Kapitel 5
Álvaro
Es war spät, als Jean und ich durch die dunklen Gassen der kleine Stadt an der US-amerikanischen Küste streiften. Die Gruppe hatte sich vor einer halben Stunde nach und nach aufgelöst, nachdem Lucinda eingeschlafen war. Logan, der Hund und sie hatten sich in die eine Richtung aufgemacht, Gael und Ash waren ihnen ein Stückchen gefolgt, und Jean und ich waren in die andere Richtung gegangen.
Ich wusste, dass Jean an mir interessiert war. Als wir alle zusammensaßen, hatte er mich die ganze Zeit mit leuchtenden Augen gemustert, oft Fragen gestellt und fasziniert meinen Antworten gelauscht. Jean hing mir förmlich an den Lippen.
Dennoch traute ich dem Frieden noch nicht ganz. Er hatte vor allen seine Sexualität offen ausgesprochen und niemanden hatte es groß gekümmert. Es schien, als wäre es normal für alle.
Bis vor Kurzem, als ich noch bei meiner Familie gewesen war, wäre so etwas undenkbar gewesen. Mein Vater Aquila hatte mich früher schon grün und blau geschlagen, wenn ich einem Jungen zu lange nachgesehen hatte. An dem Tag, an welchem ich mich geweigert hatte, Rosana zu heiraten, war er ausgerastet. Nicht auszudenken, was Aquila mit mir angestellt hätte, wenn er um mein Schwulsein wüsste. Tot zu sein wäre da garantiert mit Abstand das Beste.
Denn ich war das älteste Kind, und damit auch der Erbe unseres kleinen Reiches. Naja, Reich war vielleicht etwas zu viel gesagt, große Stadt mit angrenzenden Landgebieten traf es besser. Dennoch wurde mir bewusst, dass diese Stadt wahrscheinlich gegen die Großstädte, die Jean kannte, wie ein verkrüppeltes Dorf wirkte, selbst wenn sie von der Fläche her ungefähr gleich waren. Wenn mein Vater starb, würde ich die Herrschaft übernehmen müssen. Und es gab nichts Schlimmeres als ein Herrscher, der keine Kinder bekommen konnte, weil er mit einem Mann zusammen war. Zumindest keine ehelichen Kinder.
Allerdings wäre es meinem Bruder Alejandro sowieso Recht, wenn ich tot oder enterbt wäre. Denn dann würde er der Erbe sein, selbst wenn die Runen auf seiner Brust etwas Anderes sagten. Alejandro hasste mich aus tiefstem Herzen; zum Einen, weil ich eben Erbe war und nicht er, zum Anderen, weil ich Rosana heiraten sollte - das Mädchen, das er liebte.
Jeans Finger strichen im Gehen sanft über meine Hand und rissen mich somit aus meinen Gedanken. »Du bist so ruhig.«
Ich blickte ihm in seine pinken Augen. »Ich rede allgemein nicht viel.«
Er seufzte und verschränkte unsere Finger endgültig. »Schade.«
Ich schwieg kurz. »Ist das eigentlich deine natürliche Augenfarbe?«, fragte ich dann leise.
Jean lächelte und blickte hoch zum dunklen Himmel. Die Sterne funkelten hell, dennoch waren es erschreckend wenig im Vergleich zu dem Himmelszelt, das ich von zu Hause kannte. Und auch der Mond, der sichelförmig über uns schwebte, war zu Hause größer und eindrucksvoller. »Nein, ich trage Kontaktlinsen. Normalerweise habe ich blaue Augen.«
Ich nickte. Aus irgendeinem Grund wusste ich, was Kontaktlinsen waren.
Sein Handy piepte. Genervt ließ Jean meine Hand los und kramte sein Smartphone aus der Hosentasche. Flink glitten seine Finger über das Display, als er einige Nachrichten tippte.
