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Wie bereits erwartet wurde Nurana von den ersten Sonnenstrahlen geweckt. Müde blinzelte sie mehrere Male und lauschte den singenden Vögeln. Die Vorhänge des Balkons waren zugezogen, doch ein Spalt ließ das Licht dennoch durch. Ein Umstand, über den sie sich nicht beklagte. Sie richtete sich auf und versuchte abzuschätzen, wie lange es brauchen würde bis die Bediensteten in ihr Zimmer kommen würden. Rasch richtete sie sich auf und legte sich die Decke um die Schultern, ehe sie auf den Balkon trat.
Die Morgenluft war kühl und erfrischend. Sie atmete tief durch und lehnte sich an das Geländer, während sie die Natur auf sich wirken ließ. Es war so anders als London. Sogar ihre Sommerresidenzen waren nicht so isoliert, wie dieser Ort. Was hatte die Countess dazu bewegt so weit weg zu ziehen? Ihr Verstand wünschte sich nichts sehnlicher, als zurück in das moderne London zu fahren, aber ihr Herz schien anderer Meinung.
Nach der gestrigen Blamage wollte Nurana eigentlich keinen Fuß nach draußen setzen. Sie hatte sich nicht ernsthaft vor gewöhnlichen Männern verneigt oder? Und sie zudem auch noch als Gentlemen bezeichnet! Wie beschämend. Sie spürte wie ihr die Hitze wieder in die Wangen stieg und seufzte. Sie sollte diese Erinnerung ganz weit nach hinten verbannen, doch die Augen des Fremden schienen sie heimzusuchen.
Zu ihrem eigenen Entsetzen empfand sie ihn als gutaussehend und sie wusste, dass dies nicht gut sein würde für ihr sowieso schon beschädigtes Ansehen. Sie würde nie vergessen, wie ihr Vater sie der Unzüchtigkeit beschuldigt hatte. Nur weil sie nicht diesen Wichtigtuer heiraten wollte! Was konnte sie denn dafür, dass er so von sich selbst überzeugt war und davon ausging, sie würde einer Ehe zustimmen? Sie war froh, dass ihre Eltern ihre Entscheidung dennoch akzeptiert hatten und sie nicht zu der Heirat mit diesem Truthahn gezwungen hatten.
Sie hatte einige Male mitbekommen, wie nach solch einer Blamage die Mädchen dennoch den Mann ehelichen mussten. Meist, weil man den Beiden eine Liebschaft unterstellte. Dies hatte man ihr zwar nicht unterstellt, doch es gab Getuschel das sie einen anderen Mann hatte. Grund genug um ihren Vater dazu zu bewegen, sie mitten in die Pampa zu schicken. Nach Schottland.
Nurana konnte sich ausmalen, was die feinen Damen über sie tuschelten. Oft hatte es zwischen ihr und einigen Frauen Anspannungen gegeben. Nicht nur, weil sie ein Halbblut war - sondern auch, weil sie eigene Gedanken hatte und diese gelegentlich äußerte. Wäre es eine andere feine Dame gewesen, die eine tadellose Abstammung hatte - würde es nur kritisch beäugt werden... doch bei ihr?
Die Tochter des angesehenen Herzogs, der sein Herz an eine Hinterwäldlerin von einem fremden Kontinent verlor und noch dazu ein Kind mit ihr bekam? Skandalös.
Sie wurde aus ihren düsteren Gedanken hochgeschreckt, als plötzlich die Tür aufging und Siùsan im Raum stand. Ihre Augen weiteten sich, als sie die junge Lady auf dem Balkon erblickte. "MyLady!" Erschrocken trat sie ebenfalls auf den Balkon: „Wenn Eure Großtante Euch in dem Aufzug draußen erblickt, wird sie gewiss nicht begeistert sein." „Sie würde von nichts begeistert sein. In ihren Augen ist alles was ich tue schandhaft." Kommentierte Nurana trocken und erhielt nur einen entsetzten Blick als Antwort.
„Siùsan weißt du ob es wirklich nötig ist, Korsettkleider zu tragen? Wer soll mich denn hier sehen außer die Bäume." Kritisch beäugte die junge Lady das aufwändige Kleid und Siùsan spielte verunsichert mit den Händen. „MyLady, ich fürchte das ist Vorschrift." „Ich weiß." Seufzend gab Nurana nach und schloss die Balkontür. „Ich wollte es lediglich nicht wahrhaben." Erklärte sie und wandte der Zofe den Rücken zu, während diese begann sie anzukleiden. „Nun es ist die Mode." Bemerkte der Rotschopf. „Ich verabscheue die Mode." Klagend atmete Nurana aus. „Abgesehen davon. Wie viele Damen in meinem Alter leben hier? Ich sollte mich sozial etwas vernetzen."
„Ich fürchte MyLady, dass die Damen der Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt alle in den größeren Städten sind." Entschuldigend sah Siùsan sie durch den Spiegel an. „Niemand?" Entgeistert sah sie das Hausmädchen an. „Naja, einige schottische Damen müssten in ihrem Alter sein. Doch ich fürchte, dass ihre Familie diesen Kontakt nicht gutheißen würde." Druckste das Mädchen unsicher herum. „Den einzigen Kontakt den sie gutheißen würden, ist mit jemanden der in ihren Augen meiner Heirat würdig ist." Nurana lächelte und schnappte dann erschrocken nach Luft, als Siùsan das Korsett enger schnürte: „Ich hätte nicht gedacht das in ihren feinen Händen soviel Kraft steckt!" Rief sie überrascht aus und die Zofe errötete: „Verzeiht, MyLady." „Siùsan, stell mich diesen feinen Damen vor." Nurana drehte sich um und blickte sie entschlossen an.
„MyLady, Ihr versteht nicht. Sie sind nicht wie Ihr..." Unsicher sah sie Nurana an, welche die Augenbrauen hob: „Ich bin auch nicht die typische englische Dame. Ein Blick in den Spiegel genügt um das festzustellen." „Nein, ich ... ich meine das sie etwas... rauer sind." Nun erhielt sie einen fragenden Blick. „Sie sind offener als die Damen aus England."
„Ich verstehe." Nurana zuckte mit den Schultern. „Ein Ausflug schadet doch nicht. Ich will mir nur ein Bild machen von den Menschen hier. Ich kenne weder euer Volk, noch eure Kultur oder Traditionen. Wie soll ich hier leben, wenn ich nichts weiß?" Nun schien Siùsan abermals sprachlos zu sein. „Hab ich etwas falsches gesagt?" Verwundert blinzelte die junge Lady und ihr Hausmädchen schüttelte heftig den Kopf: „Sie sind nur die erste Engländerin die sich für diese Dinge interessiert." „Ich bin auch nur zur Hälfte Engländerin, meine Liebe." Nurana zwinkerte ihr zu und klopfte sanft auf ihre Schulter. „Ich werde gleich um die Erlaubnis bei der Countess bitten."
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