Kapitel 6
Logan
»Was ist denn mit dir passiert?« Entsetzt blickte Shira erst meinen kleinen Bruder an, dann wanderten ihre Augen zu mir und etwas Vorwurfsvolles mischte sich in ihre Miene.
»Ash«, kreischte Aden, als er meine Kumpel erblickte und warf sich in seine Arme. »Hallo.«
Er wuschelte meinem Bruder durch seine dunklen Löckchen und nahm ihn hoch. »Hey, kleiner Mann, was hast du denn da an deiner Wange gemacht.«
Ich zog die Haustür hinter uns zu und stellte meinen Rucksack ab. Nur Bruchteile einer Sekunde später kam Luca angeflitzt sprang mich an. »Hey, Großer«, lachte ich. »Nicht so stürmisch.« Nur mit Mühe vermochte ich es, den Golden Retriever wieder zu Boden zu bekommen, so sehr freute sich dieser, dass ich endlich wieder da war.
Allerdings lag seine Aufmerksamkeit nicht mehr allzu lange auf mir, denn nur Sekunden später bemerkte Luca plötzlich, dass ein neues Mädchen sein Haus betreten hatte. Und schon begann er schwanzwedelnd, Shira zu beschnüffeln und wild um sie herumzuwuseln.
»Im Ernst, was ist mit ihm passiert?«, hakte sie kichernd nach und wies auf meinen kleinen Bruder.
Ich half Ash, seinen Rucksack abzustellen, da Aden sich immer noch wie eine Klette an ihn klammerte. Mein kleiner Bruder liebte Ash. Ebenso wie Lucinda, Jean und Gael. Shira kannte er noch nicht, aber ich war sicher, dass er sie bald ebenso sehr vergötterte, wie meine anderen Freunde. Es faszinierte mich immer wieder aus Neue, wie sehr der Kleine meine Kumpels mochte - und wie sehr das auf Gegenseitigkeit beruhte. Es gab Tage, da trafen wir uns, um mit Aden etwas zu unternehmen. Oder wir gingen zu seinem Fußballspiel und feuerten ihn und seine Mannschaft an. An der Stelle soll gesagt sein, dass solche Ideen ausschließlich von meinen Freunden ausging, eben gerade, weil sie ihn so sehr lieben. Manchmal hatte ich Angst, dass er sie nervte, aber im Großen und Ganzen war ich sehr froh, wie gut sie alle mit ihm auskam.
Zumal ich Aden ebenso sehr liebte. Eben gerade, weil er mein Bruder war. Ich würde alles für ihn tun. Allerdings gab es auch Tage, an denen er mir zu viel war. Nur ungern erinnerte ich mich an das Wochenende, wo Jean meinen Eltern vorgeschlagen hatte, dass er doch Geschwisterbilder von Aden und mir machen könnte. Natürlich waren die beiden begeistern gewesen. So war es dann gekommen, dass Jean an den Klippen ein schönes Plätzchen gesucht hatte, wo die Kulisse genau zu seinen Vorstellungen passte und uns beide dann immer wieder neu aufgestellt hatte. Ein paar Fotos und wieder andere Posen. Nach einer Stunde war ich genervt, dass mein Bruder dann noch auf mir rumklettern musste, weil Jean der Meinung war, das wäre süß, hatte meine Laune desaströs in den Keller getrieben. Die Krönung war es dann gewesen, als er mir versehentlich in die Eier getreten hatte. Ich wusste zwar, dass es keine Absicht war, trotzdem fuhr ich ihn an. Er begann zu heulen und der Fototag war gelaufen.
Dennoch hingen die schönsten Bilder dieses Tages immer noch bei uns im Wohnzimmer. Meine Eltern hatten sich unglaublich darüber gefreut. Und wenn ich ganz ehrlich war, sahen die Fotos schon extrem gut aus.
»Ich bin im Kindergarten vom Klettergerüst gefallen«, erklärte Aden stolz. »Aber echte Männer haben Narben.« Um das zu unterstreichen, hielt er meinen Freunden auch noch seine Arm hin, der genau wie die Wange leicht aufgeschürft war.
