Kapitel 2
Álvaro
»Wie oft habe ich Ihnen jetzt schon gesagt, dass Sie Ableiten und Integrieren von Funktionen nicht durcheinander bringen sollen?« Die kleine Frau vorn an der Tafel starrte uns wütend an. Ihr langes, rotblondes Haar hatte sie zu einem strengen Dutt nach hinten gebunden. Einzelne, graue Strähnen hatten sich dazwischen eingeschlichen. »Beim Ableiten wird multipliziert, beim Integrieren kommt die Potenz davor ins Reziproke.«
Erregt stolzierte sie mit ihren alten, hohen Schuhen vor der Tafel hin und her. Ich beachtete sie nicht. Die Absätze klackerten auf dem Boden. Stumm schrieb ich das Tafelbild mit meiner feinen, geschwungen Schrift ab. Zwar hatte ich in meinem Leben noch nie etwas von Stammfunktionen oder Ableitungsregeln gehört, doch während ich es auf mein karriertes Blatt schrieb, kam es mir plötzlich völlig logisch vor, als würde ich das Wissen nur wiederholen. Wieso das so war, wusste ich nicht. Und sobald ich darüber nachdachte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Deshalb vermied ich es auch, darüber zu grübeln.
»Ms Edwards«, meldete sich ein Schüler von weiter vorn. Seine fingerlangen, zerstrubbelten Haare leuchteten rotorange. »Sie haben am Anfang ihrer Rechnung das Minus von der Stammfunktion nicht berücksichtigt, damit stimmt der komplette Punkt am Ende nicht.«
Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um das anzusprechen. Die Lehrerin sah aus, als würde sie gleich explodieren. Mit hochrotem Kopf begann sie, uns alle anzuschreien. Unfähigkeit und Respektlosigkeit waren noch die nettesten Dinge, die uns unterstellt wurden.
Mich interessierte das Ganze herzlich wenig. Von meiner Familie war ich es gewohnt, angeschrien zu werden. Mein Bruder Alejandro beherrschte das ganz ausgezeichnet. Noch besser allerdings konnte er Einen mit leisen Worten treffen. Jahrelang hatte er das perfektioniert und wenn ich es nicht schon von Klein auf gewohnt gewesen wäre, hätte es mich auch verletzt.
Mein Nacken kribbelte und eine kalte Gänsehaut breitete sich über meinen Rücken aus. Das war das falsche Thema. Meine Familie gehörte zu den Dingen, die nicht so wirklich in diese Situation passten.
Ruhig zeichnete ich meine Namensrune auf den Rand meines Blockes. Die Rune für de Pregonas. Ich mochte sie. Ein wenig erinnerte sie an eine geschwungene Drei, aber nicht so sehr wie die Rune für Schutz. Ich kannte sie alle auswendig. Viele hatte ich seit meiner Kindheit tagtäglich gelernt, die Wichtigsten waren mir seit meiner Geburt auf meine helle Brust tätowiert.
Anfangs hatte ich genau diese Runen gehasst. Ich wollte früher immer so eine feine, blasse und makellose Haut haben, wie die Menschen in unserer Stadt. Vater hatte mich geschlagen, wenn ich ihn als kleiner Junge gefragt hatte, ob ich die Runen irgendwie entfernen konnte. Nach einiger Zeit hatte ich gelernt, meinen Wunsch für mich zu behalten.
Inzwischen war ich halbwegs stolz auf meine Runen. Mir war klar geworden, dass sie das Symbol für unser Königshaus waren und ich mich eigentlich glücklich schätzen sollte, durch meine Position des Erben besonders viele, filigrane Zeichen auf meiner Brust, Teilen des Rückens und dem linken Oberarm zu tragen. Momentan schimmerten sie schwarz wie dunkle Tinte unter meinem dunklen Hemd, aber ich wusste, dass sich das durchaus ändern konnte.
Ich zog den filigranen Schwung der Rune für Nacht nach.
Bewusst hatte ich mich dafür entschieden, hinten zu sitzen. Außerdem waren nicht mehr allzu viele Plätze frei, als ich heute den Raum betreten hatte. Ich hasste es, wenn mich Menschen von hinten anstarrten und ich es nicht sah. Schon alleine aus dem Grund, dass ich Blicke deutlich spüren konnte. Sowas machte mich wahnsinnig.
