2. Kapitel
Beim Anblick der Leiche bereue ich es, so wenig getrunken zu haben. Vielleicht wäre der Anblick mit mehr Alkohol intus etwas erträglicher. So aber verfrachte ich hart schluckend den Inhalt meines Magens dorthin zurück, wo er ursprünglich herkam.
Nachdem ich den ersten Schock überwunden habe, schaffe ich es, noch einen Schritt weiter zu der Leiche zu gehen. Die verstümmelte Frau liegt nackt in ihrer Dusche, die gläserne Tür ist weit geöffnet und gibt sofort den Blick auf sie frei. Kathy, die Gerichtsmedizinerin, ist halb über sie gebeugt und inspiziert aufmerksam den grausam verunstalteten Körper.
Als sie meine Anwesenheit bemerkt, tritt sie einen Schritt zur Seite, sodass ich mir das Blutbad selbst näher ansehen kann. „Das arme Ding" ist ihr einziger Kommentar zu der Leiche.
Die tote Frau liegt mit angewinkelten Beinen in der Dusche, was für mich bedeutet, dass sie vermutlich einfach auf dem glatten Boden heruntergerutscht ist. Getrocknetes und mit Wasser vermischtes Blut befindet sich auf der einst weißen Keramik um sie herum.
Den Spuren des Blutes nach, die sich auf ihrer makellosen Haut befinden, lag sie noch einige Momente tot unter dem laufenden Wasserstrahl, da die Stelle sauber gewaschen ist, die sich direkt darunter befindet. Ich konzentriere mich auf all diese Details, den geraden, aber nicht tiefen Schnitt an ihrer Schulter, ihre rot lackierten Fingernägel und die blonden, langen Haare. Ich lenke mich mit all diesen Kleinigkeiten ab, um ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Nachdem ich mir alles eingeprägt habe, bleibt mir leider nichts anderes übrig, als hoch in ihr Gesicht zu blicken, das schrecklicher nicht aussehen könnte.
Dicke, rote Striemen von zerlaufenem Blut sind auf ihrer Wange zu sehen, mittlerweile angetrocknet. Es kostet mich einiges an Überwindung, um die Ursache dieser Spuren genauer zu betrachten.
Dann aber blicke ich ihn ihre Augen. Oder vielmehr, in die leeren Augenhöhlen, die mit getrocknetem Blut gefüllt sind. Sofort würge ich und wende mich von der Frau ab.
Ich sehe den Streifenpolizisten am Fenster stehen und kann jetzt verstehen, wieso er so blass aussieht. Er ist noch jung und diese Leiche vermutlich eine der ersten, die er sieht. Wenn nicht sogar die erste. Sofort tut er mir leid, dass er mit diesem Anblick konfrontiert wurde.
In meiner gesamten Laufbahn habe ich schon viele Leichen gesehen, auch welche in schrecklichem Zustand. Aber so wie diese hier sah nie eine aus. Für mich persönlich gibt es nichts Ekligeres als etwas an den Augen zu haben. Wenn diese nicht normal aussehen, wie beispielsweise bei Sehstörungen schief stehen, habe ich bereits ein Problem, weil ich nicht weiß, wo ich dann hingucken soll.
Da hier nicht mal mehr Augen vorhanden sind, stehe ich in meinem eigenen, persönlichen Horrorfilm.
Kurz schließe ich meine Lider und versuche, mich zu sammeln. Ich hoffe, dass man mir nicht allzu offensichtlich ansieht, wie sehr mich der Anblick der Leiche anekelt.
„Wer ist das?", frage ich den jungen, blonden Polizisten, um die Arbeit nun endlich halbwegs professionell aufzunehmen. Der Polizist tritt vom geschlossenen Fenster zurück und ich schnappe mir postwendend ein paar Gummihandschuhe und öffne es. Diese Mischung aus feuchter Luft und dem Geruch nach Eisen durch das Blut macht es nicht gerade einfacher, sich zu konzentrieren und nicht auf den Fußboden zu kotzen.
Nachdem ich ein paar tiefe Atemzüge der nächtlichen, kühlen Luft genommen habe, drehe ich mich zu dem Polizisten um. Ich werfe einen Blick auf sein Namensschild, da ich ihn bisher nur vom kurzen Sehen auf dem Revier kenne. Jeremy ist sein Name.