Ash musste Lachen. »Das stimmt. Doch du solltest trotzdem auf dich aufpassen.«
»Aber Narben sind toll.« Mit seinen großen, himmelblauen Augen starrte er meinen Kumpel an.
»Nicht alle, Kleiner«, seufzte Ash. »Glaub mir.«
»Hm, na gut«, meinte Aden Schulterzucken und wechselte das Thema. »Bleibst du zum Spielen?«
Für ihn war die Sache erledigt, das wusste ich. Er war noch zu klein, um den Ernst hinter Ashs Worten zu verstehen. Im Gegensatz dazu Shira nicht. Ihre Augen wanderten wachsam zu ihrem Freund und durchbohrten ihn förmlich von der Seite. Doch Ash tat so, als würde er es nicht bemerken. Stattdessen musterte er meinen Kleinen.
Shira beobachtete jede noch so kleine Bewegung von ihm. Mir schwante, dass Ash ihr noch nicht alles aus seiner Vergangenheit erzählen hatte. Irgendwo konnte ich ihn auch verstehen, er hatte viel durchmachen müssen und all die Dinge hatten zu seiner verschlossenen und ruhigen Art geführt. Er ließ Menschen ungern an sich heran. Selbst bei mir hatte es eine Weile gedauert, bis er mir davon erzählt hatte. Und dann hatte ich auch nachvollziehen können, warum Ash nicht gern darüber sprach.
Schließlich war die Narbe an seinem Kinn noch lange nicht die einzige. Durch Sport wussten zwar die meisten, wie er aussah, aber kaum jemand kannte die Geschichten dahinter.
»Tut mir leid, kleiner Mann, aber dein Bruder und ich müssen jetzt zum Sport«, erklärte Ash und riss mich so aus den Erinnerungen. »Wir spielen ein andermal, einverstanden?«
»Hm, na gut.« Aden dachte nach. »Und will das hübsche Mädchen mit mir spielen?«
Shira wurde knallrot, was uns beiden zum Lachen brachte. »Ich ... ähm ...«
»Das hübsche Mädchen kommt leider mit uns mit«, erklärte Ash ihm lieb und grinste seine Freundin schelmisch an.
Ich griff nach meinem Sportbeutel und packte meine Trinkflasche um. »Tschüss, Aden, bis nachher.« Sanft drückte ich ihm einen Kuss auf die Stirn.
Seufzend ließ Ash ihn runter und schnappte sich ebenfalls seine Sportsachen. Dann verließen wir das Haus. Ich hatte Mühe, Luca zu überreden, drin zu bleiben und auch Aden blickte uns mit traurigen Augen an. Er hätte gern mit uns gespielt, das wusste ich. Allerdings fiel ihn jetzt ein, dass er mit Luca Spiderman oder einen anderen Superheldenkram spielen konnte und zog den Hund lachend am Hals and ins Wohnzimmer.
Wir drei verließen mein Haus und machten uns auf den Weg zu Lucinda. Schweigend liefen wir nebeneinander her und bogen ab und an ab. Shira und Ash hielten Händchen und ich versuchte nicht, hinzusehen.
Denn es erinnerte mich an das, was ich nicht hatte. Meine Lucinda. Schon bei dem Gedanken an sie, bekam ich Angst.
»Und du sagst, ihr war wirklich nur schlecht?«, brach ich die Stille an Shira gewandt.
Sie nickte. »Ja, sie hat mich heute morgen angerufen, anscheinend hat sie sich letzte Nacht übergeben.«
Und dann heute nicht in der Schule gewesen.
»Aber warum? Ich meine, ihr habt doch beide die Brownies gegessen und dir ist nicht schlecht, vom Mittag kann es auch nicht kommen.«
Den ganzen Tag hatten diese Gedanken mich gequält. Noch schlimmer war die Tatsache, dass ich ihr nicht helfen konnte, da ich in der Schule war und erst dort davon erfahren hatte. An ihr Handy ging sie seitdem auch nicht. Zwar hatte Shira mir mehrfach versichtert, dass Lucinda schon klarkam, und wir sie ja am Nachmittag besuchen könnten.
Nur schwer hatte sie mich überzeugen können, Ash hatte sich dafür auch noch ins Zeug legen müssen, bis ich endlich nachgab.