Mein Platz jedoch hielt meine Mitschüler nicht davon ab, sich ständig umzudrehen und mich argwöhnisch zu mustern. Klar, ich war neu. Einige Mädchen neigten dazu, mich anzusehen, sich zu ihrer Freundin umzudrehen und zu kichern.
Ein Verhalten, das ich noch nie verstanden hatte.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass wir nicht mehr allzu lange Unterricht hatten und es bald klingeln musste. Woher mir das allerdings klar war, wusste ich nicht. Wieder stieg dieses komische Gefühl in mir hoch, doch ich verdrängte es stur.
Anscheinend fiel auch Ms Edwards auf, dass ihre Stunde gleich vorbei war. »Zu morgen erledigen Sie im Buch Seite zweiundachzig, Nummer Zwei, Drei, Vier und Fünf. Alles schriftlich und ohne Hilfsmittel. Wer es morgen nicht hat, wird mit den Konsequenzen rechnen müssen«, drohte sie, immer noch dunkelrot vor Wut im Gesicht.
Allgemeines Stöhnen kam im Kurs auf. Wortlos zog ich meinen Kalender und schrieb mir die Hausaufgabe ein. Zumindest hatte ich dann heute Nachmittag etwas zu tun. Denn etwas sagte mir, dass ich sonst stumm in meiner Wohnung sitzen und auf einen Fleck starren würde, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können.
Das Klingeln durchbrach die Unruhe und beendete das Elend namens Mathematikunterricht. Schlagartig begannen alle Schüler ihr Zeug in ihre Taschen zu schmeißen und versuchten, möglichst schnell aus dem Raum zu verschwinden. Gespräche kamen auf und es wurde laut im Raum.
Ich jedoch rührte mich nicht. Stumm und regungslos saß ich da an meinem Platz und beobachtete das Geschehen. Fast schon fand ich es faszinierend, wie sich kleine Grüppchen bildeten und diese dann geschlossen das Zimmer verließen. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass sie alle Menschen waren.
Schon vorhin war mir aufgefallen, dass hier kein Schwein etwas mit Magie am Hut hatte. Alle starrten auf ihre Smartphones und tippten ständig irgendwas hinein. Und auch wenn ich so ein Ding noch nie in meinem Leben in der Hand gehabt hatte, schien ich zu wissen, wie es funktionierte. Beängstigend. Ich kannte solche Technik gar nicht, da ich selbst mit Büchern aufgewachsen war. Und ich musste ehrlich sagen, dass es mir besser gefällt, durch die blassen Seiten eines dicken Buches zu streichen als auf so einem Ding rumzutippen. Alleine schon wegen dem Geruch von Papier und Pergament.
Eben gerade weil ich Bücher so liebte, hatte ich mir heute morgen ein solches aus meiner Wohnung mitgenommen und feststellen müssen, dass die Menschen nicht an Magie glaubten. Denn in dem Buch ging es um einen Jungen, der durch Zufall eine andere Welt entdeckte und Magie lernte.
Ich selbst war mit Magie aufgewachsen. Das heißt nicht, dass wir alle wie der Junge aus dem Buch mit Zauberstab herumfuchtelten und Zaubersprüche vor uns hin sprachen. Magie ist etwas viel Feineres. Etwas, das nicht jedem zustand. Menschen beispielsweise nicht. Nur uns Vampiren. Da wir neben normalen Lebensmitteln noch Blut zu uns nehmen mussten, hatten wir als Ausgleich Zugriff auf Magie.
Die Runen auf meiner hellen Brust waren ein Teil der Magie.
Das komische Gefühl kam wieder auf und ich zwang mich, meine Sachen einzupacken und den Raum nicht als Letzter zu verlassen.
Wachsam streifte ich durch die Gänge der High School. Alles war hier so anders. Die Mädchen trugen Klamotten aus Farben, die ich nur von Blumen oder Augenfarben kannte. Auch der Schnitt war anders, als ich es kannte. Nur sehr wenig Mädchen trugen Kleider, mit Umhang sah ich hier niemanden.
Sogar heute Morgen, als ich vor meinem Kleiderschrank gestanden hatte, hatte mir eine kleine Stimme im Kopf gesagt, dass ich mit einer an den Knien zerrissenen Jeans, dem dunklen Shirt und der schwarzen Jacke am besten bedient war. Die dunklen Stiefeletten hatten meiner Meinung nach am besten zu dem fremden Outfit gepasst.
