Kapitel 19
Álvaro
Nur schwer brachte ich es über mich, den Blick von ihr abzuwenden. Das Mädchen war so unglaublich schön. Warum fiel mir das erst jetzt auf?
Ihre grasgrüne Augen ähnelten von der Farbe her zwar denen von Lorenzo, trotzdem konnte ich sonst keine Ähnlichkeiten zwischen den Beiden finden. Bei dem Mädchen beispielsweise funkelten dunkle Splitter wie winzige Scherben einer zerbrochenen Flasche aus grünem Glas in ihrer Iris. Lucinda als Person war so ruhig, sehr aufmerksam, ihr Blick so unschuldig. Vermutlich bekam sie mehr mit, als man dachte.
Noch nie hatte ich jemanden mit silbernen Haare gesehen, zumindest nicht in diesem Alter. Bis jetzt war ich schlichtweg davon ausgegangen, dass das auch niemandem stehen würde, nicht einmal ansatzweise. Doch die Kleine widerlegte diese Ansicht komplett. Niemals hätte ich gedacht, dass graue Haare so gut aussehen konnten.
Ich stand auf, Jean und Logan musterte mich verwirrt. »Ja, wir können gern anfangen«, antwortete ich leise.
Zwar hatte ich keinen Plan, was genau Jean jetzt mit mir vorhatte, aber ich ging nicht davon aus, dass es schlimm war. Sonst hätten die Anderen sicher etwas gesagt. Der Mann hatte mich vorhin angerufen und gefragt, ob wir uns zusammen mit den anderen am Strand treffen. Wir würden etwas essen und er hätte wieder mal Lust, uns zu fotografieren. Insbesondere mich, weil er mich hübsch fand.
Ich meine gut, ich war schon nicht hässlich, schließlich prangten die Runen für Erbe und Macht auf meiner Brust - und das nicht unbegründet.
Ich hatte zugesagt, da ich sonst vermutlich den ganzen Abend vor mich hin gestarrt hätte. Und da gab es wirklich bessere Aktivitäten.
Jean schnappte sich seine Kamera und ging in Richtung Meer. Wortlos folgte ich ihm. Meine Zehen gruben sich in den feinen, warmen Sand. Unwillkürlich fiel mir auf, dass ich in den letzten anderhalb Wochen das erste Mal solchen Sand gesehen hatte. Ebenso wie das Meer. Zumindest war ich noch nie am Meer gewesen, Bilder und Zeichnungen waren mir natürlich geläufig. Bis dato kannte ich nur Wald, Felsen und Berge hautnah. Und Seen. Aber halt nicht das Meer. Die salzige Luft roch gut und beruhigte mich ungemein. Feine Sandkörnchen wurden von der leichten Briese aufgewirbelt und tanzen in Kringeln um meine Beine.
Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch meinen linken Fuß. Er war nicht so schlimm, trotzdem zuckte ich jäh zusammen und sah verwundert nach unten. Als allerdings nichts zu sehen war, ging ich in die Hocke und strich ich mit den Fingern durch den warmen Sand. Unendlich fein glitten die Körner über meine Haut, doch dann erwischte ich das Spitze. Ich packte zu und zog es aus dem Sand.
Im nächsten Moment fragte ich mich, wie etwas so Schönes wehtun konnte. Tausende Gelb- und Brauntöne mischten sich auf der Muschel, fleckten sich wild durcheinander. Trotzdem wirkte es, als wäre jeder Punkt bewusst gesetzt. Mit einer Bedeutung. Mit einem tieferen Sinn. Ehrfürchtig strich ich mit den Finger über die Rillen auf der Oberseite der Muschel. Sie war etwa so groß wie meine Faust, dennoch wirkte sie zerbrechlich und zart wie eine Eisblume. Ich hatte Angst, sie mit einer kleinen, falschen Bewegung einfach kaputt zu machen.
Eine Kante fehlte ja schon. Schnurgerade lief die Bruchstelle an der rechten Ecke der Muschel entlang und formte zwei spitze Ecken.
Auf welche ich wahrscheinlich vorhin auch getreten war.
