4. Kapitel
Missmutig blicke ich auf den Bildschirm meines Computers.
Wie ich erwartet habe, befindet sich Jeremy am anderen Ende der Stadt auf Streife und verteilt fleißig Strafzettel. Also geht mein Plan nicht auf, ihn jetzt direkt zum Fall dazu zu ziehen.
Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, aber ich bin der Meinung, es wenigstens ausprobieren zu können. Wenn diesen Lauch niemand mal im Nacken packt und in die richtige Richtung drückt, wird aus ihm nie ein anständiger Polizist werden. Warum ausgerechnet ich mir diese Aufgabe aufhalsen möchte, ist mir selbst schleierhaft.
Eigentlich habe ich genug mit dieser Mordermittlung zu tun, bei der wir einfach nicht weiterkommen. Und zu dieser Ermittlung gehören leider auch diese verdammten Berichte, die ich noch schreiben muss.
Seufzend öffne ich das Dokument auf meinem Rechner und rufe die Akte von Serena Whitmann auf. Dann hacke ich meinen Bericht in die Tasten und gelange nicht zum ersten Mal zu dem Wunsch, eine Sekretärin zu haben, die diese lästigen Schreibaufgaben abnehmen könnte. Aber für so etwas fehlt dem Revier das Geld und ein bisschen sollen wir Detektives ja schließlich auch noch selber machen.
Als ich fertig mit meiner Dokumentation bin, lese ich mir noch die Ergebnisse meines Teams durch. Die Gespräche mit den Angehörigen und Freunden sind dabei das Interessanteste, was ich finde.
Ein Satz ihrer besten Freundin Sheyla sticht mir dabei besonders ins Auge: „Ich habe ihr immer gesagt, sie soll sich angewöhnen, ihre Tür abzuschließen."
Sofort wandert meine Hand zu dem Block, auf dem sich meine Notizen befinden. Dieser Satz liefert eine Erklärung dafür, wieso keine Einbruchsspuren an ihrer Tür zu sehen waren. Die Tür ist einfach offen gewesen. Schnell kritzle ich diese Information auf das Blatt Papier und erhebe mich von meinem Stuhl. Das Rätsel um diese Tür wäre geklärt, fehlt nur noch die allgemeine Eingangstür des Mehrfamilienhauses.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es erschreckend spät geworden ist. Ich schicke mein Team nach Hause, rufe Sam und Mike kurz an und sage ihnen, dass sie ihre Tour durch die Mülldeponien der Stadt erst morgen fortsetzen müssen. Die Erleichterung darüber in Mikes Stimme ist nicht zu überhören und veranlasst mich dazu, morgen vielleicht Caleb mit dieser Aufgabe zu beglücken. Als Rache für den Penis.
Als mir auf dem Weg zum Ausgang Jeremy entgegenkommt, kann ich mein Glück kaum fassen. Den Kerl habe ich durch die neuen Erkenntnisse fast schon wieder vergessen.
„Hey Jeremy, komm mal her", rufe ich ihm zu und sorge dafür, dass er vor Schreck zusammenzuckt. Seine Augen weiten sich kurz panisch, als er mich erblickt. Ich winke ihn zu mir herüber und blicke schließlich in sein leichenblasses Gesicht, während er vor mir stehen bleibt. Vielleicht ist meine Idee doch nicht eine ganz so gute Entscheidung? Aber jetzt ist es zu spät.
„Ab morgen arbeitest du in meinem Team. Wir brauchen jeden verfügbaren Mann und da du mit dem Fall sehr gut vertraut bist, würde ich dich gerne dazu ziehen", kläre ich ihn dann auf und kann dabei zusehen, wie seine Schultern vor Erleichterung nach vorne sacken. Vermutlich dachte er, jetzt einen riesigen Anschiss von mir zu bekommen, weil er irgendwas falsch gemacht hat.
Ein erfreutes Lächeln bildet sich auf seinem Gesicht. „Oh das ist...toll! Das wäre meine erste Mordermittlung", strahlt er stolz und ich hebe meine Hand, um seine Euphorie zu bremsen.
„Freu dich nicht zu früh, wir haben einiges zu tun. Du wirst dich nach denen da zurücksehnen." Mit dem Finger zeige ich auf den Block mit Strafzetteln in seiner Hand. Jeremy blinzelt und schüttelt dann mit dem Kopf.
„Nein, das glaube ich nicht. Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen, Sir."
Mir kräuseln sich die Nackenhaare. Sir.
Kurz warte ich, ob er sich zum Abschied seine Hand an die Schläfe legt, um wie beim Militär zu salutieren, aber er lässt es bleiben.
„Bis morgen", brummle ich und lasse mein Fangirl dann im Flur stehen.
Draußen angekommen steige ich in mein Auto und mache mich auf den Weg nach Hause. Zur Abwechslung nieselt es mal wieder, was die Fahrt nicht unbedingt angenehmer macht. Durch die Dunkelheit blenden mich die anderen Scheinwerfer der Autofahrer und dank des Regens spiegelt der Asphalt.