»Ich glaube nicht, dass es etwas Körperliches ist«, gab mein Kumpel vorsichtig zu bedenken, als wir in Lucindas Straße einbogen.
Ich schluckte. »Wieso?«
»Denk doch mal nach. Ihr Freund knutscht mit einem anderen Typen herum. Vermutlich ist ihr das alles etwas zu viel und schlägt auf den Magen.«
Das klang logisch. »Ich hasse ihn«, knurrte ich und Wut blubberte in mir hoch.
»Das haben wir gestern gesehen«, sagte Shira langsam.
Ich wusste, dass sie auf Álvaros Zustand anspielte, in welchem er sich seit gestern Mittag befand. Ehrlich gesagt hatte ich doch ein winziges bisschen Mitleid mit ihm. Vielleicht hätte ich doch nicht ganz so gar zuschlagen sollen, denn er sah wirklich grausam aus. Ich hätte nie gedacht, dass ich zu soetwas fähig war.
Doch immer, wenn Reue in mir hochstieg, über das, was ich getan hatte, drängten sich mir eben die Bilder von Luz auf, wo sie verletzt und blutüberströmt vor mir stand, oder die, wo sie kreidebleich auf das knutschende Pärchen gestartet hatte. Und dann tat es mir plötzlich nicht mehr leid.
»Er hat es verdient«, brummte ich bockig, als wir stehen blieben.
Shira blickte unsicher zu Ash, der gerade die Klingel betätigte. »Ja schon irgendwie. Aber in dem Maß?«
»Ja. Wenn nicht sogar noch mehr«, murmelte ich und öffnete die Tür, als der Summer anging.
Wortlos folgten die beiden mir. Ein Kribbeln bahnte sich in meinem Bauch an und wurde mit jeder Stufe stärker. Als wir vor Lucindas Wohnungstür standen, zerriss es mich fast. Quälend langsam öffnete sich die Tür und Lucinda starrte uns mit verweinten Augen an, ohne ein Wort zu sagen.
»Hey«, begrüßte Shira sie und wollte das Mädchen umarmen.
Doch ich war schneller. Mit einem Schritt war ich bei ihr und zog sie an meine Brust. Das flattern in mir explodierte wie ein Schwarm blutroter Schmetterlinge, der - aufgescheucht durch ein vermeintlichen Räuber - aufflog. Die Falter tanzten wild in mir.
»Wie geht es dir? Was ist mit dir los? Warum hast du nichts gesagt, ich wäre die Nacht über bei dir geblieben«, überschüttete ich meine beste Freundin mit Fragen.
Langsam legte sie ihre schmalen Arme um meinen Oberkörper und vergrub das Gesicht an meiner Brust. »Tut mir leid. Es ist alles nur zu viel.«
»Ich bringe das Arschloch um«, knurrte ich, während sich meine Finger unbewusst in ihre zarten Rippen bohrten. Als ich mir dieser Tatsache bewusst wurde, ließ ich Lucinda los, als hätte ich mich verbrannt.
»Nein.« Mit großen Augen blickte sie mich flehend an. »Mir ist nur schlecht gewesen. Es ist schon wieder besser. Mach dir keine Sorgen.«
Ich sagte nichts. Shira strat jetzt vor und umarmte ihre Freundin zur Begrüßung.
»Aber du bist nicht schwanger oder so?«, fragte Ash plötzlich leise.
Die kleine, unbedeutend Frage schlug bei mir ein wie eine Bombe und schlagartig wich das gesamte Blut aus meinen Gesicht. Alles in mir zog sich zusammen, während die Eifersucht wie brennende Säure durch meine Adern schoss. Schon bei dem Gedanken, dass Álvaro meine Luz auf diese Art berührt hatte, würd euch ihm am liebsten umbringen. Eben gerade weil er das durfte und ich nicht. Wenn sie jetzt auch noch seine gottverdammte Brut in sich trug, würde ich mich vermutlich komplett vergessen. Meine Atmung ging unregelmäßig, mein Kiefer war verkrampft.
»Ash!« Entsetzt blickte Lucinda ihn an, auch Shira hat sich von ihr gelöst und starrte ihren Freund an.