Ich drehte die Muschel um. Erneut stockte mir der Atem. Das Licht der Nachmittagssonne fiel warm auf die spiegelglatte Oberfläche und ließ sie perlmuttfarben strahlen. Violett, Blau und Rot tanzten im Licht, allerdings so schwach, dass sie nur zu erahnen waren.
Einmal hatte ich in meinem Leben eine Muschel gesehen. Wir waren auf der Jagd gewesen, mein Vater, Alejandro und ich. Unterwegs hatten wir einen Händler mit seinem Wagen getroffen. Er hatte uns mit seinem Gepfeife das Wild verscheucht. Und ich hatte meinen Bogen schon gespannt gehabt, um den großen Hirsch zu schießen. Doch dann war der Mann lautstark den Weg entlang getuckert und das Tier war aufgeschreckt. Alejandro hatte sich nur schwer das Lachen verkneifen können.
Der Händler von der Küste hatte nicht geahnt, wer da im Wald war. Erst als mein Vater ihm seine Eckzähne gezeigt und ihn angefaucht hatte, was er sich denn einbildete, hier so ein Kravall zu machen, war ihm sein Fehlverhalten klargeworden. Tausendmal hatte er sich entschuldigt, beteuert, dass es nicht seine Absicht gewesen war, uns zu stören. Der Händler hatte Glück, dass mein Vater am Vorabend reichlich getrunken hatte und kein Drang zu Gewalt oder das Verlangen nach einer Hinrichtung verspürte. Er kam tatsächlich mit einer Verwarnung davon.
Aber während der Diskussion konnte ich die Muscheln und Seesterne sehen, die er bei uns in der Stadt auf dem Markt zu verkaufen gedachte. Sie waren fast genauso schön wie das Exemplar, das ich gerade in der Hand hielt.
Meine Mundwinkel zuckten. Diese Muschel erinnerte mich auf irgendeine Art und Weise an Zuhause.
»Kommst du?«, riss Jean mich aus meinen Gedanken.
Ich sah mich zu ihm um. »Ja, warte kurz.« Rasch erhob ich mich wieder, ging die paar Schritte wieder zurück zur Decke und warf die Muschel neben meine Schuhe. Lucinda blickte mich von unten an. Wieder mit diesen großen, grünen, unschuldigen Augen.
Verdammt, es war ungerecht, dass die das konnte. Aus irgendeinem Grund begann mein Bauch wohlig zu kribbeln. Ich schenkte ihr ein Lächeln, was sie schlagartig erröten ließ. Hastig sah sie zu Boden.
Ich wandte mich ab und lief zu Jean. Er wartete bereits an der Grenze von trockenem und nassem Sand auf mich, da, wo die Wellen immer wieder an der Küste leckten. Das Rauschen schuf eine ruhige Atmosphäre.
Jean strahlte mich an. »Hat dich schon einmal jemand fotografiert?«
Ich schüttelte den Kopf; gemalt ja, aber nicht mit so einem Ding abgebildet. »Nein.« Den Zusatz, dass ich nicht einmal ganz genau wusste, wie das mit dem Fotografieren ging, weil es sowas bei uns zu Hause schlichtweg nicht gegeben hatte, verkniff ich mir.
Er blickte mich ungläublig an. »Echt jetzt?«
Ich zuckte nur mit den Schultern. »Ja.«
»Oh mein Gott!« Er war mit einem Mal ganz aufgewühlt. »Hast du zumindest Instagram?«
»Was ist das?«, erkundigte ich mich verwirrt und fuhr mit mit den Finger durch meine langen, dunklen Haare. Einige Strähnen hatten sich durch den zarten Wind schon verfitzt und ich bereute stark, keine Haarbürste mitgenommen zu haben.
»Wie kann jemand, der so attraktiv ist wie du, kein Instagramaccount haben?«, fragte Jean entsetzt. Allerdings fasst er sich schnell. »Das müssen wir ändern. Hast du dein Handy hier?«
»Ja, wieso?«
»Gib es mir mal«, verlangte er und streckte die Hand aus.
Langsam griff ich in meine Hosentasche und reichte ihm mein schwarzes Smartphone. »Was hast du vor?«
»Ich mache dir Instagram drauf.«
Ich atmete durch. »Nein, Jean, warte, was ist das überhaupt?«
»Eine App, wo du Bilder von dir teilen und Bilder von anderen sehen kannst«, erklärte er kurz und strich sich durch die teils lilanen Haare.
