7. Kapitel
Geschockt starre ich auf meine Hände. Ich blinzle, in der Hoffnung, dass die rötliche Verfärbung verschwindet. Dass ich mir vielleicht nur einbilde, dort Blut zu sehen, weil mein Gehirn noch dabei ist, einen meiner Träume zu verarbeiten.
Aber das getrocknete Blut verschwindet nicht. Es ist real.
Mein Herz überschlägt sich in meiner Brust, während mir kalter Schweiß ausbricht. Wieso habe ich Blut an den Händen? Was ist letzte Nacht passiert?
Ich erinnere mich daran, in der Bar gewesen zu sein und dort etwas getrunken zu haben. Danach saß ich im Auto, bin nach Hause gefahren und in mein Bett gegangen, wo ich bis jetzt geschlafen habe.
Das sind zumindest die Dinge, die ich noch weiß. Anscheinend ist noch etwas anderes passiert, sonst würden meine Hände nicht so aussehen, wie sie nun mal aussehen. Ich habe einen Blackout. Einen verfluchten Blackout, der mich wahnsinnig macht.
Natürlich weiß ich als Ermittler, dass so etwas theoretisch passieren kann. Viele Opfer verdrängen die Geschehnisse einer Vergewaltigung oder einer anderen Straftat. Das Gehirn eines Menschen ist gut darin, einem etwas vorzuspielen. Wir erinnern uns an die Sachen, die wir für wichtig empfinden. Die uns interessieren und denen wir Aufmerksamkeit schenken. Alles was unwichtig ist, vergessen wir.
Ansonsten könnten wir nicht einmal Autofahren. Denn an diese banale Tätigkeit sind eigentlich viel zu viele Reize geknüpft, die das Gehirn nicht alle gleichzeitig verarbeiten kann. Also entscheidet es sich bei solch einer Reizüberflutung dafür, nur auf die Dinge zu reagieren, die anders sind als sonst. Das Gas geben, schalten, blinken und lenken funktioniert automatisch, darüber denkt kein Autofahrer mehr nach. Das Gehirn veranlasst den Körper nur dazu, auf die Dinge zu reagieren, die anders sind als bei der Routine. Eine rote Ampel, ein Fahrradfahrer oder veränderte Wetterbedingungen.
Würde das Gehirn sich auch noch auf das Lenken konzentrieren müssen, wäre jeder restlos überfordert.
Mich hat die menschliche Psyche und wie genau das Gehirn funktioniert schon immer sehr interessiert. Dennoch kann ich nicht abstreiten, dass ich ziemlich ungeduldig bei Verhören wurde, bei denen sich das Opfer nicht mehr an die Tat erinnern konnte.
Denn dadurch habe ich wichtige Zeit verloren und empfand es immer als nervig zu warten, bis demjenigen die wichtigen Hinweise und Details wieder eingefallen sind, mit denen ich dann weiterarbeiten konnte. Ich habe den Menschen immer Druck gemacht und ihnen gesagt, sie sollen sich mehr konzentrieren.
Jetzt bereue ich es, so mit ihnen umgegangen zu sein.
Denn ich merke, dass sie wirklich nichts dafür konnten. Das Gehirn ist genial darin, gewisse Sachen zu verdrängen. Egal wie sehr man sich anstrengt, die Information, die man haben möchte, taucht nicht auf.
Ich kann mir einfach nicht erklären, was in der letzten Nacht passiert ist. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Das verunsichert mich.
Denn mein Verstand ist das Wichtigste, was ich besitze. Das ist bei jedem Menschen so, aber gerade in meinem Beruf ist es eine Fähigkeit, ohne die ich aufgeschmissen wäre. Wenn ich nicht logisch denken kann, bin ich unmöglich weiterhin ein guter Polizist.
Und wenn ich genau genommen ein Detektiv bin, der nicht mehr weiß, was er tut, bin ich eine Gefahr für mein gesamtes Team und die Bevölkerung, die ich eigentlich durch meine Arbeit vor Straftätern beschützen soll. Ich bin unberechenbar.
Mir wird eiskalt und ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass mir mal so etwas passiert.
Liegt es an dem Alkohol, den ich getrunken habe? Hat das eine Glas zu viel für den Filmriss gesorgt, den ich nun habe? Oder habe ich etwas Schreckliches getan und es ist eine Schutzfunktion meines Körpers, dass er verdrängt, was genau geschehen ist?
Wenn es so wäre, bedeutet es etwas Schlimmes. Denn ich habe schon viel gesehen und erlebt, ich komme mit allem irgendwie klar. Was kann also so schrecklich sein, dass mein Verstand eine Mauer um diese Erinnerungen gebaut hat?
Eine Mauer, die ich nicht schaffe, einzureißen. Mit jedem Gedanken, den ich an die letzte Nacht verschwende, wächst die Mauer und macht es mir unmöglich, dahinter etwas zu erkennen. Ich bin absolut hilflos, machtlos und aufgeschmissen. Und gleich arbeitslos, wenn ich nicht langsam aus dem Bett aufstehe.