Man merkt sichtlich, wie nervös er ist, da er mit fahrigen Fingern durch sein Notizbuch blättert, bis er die richtige Seite gefunden hat. Seine Wangen verfärben sich dabei leicht rot, als er kurz auf meine Hose sieht. Dann vertieft er sich schnell wieder in sein Buch.
„Serena Whitmann, 38 Jahre, ledig", ließt er vor. „Diese Informationen haben wir von ihrem Personalausweis, den wir in ihrer Handtasche gefunden haben. Ihre Identität wurde bereits bestätigt." Fast schon stolz berichtet er mir von dieser Mammutaufgabe, die ein Telefonat mit unserer IT-Abteilung umfasst, welche die Personalien in unserem System eingegeben und überprüft hat. Ich halte aber meinen Mund, da ich mich noch sehr gut daran erinnern kann, wie meine ersten Monate auf dem Revier waren.
„Ist die Tatwaffe gefunden worden?"
Erneutes Blättern im Notizbuch ist die Antwort, sowie ein weiterer Seitenblick auf meine Hose, deutlicher gesagt meinen Schritt, dann ein hektisches Kopfschütteln. „Nein. Wir gehen davon aus, dass es sich um einen spitzen Gegenstand handeln muss. Ein Dolch oder Messer würde zu den Verletzungen passen."
Nickend nehme ich diese Antwort zur Kenntnis, da ich mir das bereits selbst gedacht habe. Gleichzeitig nervt mich sein Gestarre auf meine Kronjuwelen. Hat man den jungen Polizisten keinen Anstand mehr beigebracht?
„Sonst irgendwas?" Abwartend sehe ich Jeremy an, der seinen Blick wieder von meiner Hose reißt, bevor er sich wieder in den Seiten seines Notizbuches vertieft und dazu in der Lage ist, mir eine Antwort zu liefern. „Die Tür war nicht aufgebrochen. Wir haben keine Spuren vom Täter gefunden, die Kollegen befragen gerade die Nachbarn. Bis auf einen Schrei hat niemand etwas gehört. Daraufhin hat ein Nachbar den Notruf gewählt und wir sind hergekommen."
Ich bedanke mich bei ihm für diese Information und werfe einen letzten Blick auf die Leiche. „Entschuldigen Sie, Sir...aber..." stammelt Jeremy und ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. Die Hand mit seinem Notizbuch zittert leicht, als er damit auf meine Hose zeigt. „Ihre Hose ist...nass." Beschämt senkt er seinen Blick und ich sehe an mir herunter. Brummend erinnere ich mich an das Glas Bier, welches ich direkt in meinem Schritt verewigt habe und was dort immer noch als großer Fleck zu sehen ist.
„Ich habe ein Glas verschüttet. Keine Sorge, ich habe mir beim Anblick der Leiche nicht in die Hose gepinkelt", schnaube ich und verlasse das Badezimmer. Ich bilde mir ein, im Vorbeigehen ein leises „Sie vielleicht nicht..." zu hören.
Flüchtig sehe ich mich in der Wohnung um, entdecke aber nichts Auffälliges. Einen Mahnbrief der Stadt finde ich mit dem Hinweis, dass der Strom bald abgestellt werden wird und die Leistung der Heizung bereits reduziert wurde, da vorher die Rechnungen nicht beglichen wurden. Dieser Brief erklärt die unangenehme Kälte, die in dieser Wohnung herrscht und mir erst jetzt richtig bewusst wird.
Nachdenklich betrete ich das Treppenhaus. Die Haustüren sind dünn, genauso wie die Wände. Es ist ein Altbau, in dem man bekanntlich alle möglichen Geräusche der Nachbarn hört.
Ich werfe einen Blick die zwei Etagen nach unten bis zum Erdgeschoss. Der Täter hat sich für die Wohnung ganz oben entschieden. Er muss sich seiner Sache sehr sicher gewesen sein, nicht entdeckt zu werden. Denn der Weg vom Dachgeschoss nach draußen ist weit. Also muss er das Opfer bewusst ausgewählt haben, sonst wäre er das Risiko bestimmt nicht eingegangen.
Er hat sie nicht nur getötet, sondern auch verunstaltet. Er hat ihr das Wichtigste genommen, was ein Mensch haben kann. Seine Augen. Die Chance, etwas zu sehen, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein und auch Gefühle zeigen zu können. Durch die Augen bekommt man einen Blick in die Seele eines Menschen. Er hat sie blind gemacht, ihr das Augenlicht genommen, seelenlos werden lassen. Er hat die Augen nicht nur zerstochen, sondern komplett entfernt. Sie befinden sich nicht mehr in der Wohnung, was bedeutet, dass er sie mitgenommen hat. Sind sie eine Trophäe für ihn? Wie andere sich Fingernägel oder Haarlocken mitnehmen, um an ihre Tat erinnert zu werden?