»Aber ich hab doch keine Bilder von mir«, stöhnte ich.
Jean störte das nicht im Geringsten. »In zehn Minuten hast du mehr als genug. Wie lautete dein Code?«
»Null Acht Eins Zwei«, ergab ich mich. Er würde sowieso nicht aufhören, bis ich ihm seinen Willen erfüllte.
Grinsend tippte er wild auf meinen Handy herum. Keine zwei Minuten sperrte er es und steckte es sich in seine Hosentasche. »Da, bitte. Du folgst mir schon, und nachher schicke ich die Bilder von dir mit in die Gruppe und dann kannst du eins hochladen. Kann ich dir dann noch erklären.«
»Aha ... Okay«, murmelte ich. »Bekomme ich mein Handy jetzt wieder?«
Jean schüttelte den Kopf und hob seine Kamera. «Nö, es würde deine Bilder ruinieren, du kriegst es danach zurück.«
»Na schön, was soll ich machen?«
Jetzt grinste er mich an. Sein Lächeln war schön. Es erinnerte mich an das von Lorenzo. »Also, eigentlich musst du dich nur hier her stellen und verschiedene Posen machen. Zum Beispiel in die Ferne gucken, dir durch die Haare fahren oder mal in die Hocke gehen. Wie du willst. Wenn dir nichts mehr einfällt, dann schlage ich dir dabei was vor, ja?«
Ich nickte. Mir fiel plötzlich etwas Wichtiges ein. »Du, Jean?«
»Hm?« Er blickte zu mir auf.
Ich holte tief Luft. »Mal ganz kurz ein anderes Thema. Ich glaube, das mit uns beiden wird nichts. Bitte sei mir nicht böse.«
Kurz starrt Jean mich entsetzt an, dann entspannt sich sein Gesichtsausdruck wieder. »Hey, alles gut, kann ich verstehen, irgendwie hast du ja auch Recht, wir sind doch etwas zu verschieden. Aber ich freue mich, dass du ehrlich bist und es mir sagst.« Er lächelte. »Und jetzt fangen wir an.«
Ich erwiderte seine Geste, und war froh, dass das jetzt nicht mehr zwischen uns stand.
Langsam begann sich der Himmel wieder zu färben. Rot zog sich über den Horizont, wanderte dann höher in den Himmels und mischte sich mit Gelb. Leuchtend flimmerte das Orange zwischen den violetten Wolkenfetzen und lief ins Gelb aus. Diese Farbe ließ mich an Sonnenblumen denken. Der Streifen Grün war so hell, dass er zwischen dem Weiß verschwand.
Das Blau über uns blieb.
Erst hell wie meine Augen bei Vollmond, dann wurde es dunkler, als würde man stetig Tinte Tropfen für Tropfen hineingeben.
Ich musste daran denken, wie gern ich früher gemalt hatte, während Jean begann Bilder von mir mit seiner Kamera zu machen.
Klick.
Klick klick klick.
Nebenbei und ein klein wenig abwesend machte ich ein paar Posen, führte seine Anweisungen aus, aber gedanklich war ich woanders.
Schon als kleiner Junge hatte ich gern gemalt und gezeichnet. Mit Kohle fanden wirre Linien nach und nach ihren Platz, schärfer als durch den Schwung eines Pinsels, bis man die Konturen deutlich sehen konnte.
Und das schon im Alter von fünf Jahren.
Überall hatte ich hingemalt. Einmal, da war ich sieben oder acht Jahren alt gewesen, hatte ich wochenlang im Wald kleine Kreide- und Kohlestückchen gesucht, bis ich die Steine eimerweise zusammenhatte. Niemandem hatte ich davon erzählt.
Und dann, nachts, als der Mond, noch nicht ganz voll, aber nah dran, am Himmel stand und die Burg in silbernes Licht tauchte, war ich auf dem Hof gegangen. Mit meinen ganzen Eimerchen.
Dann hatte ich die Augen geschlossen und es gefühlt. Dieses eine Lied, dass ich bei meinem Klavierunterricht gelernt und leicht abgeändert hatte. Woche für Woche hatte ich das Bild jetzt schon im Kopf, heute war es dann soweit.