Das Wetter ist genauso schlecht wie gestern in der Mordnacht.
Dieser Gedanke bringt mich auf eine Idee und ich fahre anstelle nach Hause noch einmal zum Tatort. Dort stelle ich den Wagen am Anfang der Straße ab und trete hinaus in den Regen.
Es sind die perfekten Gegebenheiten, um den Ablauf des Mordes einmal durchzugehen und nachzuspielen. Ich schließe das Auto ab und konzentriere mich, um wie der Täter zu denken.
Die vor mir liegende Straße ist dunkel. Nur hinter mir laufen vereinzelt Menschen umher, die sich mit Kapuzen und Schirmen vor dem Regen schützen.
Der Täter wird eine Kapuze getragen und sich dadurch unkenntlich gemacht haben. Denn einen Schirm könnte man am Tatort vergessen und Rückschlüsse auf die Person ermöglichen.
Ich ziehe mir meine eigene Kapuze über den Kopf und betrachte die Straße durch dieses eingeschränkte Sehfeld. Das Haus in dem Serena wohnte, liegt fast 200 Meter weit in die Straße hinein. Der Täter muss es bewusst ausgewählt haben.
Denn eigentlich nimmt jeder Mensch zuerst die offensichtliche Möglichkeit. Der Weg mit dem geringsten Widerstand ist psychologisch gesehen häufig der Richtige.
In diesem Fall wäre der geringste Widerstand das zurückversetzte, zweite Haus auf der rechten Straßenseite. Ein dunkler Busch schirmt die Haustür vor Blicken von der Straße ab, sodass man dort in Ruhe einbrechen könnte. Auch der Rückweg, nach der Tat, bis zur Hauptstraße wäre kurz, um sich dort unauffällig wieder unter die anderen Menschen zu mischen.
Der Täter hat sich aber für das Haus auf der linken Seite entschieden, von dem ich die Haustür bis hierhin sehen kann. Er wählt es bewusst aus, oder aber er braucht den Nervenkitzel.
Meine schweren Schuhe geben gedämpfte Geräusche von sich, während ich die Straße weiter hinunterlaufe. Von einem Haus geht durch einen Bewegungsmelder eine Lampe an, ansonsten erhellen nur die spärlich vorhandenen Straßenlaternen meinen Weg.
Am Haus angekommen, drehe ich mich um und sehe zur Hauptstraße zurück. Nur in Schemen kann ich die dort entlanglaufenden Menschen erkennen. Sie sind zu weit weg, um Gesichter erkennen zu können. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ich für sie ebenfalls nicht zu erkennen bin.
Ich bin so weit in der Straße, dass ich keine Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Eigentlich stehe ich offensichtlich hier herum, aber gleichzeitig so, als wäre es selbstverständlich. Nichts Ungewöhnliches, dass hier jemand das Haus betreten möchte. Deswegen nimmt mich niemand bewusst wahr, genauso wie gestern den Täter.
Einige Regentropfen fallen mir ins Gesicht und ich ziehe die Kapuze wieder ein Stück weiter nach vorne. Dann lehne ich mich mit dem Rücken neben die Eingangstür gegen die Hauswand. Diese Stelle ist perfekt.
Ich bin im Schatten der Hauswand verschwunden, sodass mich nun niemand mehr auf den ersten Blick sieht. Langsam drehe ich meinen Kopf und mustere die Tür. Da sie nicht aufgebrochen wurde, gibt es nur ein paar andere Möglichkeiten.
Der Täter hatte einen Schlüssel, was ich aber bezweifle. Die Nachbarn hätten in diesem alten Haus gehört, wenn jemand die Tür aufgeschlossen hätte. Diese sind bekanntlich besonders hellhörig. Also scheidet diese Möglichkeit aus.
Eine weitere wäre, dass er wahllos irgendwo geklingelt hat, bis ihm jemand die Tür geöffnet hatte. Aber auch das wäre auffällig gewesen und die Nachbarn hätten es logischerweise bemerkt.
Also bleibt nur noch eine Möglichkeit: Der Täter stand hier, hat gewartet bis jemand das Haus verließ und sich dann unbemerkt ins Haus geschlichen, bevor die Tür wieder zugefallen ist.
Dann befand er sich im Hausflur und ihm stand nichts mehr im Weg, um zu seinem Opfer zu gelangen. Denn Serana Whitmann hatte ihre Haustür nicht verschlossen.
Zufrieden wische ich mir den Regen von der Nase, der dort langsam heruntertropft. Ein kalter Wind lässt mich frösteln und ich traue meine Augen nicht, als sich die Haustür öffnet. Laut telefonierend verlässt ein Nachbar das Haus, biegt in die andere Richtung ab, sodass er mich nicht sieht.
Die Tür fällt langsam hinter ihm zu. Reflexartig greife ich nach dem Türgriff und halte sie fest, bevor sie ins Schloss fällt. Diese Chance muss ich jetzt einfach nutzen.