Ehrlich gesagt sah ich solche komischen Geräte heute zum ersten Mal. Ebenso wie Autos. Als ich nach der Schule auf dem Weg zum Strand gewesen war, und eben ein solches an mir vorbei gefahren war, hatte ich mich fast zu Tode erschrocken. Ich kannte nur Kutschen. Obwohl ich normales Reiten eindeutig bevorzugte.
Jean steckte sein Smartphone weg und griff wieder nach meiner Hand. »Kommst du noch mit zu mir?« Flehend sah er mich an.
»Ich weiß nicht, morgen ist Schule«, meinte ich unsicher.
»Komm schon, du brauchst keine Angst haben.«
Das Ziehen in Bauch überzeugte mich letztendlich. Ich nickte.
Ich war verdammt hungrig. Zwar hatte ich heute schon diverse Sachen gegessen, aber das Wichtigste fehlte noch. Blut. Ich war schließlich ein Vampir. Natürlich brauchte ich auch normale Lebensmittel zum Überleben und normale Getränke wie Wasser oder Saft.
Aber wir Vampire unterschieden uns dennoch von den Menschen aus unserer Stadt. Jeder einzelne Vampir war adlig und an ein Ereignis gebunden. Bei mir war es Mondlicht. Daher auch mein Name: Álvaro Sileno Luar de Pregonas. Sileno Luar bedeutete etwa so viel wie fließendes Mondlicht. Und dann bekam ich meine vampiristischen Gaben wie Schnelligkeit, Stärke, geschärften Sinne und die Fähigkeit, Menschen zu manipulieren. Oder zumindest in eine bestimmte Richtung zu Drängen. Der menschliche Wille war dennoch frei. Allerdings benötigte es bei mir Licht des Vollmondes, um die Gaben zu erwecken. Normales Mondlicht brachte maximal bei Kontakt die tätowierten Runen auf meiner festen Brust zum Glimmen. Meine kleine Schwester Decembre bekam ihre Gaben beispielsweise zu Weihnachten, daher auch der Name Decembre Luminita Noëlia. Leuchtende Weihnachten.
Jede Familie mit dessen Erben hatte ihre eigene Stadt. Wir beschützten die Menschen. Behandelten sie fair. Versuchten, die Abgaben so gering wie möglich zu halten.
Dafür zahlten die Menschen Blutzoll.
Und ich als Erbe war täglich auf Blut angewiesen. Doch irgendetwas sagte mir, dass das hier nicht so einfach werden würde.
Jean zog mich um die Ecke in eine besonders dunkle Gasse. Nur drei jämmerliche Straßenlaternen flackerte schwach. Nach einigen Schritten wurde er langsamer. »Darf ich dich etwas fragen?«
Meine Augen wurden schmal und ich spannte mich an. »Ja.«
Er atmete tief durch. »Bist du schwul?«
Ich öffnete den Mund, um es rein aus Reflex lautstark zu bestreiten. Mehr als einmal war mir diese Frage in der Vergangenheit gestellt wurden und jedes Mal war ich gezwungen gewesen, demjenigen glaubhaft davon zu überzeugen, dass ich nicht auf Männer stand. Denn wie bereits gesagt, mein Vater hätte mich eigenhändig umgebracht.
Doch dann schloss ich den Mund. Hier war es anders. Homosexualität schien ganz normal zu sein und niemanden zu stören. Eigentlich konnte ich es Jean gegenüber zugeben. Zumal er mir ja schon irgendwie gefiel.
Aber die Vergangenheit saß tief. Ich konnte es einfach nicht. Ich hatte das dumme Gefühl, dass es mir auf die Füße fallen würde.
Daher schwieg ich.
Jean hielt an und musterte mich mit seinen pinken Augen eindringlich. »Álvaro?«
»Hm?«, machte ich.
Er schluckte. »Bist du es?«
Doch ich brachte keine Antwort zustande. Ich konnte es nicht. Mein Leben lang hatte ich es verschwiegen, und es jetzt einfach so zu sagen fühlte sich ... falsch an, irgendwie zu einfach.