Während ich zum Badezimmer laufe, melden sich leichte Kopfschmerzen und drücken von innen gegen meine Stirn. Ich kneife die Augen zusammen und halte meine Hände unter fließendes Wasser.
Gebannt sehe ich dabei zu, wie sich das Blut mit Wasser mischt und die weiße Keramik meines Waschbeckens verfärbt. Dieser Anblick erinnert mich an die Badewanne, in der die Leiche von Serena lag. Das getrocknete Blut, verwaschene Spuren um ihren toten Körper in Richtung Abfluss.
Meine Magensäure steigt empor und ich übergebe mich würgend direkt vor mir ins Waschbecken.
Mit leicht zitternden Fingern wasche ich mir das Gesicht und den Mund sauber. Dann klammere ich mich an den Rand des Waschbeckens und blicke mich mit Hilfe des Spiegels an.
Meine Augen liegen tief in ihren Höhlen, die dunklen Augenringe kann ich nicht verleugnen. Meine Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst und meine Wangenknochen stehen kantiger hervor als sonst. Ich sehe zusammengefasst genauso schrecklich aus, wie ich mich fühle.
Einer kurzen Eingebung nach folgend, ziehe ich mir mein Oberteil über den Kopf und inspiziere meinen eigenen Körper nach Verletzungen. Als ich keine finde, wird mein bitterer Verdacht bestätigt. Das Blut an meinen Händen ist nicht von mir gewesen, sondern von irgendwem anders.
Am liebsten wäre ich zurück ins Bett gegangen, aber das kann ich nicht machen. Das würde mich verdächtig machen. Ich weiß selbst nicht wofür, aber ich habe so ein komisches Gefühl.
Daher schmeiße ich mir eine Schmerztablette ein, trinke eine Tasse Kaffee im Stehen und fahre dann mit dem Auto zur Arbeit. An jeder roten Ampel sehe ich mich im Inneren des Wagens um, auf der Suche nach etwas, was mir eine Erklärung für die letzte Nacht liefern könnte. Aber ich finde nichts, es ist alles wie immer.
Das beruhigt mich, verunsichert mich aber gleichzeitig, weil ich weiterhin so im Dunkeln tappe. Ich bin ganz durcheinander, als ich schließlich auf meinem Parkplatz vor dem Revier halte und den Motor abstelle.
Mit fahrigen Fingern halte ich das Lenkrad weiterhin umklammert. Ich muss mich verdammt nochmal zusammenreißen, damit mir niemand etwas ansieht. Ich muss den Chef spielen und einfach meine Arbeit erledigen. Nicht mehr über die letzte Nacht nachdenken, sondern einfach meinen Job machen.
Das kann doch wohl nicht so schwer sein.
Schwungvoll öffne ich die Wagentür, atme noch einmal tief durch und steige dann aus. Als ich das Revier betrete, komme ich mir seltsam beobachtet vor. So als würde mir jeder sofort ansehen, dass etwas nicht stimmt.
Ich bilde mir ein, dass die Augen meiner Kollegen einige Sekunden länger auf mir verweilen, als sie es sonst tun, wenn wir uns begrüßen. Das kann alles aber natürlich auch pure Einbildung sein.
Mit gemischten Gefühlen erreiche ich mein Büro, sammle mich nochmal, bevor ich meinem Team unter die Augen trete. Ich bemühe mich, so neutral wie möglich zu gucken und platziere mich wie gewohnt vor der Wand mit unseren Informationen.
Dieser Platz frontal vor meinen Kollegen ist mir heute so unangenehm wie noch niemals zuvor.
„Zu tief ins Glas geschaut gestern Abend?", fragt mich Caleb neckend und ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. An allen anderen Tagen wäre mir ein guter Konter eingefallen, aber heute nicht. Da trifft es mich eher, dass er mir sofort ansieht, dass etwas nicht stimmt. Genau das wollte ich doch vermeiden.
Caleb mustert mich aufmerksam, er scannt jeden Zentimeter meines Körpers ab und mir wird vor Nervosität ganz heiß. Er ist seit Jahren mein Partner, er kennt mich so gut wie kein anderer auf dieser Welt. Genau das wird mir gerade zum Verhängnis oder zumindest fühlt es sich so an. Er müsste blind sein, um nicht zu bemerken, dass etwas nicht stimmt.
Als er nach einigen Augenblicken den Mund öffnet, um etwas zu sagen, bereite ich mich insgeheim auf das Schlimmste vor. Vielleicht klebt irgendwo an mir noch Blut, oder ich wurde irgendwo gesehen, woran ich mich aber nicht mehr erinnern kann.
Aber statt einem Satz aus seinem Mund, ertönt auf einmal der Klingelton meines Handys.
Fast schon erleichtert darüber, der Konfrontation mit Caleb erstmal aus dem Weg zu gehen, fische ich das Handy aus meiner Hosentasche heraus.
„Hier ist Wagen 256, wir haben eine Leiche gefunden", meldet sich ein Streifenpolizist und ich runzle meine Stirn.