Bevor ich es mir anders überlegen kann, stehe ich im Hausflur und schließe die Tür hinter mir.
Auch hier muss ich anfangen, wie der Täter zu denken. Der Weg mit dem geringsten Widerstand wäre die Tür direkt zu meiner linken. Aber der Täter denkt nicht wie die Mehrheit der Menschen. Er tut genau das Gegenteil von dem, was die meisten tun würden.
Er nimmt nicht den einfachsten Weg, sondern den schwersten, riskantesten. Er geht nach ganz oben ins Dachgeschoss.
Zu einem bestimmten Ziel, oder aber er braucht den Adrenalinkick. Aber es ist wahnsinnig, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, bei einem Mord im Dachgeschoss entdeckt zu werden. Da mir der Täter bisher sehr schlau vorkam, denke ich nicht, dass er so waghalsig ist, um sich die oberste Etage nur wegen der Spannung ausgesucht zu haben.
Die Frage, ob man rechtzeitig wieder unten ist, bevor ein Nachbar etwas merkt. Ob man eher draußen ist, bevor die Polizei vor Ort ist. Nein, so schätze ich den Täter nicht ein.
Er handelt nicht spontan, sondern konzentriert. Er ist geduldig, sonst hätte er nicht so lange neben der Eingangstür gestanden, um zu warten, bis jemand das Haus verlässt. Das alles bedeutet für mich, dass er sich das Opfer bewusst ausgesucht haben muss. Denn er handelt mit Bedacht, er weiß, was er tut.
Und er handelt so offensichtlich, dass es schon wieder unauffällig ist. Er geht in der Masse unter, weil er sich nicht versteckt und unsichtbar wirken möchte. Er ist einfach da. Er wird gesehen, aber nicht wahrgenommen. Er ist verdammt clever. Und dadurch eine große Gefahr.
Die alten Stufen aus Holz ächzen leicht unter meinem Gewicht, als ich langsam nach oben steige. Ich laufe an den verschlossenen Haustüren vorbei, denke mich dabei wieder in die Lage des Täters hinein. Durch jeden Türspion könnte jemand sehen, mich entdecken. Und dann wäre ich enttarnt. Nur meine Kapuze schützt mich vor deren Blicken.
Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich spüre das Adrenalin durch meinen Körper rauschen und kann mir plötzlich viel zu gut vorstellen, wie sich der Mörder gefühlt haben muss.
Schnell schiebe ich diesen Gedanken an die Seite, als ich vor der verschlossenen Tür von Serena ankomme. Mit meiner Hand schiebe ich das Absperrband weg, dann umfasse ich den Türgriff. Mit einem leisen Klacken springt die Tür auf und ich blicke in die leere, verlassene Wohnung des Opfers.
Es ist insgesamt fast schon zu leicht, sich Zutritt zu ihr zu verschaffen. Der Mörder muss die ganzen Informationen gehabt haben. Dass sie allein war, dass sie nie abgeschlossen hat und auch, dass die Nachbarn so spät abends noch das Haus verlassen haben. Er muss das Opfer definitiv gekannt haben.
Vielleicht nicht gut, aber wenigstens flüchtig.
Nachdenklich ziehe ich die Tür wieder zu und laufe das Treppenhaus herunter. Ich habe genug gesehen und einige neue Erkenntnisse gewonnen.
Im Auto angekommen, notiere ich mir kurz das Profil des Täters und liste zusätzlich Personen auf, die das Opfer oberflächlich gekannt haben konnten.
Dafür kommen die Nachbarn, Freunde, aber auch Arbeitskollegen in Frage. Irgendwo dort muss es einen weiteren Hinweis über den Täter geben.
Ich starte den Motor und trockne mir meine vom Regen nassen Hände an meiner Hose ab. Da meine Kollegen das private Umfeld des Opfers bereits bearbeitet haben, werde ich mich morgen ihrem Arbeitsplatz widmen. Der Bar am Strand.
Zufrieden fahre ich los. Ich bin dankbar dafür, dass der Tag doch noch erfolgreicher zu Ende ging, als ich zuerst dachte. Laut drehe ich die Musik aus dem Radio auf und trommle gut gelaunt mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, als auf einmal mein Handy klingelt.
Genervt drehe ich die Musik leiser und schalte das Handy auf Lautsprecher.
„Reynolds?", melde ich mich, da mir die Nummer unbekannt ist. Ich höre ein lautes Atmen am anderen Ende der Leitung.
„Hier ist John. Ich habe glaube ich Informationen für Sie."
Es dauert einige Sekunden, bis mir wieder einfällt, wer John ist. Der Nachbar des Opfers. Es erscheint mit ziemlich unwahrscheinlich, dass er wirklich eine gehaltvolle Nachricht für mich hat, aber ich frage dennoch höflich nach, was er mir mitteilen möchte.
„Der Mörder. Er war gerade hier. Ich habe seine Schritte auf der Treppe wiedererkannt."
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