Seufzend zog Jean mich weiter. »Komm, wir sind gleich da.«
Ich sagte kein Wort.
Man hörte nur seine Schritte in der Gasse wiederhallen. Ich hatte gelernt, vollkommen lautlos zu laufen. Die Straße war eng und mir unzähligen Löchern und Rissen überzogen. Es musste gestern geregnet haben. Hier und da schimmerten kleine Pfützen und spiegelten das schwache Mondlicht und die flackernden Laternen. Es erinnerte mich an zu Hause.
Was mich allerdings wunderte, war, wieso der Strand komplett trocken gewesen war. Ich schob es auf die Sonne.
Ein paar Minuten später hielt Jean an. Ohne mich anzusehen kramte er eine Schlüssel hervor. Ein leises Klick ertönte, als er die Tür aufschloss. »Die letzte Chance, doch noch nach Hause zu gehen.«
Ich spielte mit dem Gedanken, aber wie bereits erwähnt, hatte ich Hunger, daher folgte ich ihm ins Treppenhaus. Es war stockdunkel, doch meine Augen gewöhnten sich schnell daran. Einer der Vorteile als Vampir.
Die Tür fiel ins Schloss, als wir in der ersten Etage waren. Zwei Stockwerke später schloss Jean seine Wohnungstür auf und bat mich herein. Kurz zögerte ich noch, kam seiner Aufforderung aber dennoch nach. Stumm zogen wir unsere Schuhe aus. Ich hängte meine dunkle Jacke an einen Haken.
»Magst du etwas Trinken?«
Fast hätte ich gelacht. Klar, Jean, dein Blut zum Beispiel. Doch das konnte ich nicht sagen. Vampire konnten Menschen nichts von ihrem Wesen erzählen. Wir bekamen die Worte einfach nicht raus. Warum das so war, wusste ich nicht. Aber es erschwerte unsere Existenz hier ungemein. Zuhause wussten die Menschen, was wir waren. Daher schien das kein Problem zu sein. Den Menschen hier schien das nicht zu sein, allerdings würde sich das ändern, sobald sie meine Runen sahen. Sie waren das Symbol für Vampirismus. Je mehr Runen, desto mächtiger.
»Gern, hast du Wasser?«
Jean lachte unsicher. »Klar, wieso nicht, aber ich dachte vielleicht an etwas mit Alkohol? Whisky?«
»Danke, Wasser genügt mir«, lehnte ich ab.
Aus dem einfachen Grund, dass hier alles neu für mich war. Ich konnte diese Realität nicht einschätzen. Daher zog ich einen klaren Kopf vor.
»Okay, wenn du meinst. Hast du Hunger? Ich könnte uns noch etwas Rührei machen.«
»Etwas zu Trinken würde mir erst einmal reichen, Danke.«
Er seufzte. »Okay, komm mit.«
Ich stellte meine Tasche ab und folgte ihm lautlos. Licht flackerte beim Betreten der Küche auf. Flink schnappte er sich zwei Gläser aus dem Regal. In das eine füllte er Wasser, in das andere eine schwarze Flüssigkeit. Neugierig kam ich von hinten leise näher, um das dunkle Zeug zu betrachten.
Allerdings schien Jean mich nicht zu hören. Als ich hinter ihm stand, drehte er sich schwungvoll mit beiden Gläsern in der Hand um. »So, magst du vielleicht noch etwas Käse ...« Er lief filmreif in mich rein und erschrak fürchterlich über meine plötzliche Nähe.
»Wow, vorsichtig.« Ich zuckte zurück, doch es war schon zu spät. Jean hatte mir bei unserem Zusammenprall beide Getränke vollständig über mein dunkles Shirt geschüttet. Schaudernd spürte ich, wie mir die kalte Flüssigkeit die Brust hinunter lief. Während mein Oberteil sich vollsaugte, hatte seins bis auf ein paar Spritzer so gut wie gar nichts abbekommen.