Aber ich war ganz dankbar gewesen, dass ich zumindest meine Ringe und die silberne Kette mit dem Anhänger in Form der Rune für Erinnerung noch besaß. Kalt lag das Metall zwischen meinen Rippen auf meinem festen Brustbein. Etwas weiter oben kurz unter meinen Schlüsselbeinen strich eine weitere Kette über meinen Haut, doch an dieser hing nichts weiter als ein Ring aus dunklem Silber. Er war unscheinbar und eigentlich wirkte er wie ein einfaches Stück Metall. Doch für mich hatte er eine weitaus tiefere Bedeutung.
Denn das Gegenstück zu genau diesem Ring trug ich an meinem rechten Ringfinger.
Der Schmerz stieg dumpf in mir auf und verteilte sich brennend wie Säure in meinem Körper. Kalt drang er in jede einzelne Zelle meines Körpers und schnürte mir die Kehle zu. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Reflexartig ballte ich meine Hände zu Fäusten und wurde langsamer. Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen.
Ich bemühte mich, wieder normal zu atmen. Ganz ruhig. Ein und aus. Gleichzeitig versuchte ich krampfhaft, sämtliche Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen, die in diesem Moment durch meinen Gehirn schwirrten - aufgewirbelt durch den einfachen kurzen Gedanken an den Ring, der an der kürzeren Kette auf meiner Brust lag. Eigentlich war es lächerlich.
Die Schüler wichen mir nach wie vor aus. Ich war das gewohnt. Mein Vater hatte mich zu einer respekteinflößenden Person erzogen und all die Jahre hatte ich mir eine Haltung und einen Blick angewöhnt, sodass es keiner auch nur wagte, sich mir in den Weg zu stellen. Doch da ich im Moment mit meiner Atmung zu kämpfen hatte, neigten einige Schüler dazu, sich nach mir umzudrehen.
Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit an meinem Spind ankam, hatte ich mich wieder etwas beruhigt und die Bilder hartnäckig verdrängt. Mit zittrigen Fingern gab ich die Zahlenkombination in das Schloss ein und öffnete meinen Spind. Achtlos warf ich mein Mathezeug sowie meinen Taschenrechner hinein und kramte die Geschichtsachen hervor. Anschließend knallte ich die Spindtür zu und stopfte den Hefter und das Buch in meine Tasche.
Hektisch wandte ich mich um und wollte Richtung Geschichtsraum gehen. Doch dann fesselte mich ein Mädchen im Gang einige Meter vor mir. Unwillkürlich fragte ich mich, warum sie mir nicht schon früher aufgefallen war, beziehungsweise, wieso sie mir jetzt erst über den Weg lief. Denn als sie mich mit ihrem großen, grasgrünen Augen ansah, konnte ich aus irgendeinem Grund meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden. Zart flossen die wie aus hellem Silber gesponnenen Haare und sanften Wellen über die Schulter bis zum mittleren Rücken. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht und kitzelten scheinbar die blassroten, vollen Lippen. Unwillkürlich verspürte ich das dringende Verlangen, mit meinem Daumen darüber zu streichen. Die große, schwarze Brille verhinderte, dass ihr die Haare in die Augen fielen und betonten stark ihren unglaublich unschuldigen Blick.
Als die Kleine merkte, dass ich sie musterte, begannen ihre blassen Wangen rot zu schimmern und sie wandte den Blick ab. Mit einer geschmeidigen Bewegung strich das Mädchen sich die glänzenden Strähnen hinters rechte Ohr und senkte den Blick. Unsicher begann sie, sich die Ärmel ihres schwarzen, grob gestrickten Pullis über die Handgelenke zu ziehen. Das flauschige Oberteil kombinierte die Kleine mit einer dunkelblauen Jeans und dunklen Sneaker. Sie war kleiner als ich, schätzungsweise um die zwanzig Zentimeter. Unwillkürlich musste ich mir vorstellen, wie sie sich in meine Umarmung schmiegte und ihren Kopf an meine Brust legte.
Entsetzt über meine Gedanken zwang ich mich den Blick abzuwenden und an ihr vorbei in Richtung Geschichtsraum zu laufen.
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