Mit der Melodie im Kopf und der Kreide in der rechten und der Kohle in der linken Hand wirbelte ich dann über den Hof. Ohne etwas davon wirklich wahrzunehmen hatte ich Linie für Linie über den Stein gezogen. Ich war in einer völlig anderen Welt. Immer wieder hatte ich nach neuen Stückchen gegriffen. Es war gut, dass ich so viel gesammelt hatte.
Erst als es dann dämmerte, war mir bewusste geworden, wie lange ich schon hier draußen war und wortwörtlich meine Linien zog. Keine halbe Stunde später hatte sich in mir das warme, ruhige Gefühl Ende breitgemacht.
Mitten in der Bewegung war ich erstarrt und hatte erst da meine Umgebung wieder wahrgenommen. Diener und Wachen hatten auf dem weiträumigen Hof gestanden und mich mit großen Augen und offenen Mündern auf das Kunstwerk gestarrt, das sich über den kompletten Hof zog. Meine Eltern waren an den Balkon getreten und kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie meine Mutter geschockt ihre Hände vor den Mund geschlagen hatte.
Auch da hatte mein Vater mich anschließend verprügelt. Was auch sonst. Allerdings hatte meine Mutter mir gesagt, dass es wundervoll ausgesehen hatte und sie traurig war, dass der nächste Regen dieses Kunstwerk wegwaschen würde. Trotzdem hatte sie mir geraten, so eine Aktion nicht noch einmal zu machen, da meinem Vater mein Talent missfiel, es taugte nicht zum Herrschen.
Jedoch habe ich in den darauffolgenden Wochen immer Gesprächsfetzten von Wachen und Dienern mitbekommen, die darüber gesprochen hatten, wie unglaublich mein Kunstwerk aussah und das selbst der König so dachte.
»Lucinda, Logan, kommt ihr mit dazu? Wäre fertig mit Álvaro«, riss Jean mich abrupt aus meine Erinnerungen.
»Jap, sofort«, rief Logan und sprang auf.
Ich sah an mir herunter. Wann hatte ich mein Hemd aufgeknöpft? Vermutlich hatte Jean mich darum gebeten, während ich gepost hatte. Gepost. Posen. Ein komisches Wort.
Lucinda tat dem Beispiel ihres besten Freundes gleich und wollte sich ebenfalls erheben, allerdings verhedderte das Mädchen sich in ihrem Schals und knallte wieder zu Boden. Ich musste unwillkürlich lachen, als sie ihren Kopf hob und ein Zitronengesicht zog, weil sie vermutlich Sand im Mund hatte.
Gott, die Kleine war aber auch süß.
Logan konnte sich ein Lachen auch nicht verkneifen, aber er half ihr auf.
Kurze Zeit später waren die beiden bei uns. Lucinda war knallrot im Gesicht, was sie noch niedlicher machte.
Erstaunlich, Lorenzo hatte ich nie niedlich gefunden. Zumindest nicht auf diese Art, wie ich gerade für Lucinda empfand. Bei ihr war es irgendwie stärker, das Gefühl, es war wärmer.
Ich schüttelte den Gedanken ab, als sich mein Gewissen meldete.
»Ich würde erstmal gern Lucinda und Álvaro haben, ihr beide seht bestimmt toll nebeneinander aus«, freute sich Jean.
Logan guckte zwar finster, sagte aber nichts.
Lucinda hingegen wurde noch unsicherer. »Bist du sicher?«
Jean nickte. »Klar, geh zu ihm, er beißt schon nicht.«
Fast hätte ich gelacht. Die Kleine vermutlich auch.
Zögernd kam sie zu mir und stellte sich neben mich. Gott, wie zart das Mädchen doch war. Auf Jeans Anweisung rückte sie näher an mich und legte dann, wenn auch ein bisschen widerwillig, ihren Kopf auf meine Brust, beziehungsweise an mein Schlüsselbein. Ich hatte jäh das Verlangen, Lucinda in die Arme zu nehmen. Es juckte mich förmlich in Fingern. Ich schloss kurz die Augen.
Jean bremste mich. »Oh mein Gott, bleibt so, das ist perfekt.«
Klick.
Sie roch nach Flieder, Hyazinthe und Pfingstrose. Und nach etwas Fruchtigem.
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