»Oh fuck, tut mir leid«, entschuldigte sich Jean und wurde blass. »Ich hab dich nicht gehört, ich dachte du wärst ...«
Urplötzlich musste ich lachen. »Hey, kein Problem, ist ja nur Wasser, das trocknet wieder.«
»Nein, Wasser und Cola.« Danke Jean, darauf hatte ich gehofft. Denn somit hatte ich einen Ansatzpunkt, was das Schwarze gewesen war. Und wie vermutet, schien ich wie aus dem Nichts zu wissen, was Cola war. Leider auch, dass sie durch den Zucker klebte.
»Schon gut, das wasche ich einmal durch und dann ist es wie neu. Mach dir keine Sorgen.« Elegant zog ich mir das Shirt über den Kopf. »Wo ist das Bad?«
»Gleich rechts im Flur«, stotterte Jean. Er starrte mich unverhohlen an.
Ich drehte mich um und ging ins Bad. Ruhig wusch ich mein dunkles Oberteil mit Wasser und Seife. Eigentlich hatte ich sowas nicht nie gemacht, ich meine, schließlich hatten wir Angestellte. Aber ich war schon immer ein bisschen dagegen gewesen, dass jemand für mich arbeitete, selbst wenn wir das Königshaus waren. Außerdem konnte es ja nicht allzu schwer sein, ein Stück Stoff zu waschen.
Als ich fertig war, rang ich das Shirt gründlich aus und ging zurück in die Küche. »Jean, wo kann ich das hinhängen?«
Er saß am Tisch und wischte über sein Handy. Ruckartig sprang er auf, als er mich erblickte. »Warte, ich tue es in den Trockner, in einer Viertelstunde ist es trocken.« Jean nahm mir das Shirt aus der Hand und verschwand wieder im Bad. Ich konnte hören, wie er etwas zuschlug und einige Knöpfe drehte. Kurz darauf war ein Summen zu hören.
»Lass uns ins Wohnzimmer gehen.« Er ging an mir vorbei und holte unsere beiden Gläser vom Tisch. Ich folgte ihm ins Wohnzimmer und ließ mich auf der Couch nieder. Sie war dunkel und hatte etwa die Farbe meiner Haare. Jean machte das Licht an, achtete jedoch darauf, dass es nicht zu hell und grell war.
Dann kam er neben mich.
Eine Zeit lang sagte keiner was. Jean musterte mich lange. Mir war klar, dass er auf meine Runen starrte. Wenn man es genau sah, waren es eigentlich nur ein paar Schriftzeichen, die durch geschwungene Linien miteinander verbunden waren. Manchmal waren die Linien so dicht, dass man die Rune kaum erkennen konnte. Doch bei Vollmond würden die Runen um einiges heller als die Linien und die Konturen klar erkennbar sein. Meine Namensrune, die für den Vollmond stand, prangte genau über meinem Herzen. Von da aus streuten sich dann die anderen Runen. Macht, Intelligenz, Vampir, Erbe, Kreativität, meine Familienrune der de Pregonas und die für Männlichkeit, um die Wichtigsten einmal zu nennen. Alle waren sie zirka fünf Zentimeter groß. Die tintenschwarzen Zeichen waren auf meiner linken Brust, auf Teilen von der rechten Brust, zogen sich fast bis zum Bauchnabel und die linke Seite meines Rückens sowie mein linker Oberarm waren mit den Schriftzeichen bedeckt. Die schwarzen Linien liefen kreuz und quer und trotzdem irgendwie mit System durch die Runen und Zwischenräumen. Einige Symbole doppelten sich sogar.
Ich wusste nicht, wie lange wir schon schweigend dasaßen. Doch dann merkte ich, dass Jeans Blick nach einer Weile von etwas anderem gefesselt wurde.
Von den beiden Ketten, die über meine helle Haut strichen. Die untere mit einem Runenanhänger, die obere mit einem Ring.
»Für was steht der Anhänger?« Er deutete auf die längere Kette.