Ein Paar Augen sind aber eine ganz andere Dimension. Sie müssen eine tiefere Bedeutung haben.
Kathy tritt neben mich und ich schenke ihr meine Aufmerksamkeit. Auch an ihr scheint der Anblick der Leiche nicht spurlos vorbeigegangen zu sein, da auf ihren Wangen helle Flecken zu sehen sind, die nur auftauchen, wenn sie im Stress ist.
„Kannst du schon was über den Todeszeitpunkt sagen?"
Kathy fährt sich durch ihre braunen Haare und nickt leicht. „Sie ist noch recht warm, die Gliedmaßen werden gerade steif. Also ist sie noch nicht lange tot. Ich würde sagen, maximal zwei Stunden."
Ein Blick auf die Uhr lässt mich nachrechnen. Das bedeutet, der Zeitpunkt des Mordes fällt in die Zeit, in der ich von der Bar nach Hause gelaufen war. Die Dunkelheit der Nacht, der Regen und die ganzen vermummten Gestalten machen es einem Täter natürlich leicht, unerkannt durch die Straßen zu ziehen. Was die Suche nach dem skrupellosen Mörder nicht vereinfacht.
„Todesursache?", höre ich mich aus Routine fragen und bereue es sofort, da es dieses Mal mehr als offensichtlich ist. Kathy antwortet mir trotzdem mechanisch.
„Der Stich mit einem spitzen Gegenstand in ihre Augen. Sagen wir es war ein Messer, dann hat sich die Spitze bis in ihr Gehirn gebohrt und sie dadurch getötet."
Langsam nicke ich. „Also...ihre Augen, ich meine...das Entfernen..." stottere ich und sehe auf Kathys Hand, die sie mir fast schon beruhigend auf den Unterarm legt. „Die Augen wurden ihr post mortem entfernt. Das hat sie nicht mitbekommen. Den tödlichen Stich jedoch schon."
Angewidert verziehe ich mein Gesicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für Schmerzen diese Frau in ihren letzten Sekunden hat ertragen müssen. Der Gedanke daran schenkt mir neue Motivation, den Mörder zu finden. Er muss für diese Tat büßen und so schnell es geht aufgehalten werden. Denn wer so geschickt agiert, wird bestimmt kein einmaliger Täter werden.
Ich überlasse die Wohnung der Spurensicherung und gehe mit Jeremy zusammen nach unten. Er ist sichtlich erleichtert, den Tatort endlich verlassen zu dürfen. Zielstrebig geht er rüber zu seinem Auto, an dem sein Partner angelehnt steht und eine Zigarette raucht. Es hat endlich aufgehört zu regnen. „Ihr fahrt zurück zum Revier und schreibt euer Protokoll", erkläre ich und klopfe auf das Dach ihres Wagens. „Ich will morgen früh den Nachbarn im Verhörraum sitzen haben, der den Notruf gewählt hat. Und alle anderen Nachbarn, die irgendwas gesehen haben. Wir müssen das Schwein schnell finden."
Sie nicken beide und ich steige in mein Auto ein. Die Übelkeit verschwindet erst, als ich auf die Hauptstraße abbiege. Dafür melden sich die Schmerzen in meiner Schulter zurück, die ich dank der Konzentration am Tatort erfolgreich verdrängt hatte.
Mit jedem Kilometer, den ich zurücklege, spüre ich die Müdigkeit und Erschöpfung deutlicher in meinen Gliedern.
Ich schleppe mich schließlich die Treppen herauf in meine Wohnung und ziehe mich auf dem Weg zum Bett aus. Die Kleidung lasse ich auf dem Fußboden liegen, ich bin plötzlich viel zu müde dazu, um sie noch ordentlich wegzulegen.
Unter der dicken Bettdecke stelle ich mir am Handy meinen Wecker. Es ist 4 Uhr nachts, was bedeutet, dass ich grandiose drei Stunden schlafen kann, bevor ich wieder auf dem Revier sein muss.
Stöhnend drehe ich mich um und ziehe mir die Decke bis über die Ohren.
Die leeren Augenhöhlen der Frau verfolgen mich bis in den Schlaf.
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