8. Kapitel
„Du kennst sie?"
Der stechende Blick meines Kollegen durchbohrt mich. Aufmerksam wandern seine Augen über mein Gesicht und sofort spannen sich meine Muskeln an.
Mein Puls steigt, ich höre das Pochen meines Herzens in den Ohren, mit meiner Hand umklammere ich die Tür der Dusche fester. Sie gibt mir ein wenig Halt und die Chance, diese Situation zu bewältigen.
Es dauert einige Sekunden, bis ich wieder dazu in der Lage bin, logisch zu denken. Ich kann ja einfach bei der Wahrheit bleiben.
Zwar habe ich diesen Blackout, aber jetzt wird er fast zu einem Vorteil für mich. Denn ich kann mich für nichts schuldig fühlen, an das ich mich nicht erinnere. Und woran ich mich nicht erinnere, habe ich auch nicht getan, so einfach ist das. Zumindest vorerst.
„Ja ich kenne sie", antworte ich Caleb daher und erwidere seinen skeptischen Blick selbstbewusst. „Sie war eine Mitarbeiterin in der Bar Sunshine, die ich wegen dem ersten Opfer befragt habe."
Diese Erklärung ist einleuchtend für ihn, da er zustimmend nickt. „Dann haben wir immerhin direkt einen Zusammenhang zwischen den beiden Leichen. Das Sunshine scheint etwas damit zu tun zu haben."
Mit dieser Theorie scheint er nicht falsch zu liegen, sie ist ziemlich offensichtlich. Das Profil des Täters schließt eigentlich solche offensichtlichen Dinge aus, aber irgendwo muss es endlich mal einen Anhaltspunkt geben. Und dieser ist nun die Bar.
Der Täter könnte also jemand sein, der dort arbeitet, was es uns sehr vereinfachen würde. Oder aber es ist ein Gast. Das wäre ein Problem, wie ich bereits in der letzten Nacht selbst festgestellt habe.
Aber wenn ich mich richtig erinnere, ist der Chef der Bar heute wieder persönlich vor Ort, dann kann ich ihn befragen. Sollte es stimmen, was Carol mir gesagt hat.
Leicht seufzend blicke ich auf ihren leblosen Körper herunter. Warum ausgerechnet sie?
Bevor ich dazu komme, diese Frage zu beantworten, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Verwirrt drehe ich mich um und sehe in Kathys amüsiertes Gesicht.
„Wie kommt es, dass ihr beide eher am Tatort steht als ich?"
Die Gerichtsmedizinerin mustert uns skeptisch und ich grinse sie schief an. „Wir haben uns extra Mühe gegeben. Irgendwann musste es ja mal funktionieren."
Ihr freches Auflachen passt so überhaupt nicht zu der Tragödie, die sich vor einigen Stunden in diesem Raum abgespielt hat, ist aber herrlich ehrlich und lockert die angespannte Stimmung auf.
„Genießt dieses Gefühl. Das nächste Mal bin ich wieder schneller." Sie schiebt mich mit einem sanften Druck auf der Schulter zur Seite und betrachtet die vor ihr liegende Leiche konzentriert.
„Naja das meiste sieht man schon. Todesursache erneut das Entfernen der Augen...ansonsten keine offensichtlichen Verletzungen. Aufgrund der bereits stark marmorierten Haut und Leichenstarre...wird sie so ungefähr gegen Mitternacht getötet worden sein. Die genauere Uhrzeit kann ich euch erst wieder später sagen."
Flink huschen ihre Augen über den nackten Körper der Frau, dann sieht sie sich die Umgebung an. „Ich frage mich wirklich, was dieser Psychopath mit den Augen macht. Wieso nimmt man sich Augen mit nach Hause? Das ist widerlich." Angeekelt wendet sie der Leiche den Rücken zu und macht sich ein paar Notizen.
Caleb ist inzwischen dazu übergegangen, die alte Frau auf dem Flur zu befragen, die wie es aussieht tatsächlich den Notruf gewählt hat. Die ersten Leute der Spurensicherung erscheinen im Türrahmen, was für mich das Zeichen ist, diesen Raum zu verlassen.
Bevor ich gehe, blicke ich ein letztes Mal den verunstalteten Körper vom Carol an und schwöre mir, dieses Schwein so schnell es geht ausfindig zu machen, was ihr das angetan hat.
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Mit gemischten Gefühlen hänge ich das Foto von Carol neben das von Serena in unserem Büro an die Wand mit all unseren Informationen.