»Das ist die Rune für Erinnerung«, sagte ich leise.
»Also ist das nicht dein Ring«, schlussfolgerte Jean.
Ich schluckte hart. »Nein.«
»Wem gehört er?«
Ich schwieg.
»Álvaro? Bitte.«
»Lorenzo«, würgte ich hervor und verdrängt sämtliche Bilder.
Er holte tief Luft. »Lorenzo, ein schöner Name. Und weiter?«
»Du willst den vollen Namen?« In mir war alles zu Eis erstarrt, Jean nickte. »Lorenzo Aureliano Anatolio Moreno.«
»Aha, du hast also einen Freund und triffst dich mit mir, betrügst ihn. Meinst du nicht, das ist ein bisschen hart?« Er klang eingeschnappt und rückte ein Stück ab. »Ich meine, mir soll's Recht sein, lass dann aber nicht deine Wut an mir aus.«
Etwas in mir riss. »Wag es ja nicht, mir irgendetwas Derartiges zu unterstellen«, fauchte ich, die Wut kochte und blubberte brennend in mir wie Säure. »Du hast nicht die leiseste Ahnung von Lorenzo.«
»Dann sag es mir.« Herausfordernd blickte er mich an.
Mein Kiefer war angespannt - ich war angespannt. Mit einem Mal erstarrte die Wut in mir wieder und dunkelblauer Schmerz breitete sich dumpf in mir aus wie ein Tropfen Tinte in Wasser. »Lorenzo ist tot«, knurrte ich bitter. »Deswegen trage auch ich den Ring und nicht er.« Ich stand auf und ging in Richtung Tür. »Vielleicht solltest du lernen, nicht so schnell über jemanden zu urteilen.«
Ruhe.
»Warte.« Jean sprang auf und stellte sich mir in den Weg. Die Reue stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Es tut mir so leid. Ich bin manchmal echt taktlos. Es ist nur so, dass ich schon zwei Mal das Vergnügen hatte, dass mir irgendwelche Partner die Fresse poliert haben, weil ich was mit ihrem Freund angefangen habe, deshalb frage ich vorher lieber.«
»Schon ok.« War es zwar nicht, aber er hatte es eigentlich ja nicht wissen können.
Trotzdem tat es höllisch weh. Es waren so viele Erinnerungen, die mir im Kopf herum schwirrten, dass ich es gar nicht mehr schaffte, sie alle zu unterdrücken. Meine Atmung war unregelmäßig und Tränen brannten mir in den Augen.
Ich wusste nicht, wie oft ich nach seinem Tod in meinem Zimmer gesessen, in eine Ecke gedrängt, und geweint hatte, bis nach Stunden die Gedanken zu viel waren und ich keinen anderen Ausweg mehr gewusst hatte, als mir mit meinen Fängen die Haut aufzureißen. Der dumpfe Schmerz half mir meistens, mich zu beruhigen, während das Blut aus meinem Armen quoll und auf den Teppich tropfte. Da mein Speichel bei Kontakt mit Blut die Blutung stoppte, war es nicht weiter gefährlich für mich gewesen. Nach ein paar Minuten hatte es aufgehört zu bluten. Verstohlen hatte ich über die Verletzungen geleckt, da meine Spucke ohne Kontakt mit Blut immens zur Heilung beitrug. Nach ein paar Stunden war so gut wie gar nichts mehr zu sehen.
»Wann?«, flüsterte Jean und holte mich ins Hier und Jetzt zurück.
Gegen meinen Willen löste sich eine Träne aus meinem Auge und lief meine Wange hinunter. »Vor knapp fünf Wochen«, antwortete ich tonlos.
Er wischte mir zart die Träne von der Wange. »Es tut mir so leid.«
Ich wollte mich wegdrehen. Alleine schon, weil Weinen eine Schwäche darstellte. Aquila hatte mich auch in solchen Momenten geschlagen.