„Wieso rufst du mich direkt an und gibst es nicht über Funk durch, wie sonst auch immer?", frage ich verwirrt. Dabei überlege ich, zu wem diese Stimme gehört, kann sie aber niemandem zuordnen.
„Die Leiche passt zu deinem aktuellen Fall. Sie hat keine Augen mehr."
Fast wäre mir vor Schreck das Handy aus der Hand gerutscht. Eine weitere Leiche. Nein das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Wir sind mit der ersten doch noch lange nicht fertig!
„Wo seid ihr?"
Nachdem mir der Kollege seinen Standort durchgegeben hat, verteile ich schnell die Aufgaben für mein Team. Jeremy platziere ich bei den Büroaufgaben zu Sam und Mike, da ich nicht davon ausgehe, dass er den Anblick einer weiteren augenlosen Leiche verkraften wird.
Jenny bleibt ebenfalls auf dem Revier, weswegen ich einige Minuten später gemeinsam mit Caleb zu unserem neuen Tatort fahre.
Eine Autofahrt mit ihm auf dem Beifahrersitz hat sich noch nie so unangenehm angefühlt wie am heutigen Tag. Die ersten Minuten herrscht eine unangenehme Stille zwischen uns.
Wir wissen beide, dass es eigentlich viel zu sagen gibt, aber niemand macht den Anfang.
„Willst du darüber reden?", bricht Caleb dann doch irgendwann die Stille. Ich schüttle als Antwort mit dem Kopf, die er sehr zu meiner Verwunderung nickend zur Kenntnis nimmt.
Er kennt mich einfach schon zu gut. Denn er weiß genau, dass er in meiner derzeitigen Verfassung keine gehaltvolle Antwort bekommen wird. Und ich bin ihm einfach nur sehr dankbar dafür, dass er nicht weiter nachfragt, nur um mich zu nerven.
Nach ungefähr zehn Minuten befinden wir uns am Tatort. Ich staune darüber, wie ähnlich er dem vorherigen ist.
Das Opfer wohnt erneut in einem Mehrfamilienhaus, dieses Mal aber nicht ganz oben unter dem Dach, sondern nur in der zweiten Etage. Die zwei Streifenpolizisten stehen in der geöffneten Wohnungstür, während eine ältere Dame ganz aufgeregt vor ihnen hin und her läuft.
„Ich wusste doch, dass etwas passiert sein muss...sie verlässt immer pünktlich das Haus...aber heute habe ich ihren Schlüssel nicht gehört..." Immer wieder murmelt sie diesen Satz und bringt mich zu der Vermutung, dass sie diejenige gewesen sein muss, die die Polizei gerufen hat. Aber für weitere Fragen an sie habe ich später Zeit. Jetzt interessiert mich erstmal, wer das Opfer ist.
Es wundert mich nicht, dass Brady, der Polizist, der mich angerufen hatte, zielstrebig in Richtung Badezimmer läuft. Ich bleibe im Türrahmen stehen, als ich die Leiche erblicke.
Die mittelalte Frau liegt nackt in ihrer Dusche. Eine Hand hängt aus der Tür heraus, liegt auf dem Boden, ihre zarten, schlanken Finger sind verkrampft zu einer Faust geballt.
Langsam trete ich näher auf sie zu. Ihre Beine sind angewinkelt, sie muss genauso wie Serena auf dem glatten Boden ausgerutscht sein. Ihr Körper hat keine weiteren Verletzungen wie die Schnittstelle an Serenas Schulter.
Das bedeutet, dass der Täter sein Ziel dieses Mal sofort getroffen hat. Die leeren, blutunterlaufenden Augenhöhlen der Frau sind der Beweis dafür, dass wir es mit dem gleichen Täter zu tun haben.
Während ich die Leiche genauer mustere, höre ich wie Caleb hinter mir Informationen über ihre Identität heraussucht.
Stockend atme ich ein, als ich auf die braunen Haare der Frau blicke. Ihre vollen Lippen, die Wangenknochen. Ich kann noch vor mir sehen, wie sie gelächelt hat.
Ihre Haare, die etwas wirr um ihren Kopf herumstanden, weil sie sich aus dem Zopf gelöst hatten. Jetzt liegen sie feucht und angeklebt halb auf ihrer Stirn.
Ihre rosige Hautfarbe ist verschwunden, stattdessen sieht sie marmoriert und blass aus. Nichts erinnert mehr an die starke, stolze Frau, die sie gestern Abend noch war.
Mit Entsetzen stelle ich fest, dass ich sie kenne. Mir wird schlecht und schwarze Punkte tanzen auf einmal vor meinen Augen.
Reflexartig halte ich mich an der leicht geöffneten Duschtür fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Hinter mir höre ich, wie sich mir Caleb nähert. Er bleibt dicht neben mir stehen und ich spüre seinen bohrenden Blick seitlich auf mir.
Ich schaffe es nicht, meine Augen zu öffnen. Stattdessen öffne ich langsam meinen Mund.
„Das ist..."
„Carol Stevens", beendet er meinen Satz und sorgt dafür, dass mir mein Herz endgültig in die Hose rutscht.
Wie zum Teufel konnte das passieren?
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