Es ist ziemlich offensichtlich, was der Täter sich für Ziele ausgesucht hat. Es sind mittelalte Frauen, die aber noch verdammt gut aussehen. Sie stehen mit beiden Beinen im Leben, sind offen und nicht auf den Mund gefallen. Als Gemeinsamkeit haben sie ihren Arbeitsort, das Sunshine, welchen ich später noch besuchen werde.
Bei beiden Frauen gibt es die gleiche Todesursache, an beiden Tatorten konnten keine Spuren gefunden werden, die Rückschlüsse auf den Täter zulassen. Die Tatwaffen sind beide verschwunden und gesehen hat den Täter auch niemand.
In Carols Fall wurde er noch nicht einmal im Treppenhaus gehört. Er scheint dazugelernt zu haben oder es ist einfach nur Zufall, weil ihre Stufen nicht aus altem Holz bestehen und man sich daher automatisch leiser fortbewegt.
Die Augen der Opfer sind verschwunden und diese Tatsache ist fast das Schlimmste an dem ganzen Fall. Es muss etwas zu bedeuten haben, dass der Täter die Augen entfernt. Nur was?
Jeremy wackelt in meinem Augenwinkel mit einem Zettel in der Hand herum. Er traut sich wie es aussieht nicht, mich direkt anzusprechen, sondern versucht so unauffällig wie möglich auf eine andere Art auf sich aufmerksam zu machen. So ein Trottel.
Da ich keine Nerven für Erziehungsmaßnahmen habe, reagiere ich ausnahmsweise auf diesen kläglichen Versuch und drehe mich zu ihm um. „Was ist?"
Sofort klammert er sich an diesem verflixten Zettel fest und überwindet die paar Meter Abstand, die zwischen uns liegen. Ich werfe einen Blick auf den Zettel und schlucke, als ich das Bild eines Auges erkenne. Kann dieser Typ Gedanken lesen?
„Augen sind der Spiegel der Seele. Das sagt man zumindest umgangssprachlich über sie. Entfernt man sie, entwürdigt man den Menschen. Er wird blind, ist von der Außenwelt abgeschnitten, niemand kann mehr in seine Seele blicken. Er ist seelenlos geworden." Blinzelnd sehe ich den kleinen Philosophen neben mir an, kann ihm aber in keinster Weise widersprechen. Wir müssen uns mit der Thematik der fehlenden Augen näher befassen, da sie ein wesentlicher Bestandteil dieses Falls sind.
Daher bin ich fast schon ein bisschen stolz auf Jeremy, dass er es sich selbst zur Aufgabe gemacht und sich darüber informiert hat.
„Der Täter kann die Augen eigentlich nur aus zwei Gründen entfernt haben. Er ist sadistisch und genießt das Gefühl was er hat, während er den Opfern das Auge aussticht. Augen haben eine andere Konsistenz...oder Beschaffenheit als der restliche menschliche Körper. Nur in Fleisch zu stechen, scheint ihm nicht zu reichen."
Bei dem von Jeremy beschriebenen Ablauf der Tat wird mir sofort schlecht. Ich stelle es mir abartig vor, mit einem spitzen Gegenstand in ein Auge zu stechen. Innerlich vergleiche ich es damit, wie wenn man mit dem Fuß auf einen Käfer tritt. Knackt es wohl auch bei einem Auge so ekelig?
Ich schüttle mich und verdränge den Gedanken an dieses Geräusch. Stattdessen sehe ich Jeremy abwartend an. Dessen Augen werden immer größer, scheinbar hat er den Faden verloren.
„Die zweite Möglichkeit", helfe ich ihm auf die Sprünge und er nickt hektisch.
„Achja, die zweite Möglichkeit. Ja also die wäre, dass der Täter genau das Gegenteil eines Sadisten ist."
Verständnislos sehe ich ihn an. „Der Täter ist also lieb und rücksichtsvoll und sticht deswegen irgendwelchen Frauen die Augen aus?"
„Nein nein", winkt Jeremy schnell ab. „Er tut es, weil er sonst nicht damit klarkommt. Für sein eigenes Gewissen. Er kann den Opfern nicht in die Augen sehen, während er sie tötet. Er kann das Leid und die Schmerzen, die er ihnen zufügt, nicht ertragen, deswegen zerstört er das Ventil, durch das er die Emotionen der Opfer sehen kann. Die Augen. Er entfernt sie, um sich selbst zu schützen, sich unsichtbar zu machen. Weil ihm seine eigene Tat unangenehm ist. Er will dabei nicht gesehen werden."
