvoll schloss ich die Augen und war zu allem bereit. Wenn wir diesen Weg einschlugen, begruben wir unsere Freundschaft. Aber wir würden auch etwas völlig Neues erschaffen.
Endlich senkte Lucas seine Lippen auf meine. Eine zarte Berührung nur, aber sie verursachte einen Feuerregen in meinem Inneren, dass ich leise seufzte. Jeder Zentimeter meines Körpers bebte. Ich wollte ihn so sehr bei mir haben, ihm noch dichter kommen, dass ich mich in dem flauschigen Stoff des Bademantels festkrallte.
Sekunden verstrichen. Minuten. Stunden. Tage. Eine ganze Ewigkeit.
Doch irgendwann lösten wir uns keuchend voneinander. Ich hatte Angst, die Augen zu öffnen, um dann vielleicht feststellen zu müssen, dass es falsch gewesen war, meinen besten Freund zu küssen. Aber als ich es dann tat, sah ich keinen Fehler.
Lucas betrachtete mich wie einen kostbaren Schatz. Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und umfasste mein Kinn. „June", flüsterte er, und seine Stimme brachte mein Herz zum Beben. „Ich ..." Er verzog das Gesicht und suchte offenbar nach den richtigen Worten. „Ich ..."
„Ich hab es nicht gesehen", unterbrach ich ihn und strich ihm mit den Fingerspitzen über die Wange. Ich musste es sagen, sonst würde ich es vielleicht für immer bereuen. „Aber ich denke, du irrst dich. Ich bin jetzt in diesem Moment genau mit dem zusammen, mit dem ich zusammen sein sollte."
Ein Leuchten trat in seine Augen.
„Du bist hier, Lucas", flüsterte ich. „Du bist bei mir. All die Jahre, die wir uns kennen, hab ich es nicht gesehen, aber jetzt weiß ich es. Klar und deutlich. Ich ..."
Abrupt beugte er sich vor und verschloss meinen Mund abermals mit seinen Lippen. Er küsste wie ein Ertrinkender, leidenschaftlich, als gäbe es keinen Morgen, wie jemand, dessen Rettungsring der letzte Anker war, der ihn vor dem sicheren Ende bewahrte. Ich war dieser Anker. Er war meiner.
Meine Hände fuhren durch seine Haare, und ich presste mich noch enger an ihn, bis ich auf seinen Schoß gekrabbelt war und meine Beine um ihn geschlungen hatte. Seine Finger fuhren mir das Rückgrat entlang und hinterließen wohlige Schauer dort.
„Ich liebe dich, June", flüsterte er an meinen Lippen. „Schon immer."
Und ich?
Ich würde ihn für immer lieben.
In diesem Winter, im glitzernden Schnee hatte es begonnen, und ich hoffte, es würde niemals enden.
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