Kapitel 14
Lucinda
»Ich glaube, die Pflanze braucht auch mal wieder etwas Wasser.« Kritisch betrachtete Shira meine Yucca Palme und ließ sich auf mein Bett fallen.
Der Tag war viel zu lang gewesen. In Kunst hatten wir diese Stunde eine Klausur geschrieben und irgendetwas sagte mir, dass ich da ins Klo gegriffen hatte. Mein improvisiertes Kunstwerk mit Topfpflanzen und einem Elfenmädchen, welches blutverschmiert die Blüte absägte, war aber auch völliger Bockmist gewesen. Vermutlich lag das aber auch daran, dass Álvaro und Lorenzo hinter mir turtelten und Alejandro mich gefühlt die ganze Stunde angestarrt hatte. Auf der einen Seite hatte es mich fast wahnsinnig gemacht, andererseits hatte ich es genossen. Zumindest letzteres.
Ich wusste nicht, was der Grund für meine Faszination von dem jüngeren Bruder war. Vielleicht war es die Tatsache, dass er zumindest schon einmal nicht schwul war und ich eine minimale Chance bei ihm hatte. Vielleicht war es die Tatsache, dass ich weniger gut kannte und diese Unbekannte eine gewisse Neugier in meine Adern entfachte. Vielleicht war es das Verlangen nach Rache.
Oder weil ich doch eine Blutsschlampe war, da ich das Gefühl von ausgeliefert sein und Dominanz sowie fremder Fänge in meinen Hals schmerzlich vermisste.
Ich seufzte und packte meinen Rucksack weiter aus. »Das ist Pflanziska. Und ich hab ihr schon genug Wasser gegeben. Seit gestern ist sie offiziell tot. Die steht nicht mehr auf.«
Traurig hingen die jämmerlichen Blätter der Pflanze nach unten, schlaff und gelblich, die meisten waren schon ausgefallen oder abgestorben. Der Stamm war nicht mehr fest und fühlte sich eher an, wie gerolltes Papier. Dabei hatte ich erst vorgestern eine Gießkanne Wasser rangekippt. Die Entschuldigung für all die Tage, die ich sie vergessen hatte.
Ob das so eine gute Idee gewesen war, wusste ich nicht. Vielleicht hatte ich Pflanziska auch ertränkt.
»Oh, das tut mir leid«, murmelte meine Freundin.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich werde es verkraften.« Eine Lüge; würde ich nicht.
Mit meiner Frühstücksdose huschte ich rasch in die Küche. Ja, es war schade. Ich hatte Pflanziska sehr gern gehabt. Und dieses Mal war ich so fest davon überzeugt gewesen, dass ich es schaffen würde, sie am Leben zu halten, obwohl mein Daumen jede Farbe hatte, nur nicht grün. Verdammt, ich hatte mir sogar in meinen Kalender geschrieben, dass ich nicht vergaß, die Palme zu gießen. Logan hatte mich Anfang auch noch daran erinnert.
Shira folgte mir. »Bist du ganz sicher, dass du nachher mit zu mir zum Reiten kommen magst?«, erkundigte sie sich.
Denn das Mädchen hatte vorgeschlagen, dass ich Monk, ihr Pferd, kennenlernen und ihr beim Reiten zusehen könnte. Selbstverständlich hatte sie angeboten, dass ich auch mit reiten dürfte, doch ich hatte dankend abgelehnt. Bei meinem Glück fiel ich runter und brach mir den Hals. Und ich hatte gerade schon genug mit mir zu tun.
Der Grund dafür hatte lange, braune Locken und tiefer, fast schwarzer Blick. Alejandro. In den letzten Tagen waren meine Augen immer öfter an dem schönen Mann hängengeblieben. Es war nun wirklich nicht zu leugnen, dass er verdammt attraktiv war. Das hatte ich mir schon eingestanden, seit ich Álvaro kannte. Und dieser glich seinem Bruder nun schon extrem. Auch wenn ich der Meinung war, dass sich Alejandro die Haare vielleicht noch etwas wachsen lassen könnte.
Aber Álvaro war in Moment sowieso ein böses Wort. Meine Wut auf ihn hatte sich seit gestern voll entfaltet. Das bisschen Liebe und der Schmerz waren dadurch weitestgehend verdrängt worden und mit dementsprechend bitterbösen Blicken ging ich dem älteren Bruder aus dem Weg.
Alejandro jedoch war immer öfter bei uns. Demzufolge auch Claire. Doch nachdem sie einmal einen Witz über meine grauen Haare gerissen und der Vampir mich augenblicklich verteidigt hatte, hielt sie ihren Mund und schmuste stumm auf seinem Schoß herum.
Dass er nichts dagegen hat, war mir ein peinigender Dorn im Auge.