Doch Jean hielt mich fest. »Nicht. Lass es zu.«
»Nein.«
»Warum nicht?« Erst jetzt fiel mir auf, wie nah er war, nur wenige Zentimeter trennten uns vor einander. Seine Finger strichen sanft über meinen Kiefer.
»Ich darf nicht.«
»Doch.« Jean überwand den Abstand zwischen und und küsste mich vorsichtig. Seine Hände fuhren liebevoll über meine Brust.
Im ersten Moment wollte ich es und erwiderte seinen Kuss. Meine Finger wanderten zu seiner Taille und zogen ihn an mich. Grierig kostete ich seine Lippen und spielte mit seiner Zunge.
Doch dann merkte ich, wie falsch es sich anfühlte. Als würde ich Lorenzo verraten. Ich spürte schlagartig, dass es mit einer Beziehung zu Jean nicht klappen würde.
Zumindest nicht auf einer Gefühlsebene.
Mein Bauch meldete sich nämlich wieder und mir fiel der Grund ein, warum ich eigentlich hier war. Sanft löste ich meine Lippen von seinen und strich damit seinen geschwungenen Kiefer entlang. Zart hauchte ich einen Kuss auf seinen Hals und spürte wie er eine Gänsehaut bekam. Doch als ich begann, zart in die weiche Haut zu beißen, nicht einmal so doll, dass es blutete, entzog Jean sich mir.
»Hey, lass das.«
Ich schluckte, war wie erstarrt. »Warum?« Es war strengstens verboten, sich einem Vampir zu entziehen, wenn er im Frieden seine Fänge an der Kehle hatte, besonders beim Ablegen von Blutzoll. Bei Verweigerung konnte Einem die Todestrafe drohen.
»Sorry, aber ich mag das am Hals eher nicht so.« Er küsste mich wieder.
Das war der Moment, als mir klar wurde, dass ich sterben würde. Es war lächerlich, gehofft zu haben, dass er mein Wesen an den Runen erkennen, seine Pflicht erfüllen und mich Trinken lassen würde.
Und das Problem bei uns Vampiren war, dass wir das Blut freiwillig brauchten. Sobald sich das Opfer wehrte oder schlichtweg nicht mehr wollte, brannte das Blut in unserer Kehle wie Säure und wir begannen, es hervorzuwürgen. Dieses System schütze die Menschen davor, dass wir sie versehentlich umbrachten.
Aber hier wurde es mir zum Verhängnis.
Ich brauchte täglich ein, zwei Schlucke Blut.
Keiner wusste, was ich war.
Ich konnte es Keinem sagen.
Und mit Gewalt konnte ich es mir auch nicht nehmen.
Ein Piepen ertönte. Ich fuhr erschrocken zurück.
»Das war nur der Trockner«, murmelte Jean.
Ich wich seinen Berührungen aus. »Ich sollte gehen«, flüsterte ich.
»Bitte.« Flehend sah er mich an.
Doch ich schüttelte den Kopf. Die Tränen schimmerten immer noch in meinen Augen, die Bilder von Lorenzo wirbelten durch meinen Kopf.
Seufzend holte Jean mir mein dunkles Oberteil aus dem Trockner. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Erst als er mir den Stoff hinhielt, bewegte ich mich wieder. Stumm zog ich mein Shirt an. Es war noch warm, trotzdem konnte es die Kälte aus meinem Herzen nicht verdrängen. Wortlos gingen wir beide in den Flur, wo ich mir die Schuhe anzog und die Jacke vom Haken nahm.
»Es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe«, entschuldigte Jean sich nochmals. »Vielleicht können wir uns ja trotzdem noch einmal sehen.«
Ich nickte nur, schnappte mir Tasche sowie Jacke und verließ seine Wohnung. Zittrig lief ich die Stufen nach unten, einmal übersah ich eine und fiel fast die Treppe nach unten. Gerade noch so konnte ich mich fangen. Schwungvoll öffnete ich die Haustür und trat nach draußen.
Kühle Nachtluft schlug mir entgegen.
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