Perplex setze ich mich auf einen Stuhl, der praktischerweise in meiner Nähe steht. Mit solch einer Analyse habe ich absolut nicht gerechnet. Genauso wenig habe ich an zwei so unterschiedliche Gründe für das Entfernen der Augen gedacht. Für mich war immer klar gewesen, dass der Täter es aus Genuss tut. Dass der Stich ins Auge der eigentliche Akt ist, auf den es ihm ankommt.
Dass das Töten an sich das Motiv sein kann und der Stich ins Auge nur gewählt wurde, damit es schnell geht und für den Täter angenehm ist, hätte ich niemals in Betracht gezogen. Diese neue Möglichkeit wirft das komplette Profil über den Haufen, was ich bisher dachte von dem Täter zu haben. Es eröffnet zu viele neue Möglichkeiten, da nun eigentlich jeder in Frage kommt.
Auf einmal könnte es auch ein introvertierter Mensch sein, für den das Töten ein Ventil ist. Um seinen angestauten Frust rauszulassen oder mal etwas zu tun, was einem keiner zutraut. Was niemand erwartet. Nicht einmal er selbst. Deswegen entfernt er die Augen. Als Schutzfunktion für sich selbst.
Ein seelenloser Mensch kann den Mörder nicht mehr für seine Tat verurteilen. Denn dann existiert nur noch der Körper, denn Knochen und Fleisch haben keine Gefühle.
„Gute Arbeit", lobe ich Jeremy, da ich durch seine Ausführung wirklich einen ganz anderen Blickwinkel auf den gesamten Fall bekommen habe. Jeremy wird leicht rot, so unangenehm ist es scheinbar für ihn, wenn seine Arbeit wertgeschätzt wird. In diesem Moment bereue ich es nicht, ihn zu diesem Mordfall dazu gezogen zu haben. Er hat die Chance genutzt, die ich ihm gegeben habe.
Aus diesem Grund entscheide ich mich spontan dafür, mit ihm zusammen zu der Bar zu fahren.
Caleb verhört währenddessen die Nachbarn von Carol, ob sie noch etwas gehört oder gesehen haben. Ich erhoffe mir nicht viel von diesen Gesprächen, aber vielleicht werde ich mal positiv überrascht.
Während der Autofahrt sitzt Jeremy steif und nervös neben mir. Dass er nicht mit seiner Hand den Türgriff umklammert hält und bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Auto springt, ist eigentlich alles.
Als wir an der Bar ankommen, verlässt er dennoch fluchtartig meinen Wagen, was mich amüsiert Grinsen lässt. Erst haut er so einen mit seiner Analyse raus und dann macht er sich wieder vor Angst in die Hose, wenn er enger mit mir zusammenarbeiten muss. So ganz verstehen tue ich diesen Kerl noch nicht.
Deswegen wundert es mich auch nicht, dass ich mir wie sein Vater vorkomme, als wir das Sunshine gemeinsam betreten. Heute ist es deutlich ruhiger und leerer hier, es ist aber auch erst mittags. Bei einer jungen blonden Kellnerin frage ich mich nach dem Besitzer dieser Bar durch.
Da wir an der Theke warten sollen, nutze ich die Gelegenheit und sehe mich in dem nur gering gefüllten Raum um. Die paar Personen, die dort sitzen, sind mir unbekannt, sie waren gestern nicht hier gewesen. Das wundert mich nicht großartig.
Dafür verwirrt mich der verärgerte Blick des Besitzers der Bar, als er von hinten kommt und mich entdeckt.
„Was machen Sie hier? Sie haben Hausverbot!" Streng mustert er mich, während ich ihn entsetzt ansehe. Jeremy reißt ebenfalls seine Augen auf und sieht mich verwirrt von der Seite an.
„Wieso Hausverbot? Ich war gestern das erste Mal hier", versuche ich zu erklären. Ich verstehe absolut nicht, wieso ich hier Hausverbot haben soll. Schließlich habe ich diese Bar gestern das erste Mal von innen gesehen. Er muss mich mit jemandem verwechseln, anders kann ich es mir nicht erklären.
Der stämmige Mann mit dem Schnauzbart sieht mich jedoch sehr überzeugt und fast schon feindselig an. In diesem Moment bereue ich es, nicht Caleb als Begleitung mitgenommen zu haben. Er könnte es mithilfe seiner Körpermasse besser mit dem Kerl aufnehmen als der Hänfling Jeremy.
Dieser steht angespannt neben mir und blickt verunsichert drein. Der Besitzer des Sunshine kneift erbost seine Augen zusammen.
„Ich wiederhole mich nur ungern, aber Sie haben Hausverbot Mr. Reynolds."
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