Ich fragte mich ernsthaft, wie die beiden sich kennengelernt hatten. Claire hatte die letzten Tag etwas etwas davon geschwafelt, dass sie ihn auf einer Party getroffen hatte, doch so ganz wollte ich das nicht glauben. Alejandro war doch eigentlich, ähnlich wie sein Bruder, lieber draußen und der Natur, ging jagen und schlich nachts zwischen den Schatten von Haus zu Hause. Letzteres vermutete ich natürlich nur, genau wusste ich es nicht, da Álvaro nichts dergleichen je aufgefallen war.. Jedenfalls mied er Menschen. Daher zweifelte ich auch an dem Gedanken, dass er auf einer Party gewesen war.
Außerdem wollte ich nicht ganz verstehen, weshalb er mit Claire zusammen war. Denn das waren sie zweifellos: die Bitch klebte wie ein Gecko an ihm und drückte dem Mann ihre Lippen sonstwo hin. Und Alejandro wehrte sich kein bisschen dagegen. Zwar rückte er sie auf seinen Schoß ab und an zurecht, allerdings nur, damit der Vampir besser essen konnte.
»Luz?« Fragend sah Shira mich an.
Eine zarte Röte benetzte meine Wangen. »’Tschuldigung. Ich war mit den Gedanken woanders. Ja, ich komme nachher mit.«
Shira grinste. »Mit den Gedanken woanders. Bei welchem Bruder warst du denn?«
Erneut entgleisten mir die Gesichtszüge. »Wa-Was?«
Woher wusste sie von meiner Interesse an Alejandro? War es so offensichtlich? Ach du Schreck. Ertappt senkte ich den Blick.
»Du siehst ihn an wie Álvaro, als er noch kein Arschloch gewesen war.« Shira zuckte mit den Schultern.
Mit rotem Gesicht wandte ich mich meiner Brotdose zu und knüllte die Alufolie von meinem Frühstück zusammen. Beschämt entsorgte ich sie und wusch die Büchse aus. »Er hat was«, nuschelte ich.
Sie schnaubte. »Er ist ein Arsch.«
»Ja, trotzdem.« Ich lehnte mich mit den Po gegen die Anrichte. »Naja egal, er ist eh mit Claire zusammen.«
»Ja, stimmt, wenn man das betrachtet, tut er mir dann doch etwas leid.« Meine Freundin lachte.
Die Anspannung fiel auch von mir ab und ich stimmte mit ein. »Da hast du Recht.«
Wie schwiegen eine Weile. Ich stellte mir vor, wie Claire ihm tierisches auf den Senkel ging und er versuchte, die Bitch abzuwimmeln. Der Gedanke war lustig. Und genugtuend. Er erfüllte mich Mit Schadenfreude und dem Gefühl von Wertschätzung und macht. Besonders, weil ich sie nicht in deiner Nähe haben wollte.
»Aber... Luz?« Sie wurde wieder ernst. »Darf ich dich etwas fragen?«
Ich lächelte. »Klar, immer.«
»Es geht um Ash.« Unsicher tapste sie durch den Raum und setzte sich gegenüber der Anrichte an den Tisch.
»Ja? Ist irgendetwas passiert?«, wollte ich erstaunt wissen und runzelte die Stirn.
Frustriert fuhr sie sich durch ihre langen, glatten Haare, die zweifarbigen auch glitzerten. »Nein, alles ist gut. Ganz im Gegenteil. Es läuft fantastisch.«
Doch ich sah in ihren Fenster zur Seele deutlich, das etwas nicht stimmte. »Du klingst nicht sehr begeistert«, stellte ich fest.
»Naja, ich ... ähm ... ich hab halt das Gefühl, dass er mit mir schlafen möchte.« Sie war es, der jetzt das Blut in den Kopf schoss und Shira senkte den Blick.
Mein Grinsen wurde breiter. »Na das sind doch super Neuigkeiten, er liebt sich wirklich.« Und ich meinte jedes Wort genauso.
»Ja schon, ich ihn ja auch.« Aber das Mädchen klang noch immer sehr niedergeschlagen.
»Was stimmt denn dann nicht?« Das Lächeln verschwand von meinem Lippen.
»Also ... ähm ... « Unsicher kratzte sie sich an Kopf. »Ich hab noch nie mit einem Mann«, gestand die Kleine.
»Ach so.« Erleichtert stieß ich mich von der Anrichte ab und setzte mich neben sie. »Aber das ist doch nicht schlimm.«
Sie zupfte eine der Falten ihrer Bluse zurecht. »Bist du sicher?«, fragte das Mädchen wenig überzeugt.
Ich nickte. »Ja, er ist mega vorsichtig, was das betrifft, sag es ihm einfach.«
»Okay. Also habt ihr auch ...?«
»Ja. Es war für uns beide das erste Mal. Aber ich verspreche dir, Ash ist vorsichtig. Du brauchst echt keine Angst haben.« Behutsam strich ich über ihren Rücken.
Shira sah auf, Erleichterung funkelten in ihren Augen. »Danke dir.«
Ich lächte. »Nicht dafür.«
Vergangene Bilder drängten sich in mein Bewusstsein. Bunt glitzerndende Erinnerungen. Ash war so verdammt sanft gewesen. Wie hatten es nicht geplant, irgendwie war eines zum anderen gekommen. Als ich gemerkt hatte, womit es enden würde, hatte ich ihn die Wahrheit gesagt. Dass ich noch nie hatte.