»Was denn? So ein Kondom kann auch kaputt gehen«, verteidigte er sich schulterzuckend. »Wenn ihr überhaupt eins genommen ...«
»Hör auf! Stop. Ich kann gar nicht schwanger sein.« Knallrot sah sie zu Boden. »Wir hatten noch nicht«, flüsterte sie.
Etwas sind mir entspannte sich wieder. »Gott sei Dank«, brummte ich undeutlich. »Das hätte gerade noch gefehlt.«
Ash trat als letztes vor und umarmte Lucinda. »Wir wollten eigentlich nur nach dir sehen. Shira hat sich bereiterklärt, dir mit den Stoff von heute zu helfen.«
»Danke, das ist lieb von euch.« Luz brachte ein schwaches Lächeln zustanden, noch immer sah das Mädchen aus, wie eine Tomate.
Unschlüssig sah ich sie an. »Wenn du willst, bleibe ich auch ...«
»Denk nicht einmal dran, wir gehen ins Fitness Studio«, unterbrach Ash mich. »Sonst wirst du mir hier noch fett. Du warst lange nicht.«
Ich wurde rot. Danke Kumpel, ich habe dich auch lieb. »Na dann, wir sehen uns.«
»Tschüss.«
Ash nickte ihr zu, während Shira ihm noch schnell eine Abschiedskuss gab. Dann schloss Lucinda die Tür und mein Kumpel und ich standen allein im Treppenhaus.
»Komm«, sagte Ash sanft. »Das Gym wartet.«
Stumm folgte ich ihn die Stunden hinab. Bei der zweiten Treppe drängt sich mir das Bild auf, als ich vor acht Jahren genau auf der dritten Stufe von unten auf einer kleine Wasserpfütze ausgerutscht und anschließend die komplette Treppe runtergekugelt war. Und als wäre das nicht schon genug, nein, ich war sogar noch mit den Kopf so hart gehen die Wand geknallt, dass ich wegen einer Gehirnerschütterung zwei Tage in Krankenhaus lag. Die Seele hatte ich mir währenddessen aus dem Leibe gekotzt. Dabei hatten Luz und ich doch nur ins Kino gehen wollen.
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Es war immer wieder schön, wenn mir solche kleinen Erinnerungen in den Kopf schossen. Damals war ich noch klein und ahnungslos.
Ash und ich verließen das Haus. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, ich vertieft in Gedanken, er vermutlich auch. Mein bester Freund war noch nie derjenige gewesen, der sprach wie ein Wasserfall. Nein, er war der, der ruhig dasaß, die Situation still beobachtete und analysierte und dann irgendwann ein Argument heraushaute, was alle stocken ließ. Wenn er etwas sagte, traf es immer den Nerv der Wahrheit.
»Sie liebt ihn.«
Ich zuckte zusammen. »Ich weiß«, gab ich zerknirscht zu.
»Aber du willst es nicht. Du willst, dass sie dich wählt.«
Genau das meinte ich. Genau das.
Entsetzt starrte ich ihn an. »Wie kommst du denn auf so einen Scheiß? Ich ...« Panik mischte sich in meine Gefühlswelt. Er wusste es. Er wusste es. Wieso? Es sollte keiner wissen, ich schämte mich selbst schon genug dafür.
»Hör auf«, unterbrach Ash mich leise. »Ich bin nicht blind. Du hast Álvaro zusammengeschlagen, als er Luz verletzt hat. Du wärst fast ausgerastet bei dem Gedanken, dass er mit ihr geschlafen hast. Ich kann verstehen, dass Lucinda und du schon ewig befreundet seid und euch sehr nahe steht. Aber auch, wenn du es nicht wahrhaben willst. Du liebst sie. Streite es nicht ab.«
Ich schwieg. Tränen der Wut stiegen mir in die Augen, doch ich blinzelte sie hartnäckig weg. Ash entging nie etwas, ich hätte es wissen müssen.
»Weiß sie es?«, erkundigte mein Kumpel sich vorsichtig.
Mechanisch nickte ich, alleine für seine Wachsamkeit hatte er die Wahrheit verdient. Abgesehen davon war er auch mein bester Freund. Ich hätte schon viel früher reinen Tisch machen sollen. »Ich habe sie geküsst.«
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