Sein liebevolles Lächeln würde ich vermutlich nicht vergessen. Ebenso nicht, wie er mir über die Wange strich, einen zarten Kuss auf die Lippen hauchte und flüsterte, dass es bei ihm nicht anders war und ich aber keine Angst haben sollte. Das Gefühl seiner weichen Fingerspitzen hatte sich in meinem Gedächtnis eingebrannt. Ebenso wie das Schauern, was sich überkommen hatte, als meine Hände über seinen Rücken geglitten waren und die Narben gespürt hatten. Nur Sekunden später hatte ich meine Hände über meinem Kopf wiedergefunden.
»Hast du eigentlich mit Álvaro geschlafen?«, fragte Shira plötzlich und riss mich radikal aus den wundersdchönen Erinnerungen.
Mein Kopf fihr zu ihr herum. »Was?«
»Du hast mich schon verstanden«, kicherte sie.
Mit einem Mal war die ganze Wut, die ich vorhin gegenüber dem älteren Bruder empfunden hatte, wie weggeblasen und ein dumpfer Schmerz breiete sich in mir aus wie das lähmende Gift einer Schlange.
Gott, was war nur mit mir los?
»Nein.« Verlegen schüttelte ich den Kopf.
Und nur Sekunden später traf mich das Verlangen wie der Schlag. Wenn vorhin sich noch Ash vor meinem inneren Auge an mich geschmiegt hatte, war es jetzt Álvaro. Er war beides gewesen. Sowohl rau als auch unfassbar liebevoll. Im einen Moment hatte er meine Handgelenke fest zwischen seinen Fingern gehabt und seine Fänge in meinen Hals gebohrt, in der nächsten Sekunden tanzten felderleichte Küsse über die empfindliche Stelle unter meinem Ohr und hatte mir eine wohlige Gänsehaut beschert, während seine Fingerspitzen nahezu ehrfürchtig den Kurven meines Körpers gefolgt waren.
Und das war doch nicht einmal Sex. Nur Küssen mit Kuscheln. Wie es sich anfühlen musste, mit ihm zu schlafen ... Gott, nur bei dem Gedanken daran wurde mir schon schwindelig.
Ein wenig bereute ich, dass es nicht dazu gekommen war. Ein wenig mehr als nur ein wenig. Doch ich konnte duchaus verstehen, warum Álvaro nichts hatte überstürzen wollen. Eigentlich wurde die Ehe ja bei ihm auch erst nach sechs Monaten vollzogen.
Obwohl ich auch wusste, dass er und Lorenzo ab und an dann doch weiter gegangen waren, als sich nur zu küssen und Händchen zu halten.
Und schon hielt die Eifersucht wieder in mir mit Pauken und Trompeten Einzug und Tränen stiegen mir in die Augen. Schnell senkte ich den Blick, in der Hoffnung, dass Shira nichts merkte. Erfolgslos.
»Oh Gott, Luz, das wollte ich nicht.« Hilflos kam sie zu mir und nahm mich in den Arm.
Ich ließ sie gewähren. In mir drehten sich die Bilder. Erinnerungen von Ash, fern, abgeschlossen, aber trotzdem schön. Seine Nähe war immer warm gewesen, der Junge hatte sich mir geöffnet und die verletzlichen Seite gezeigt. Jede Umarmung hatte sich geborgener angefühlt als jeder Ort, an dem ich je gewesen war.
Bilder von Álvaro von Dingen, die wir hätten machen können. Seinen Berührungen, hauchzart wie eine Feder, rau wie die See um Herbst. Seine Sorge um mich, die Liebe und Fürsorge. Sein atemberaubender Körper mit diesen faszinierend Runen. Wie aus Marmor gehauen und elegant wie eine Raubkatze.
Und letztendlich Alejandro. Seine verführerische Aura, die Dominanz, die Gefahr und die Unwissenheit. Die Neugier, in sein Biss mir ebenso solch bittersüße Schmerzen schenkte.
Ash, Álvaro, Alejandro.
Ash.
Álvaro.
Alejandro.
Und wäre das ganze Chaos in meinem Kopf nicht schon genug, kam auf einmal eine sichtlich minderbemittelte Gehirnzelle auf hirnrissige Idee, die Logan-Karte zu ziehen. Wie süß seine Lippen doch geschmeckt hatten. Wie sicher sich seine feste Brust angefühlt hatte. Wie geborgen. Wie zu Hause.
Hatte ich nicht sogar letztens irgendwo gelesen, dass Beziehungen, die aus langjährigen Freundschaften entstanden, die besten waren?
Nur Sekunden später hätte ich mir vor Scham den Kopf abreißen können. Zum Teufel, Logan war wie ein Bruder für mich. Er war mein bester Freund. Quasi Familie.
Aber ein fester Freund war auch Familie, flüsterte die dumme Gehirnzelle bockig vor sich hin und schob mit aller Kraft die Logan-Karte mit zu Ash, Alejandro und Álvaro in mein Gedankenkarussell.
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