8 ~ Devon
Mit jedem Schritt, der mich meinem Ziel näherbrachte, fühlte ich mich einen weiteren Meter zurückgeworfen. Es waren nicht allein die Erinnerungen, die mich zu Fall brachten, sondern vor allem die Zweifel, die in mir aufkeimten. Konnte ich wirklich ein weiteres, unschuldiges Mädchen in die Unterwelt führen? Konnte ich sie ohne Schuldgefühle Daniel übergeben, nur, weil ich süchtig nach diesem Serum war?
Du musst es tun. Für dich.
Was war ich nur für ein erbärmlicher Egoist? Ich brachte es selbst nicht zustande, eine Seele an mich zu reißen – und deshalb brachte ich Daniel das, was er verlangte?
Du bist ein Feigling, Devon.
Ein leichtes Frösteln überzog meinen Körper, während ich aus dem schützenden Schatten des Waldes trat und meinen Blick über die sanft geschwungenen Täler schweifen ließ. Von hier oben hatte man eine grandiose Sicht über die endlosen Weiten, die sich vor mir erstreckten. Trotzdem konnte ich die Situation nicht genießen. Schon allein wegen dem nasskalten Nebel, der langsam über den Feldern aufzog. Schon jetzt klebte mir mein Hoodie eng am Körper, die Haare hingen mir in langen, feuchten Strähnen ins Gesicht.
Wäre ich nicht so verdammt entkräftet gewesen, wäre es ein Leichtes gewesen, die Kälte mit einer kleinen Handbewegung aus meinen Gliedern zu vertreiben, doch ich brauchte jeden einzelnen Funken Magie für das, was ich vorhatte. Denn es war nie leicht. Und das würde es diesmal auch nicht werden.
Du kannst es schaffen.
Ein leises Seufzen drang aus meiner Kehle herauf. Warum machte ich mir überhaupt so viele Gedanken? Ich hatte für Daniel schon hunderte Missionen durchgeführt, von denen keine einzige misslungen war. Ich war nicht einmal zu spät gekommen, war nie gescheitert. Automatisch setzten sich meine Füße in Bewegung, bis ich den leicht abfallenden Hang fast schon hinuntersprintete.
Viel zu schnell kamen die ersten Dächer in Sicht, beleuchtet durch den schwachen Schein der Straßenlaternen. Etwas oberhalb, am Horizont, konnte ich die unscharfen Umrisse der Ruine erkennen, deren Schutzwall ich bis hierher spüren konnte. Es wäre für mich ein Leichtes gewesen, die Barriere zu durchbrechen, doch heute galt mein Interesse einzig und allein dem schmalen Weg, der sich in Serpentinen durch den Wald hinauf schlängelte. Oder besser gesagt, dem kleinen Landhaus, das am Ende der unbefestigten Straße lag.
Mein Blick schwenkte in Richtung des einzigen erleuchteten Fensters.
Skye.
Kaum, dass sich ihr Name in mein Gedächtnis gebohrt hatte, verdrängte ich ihn auch schon wieder. Für mich war sie nur ein namenloses Mädchen, eine von vielen. Eine weitere Unschuldige, deren Leben ich stehlen würde.
Unwillkürlich pressten sich meine Kiefer aufeinander, während ich langsam die Hand hob, um meine Konturen mit dem Hintergrund verschwimmen zu lassen. Normalerweise kostete es mich keinerlei Anstrengung mehr, den Wall um mich herum aufrecht zu erhalten, doch ich war so geschwächt, dass mich selbst diese einfache Handlung an den Rand meiner Kräfte brachte. Wie sollte ich da nur unbemerkt bleiben?
"Lass sie in Ruhe." Ich erstarrte noch in meiner Bewegung, während meine Augen zur Seite schossen, dorthin, wo sich die hellen Umrisse einer Gestalt von der Dunkelheit abzeichneten. Von seiner Haut ging das typische Leuchten aus, das den Jungen wie ein zu groß geratenes Irrlicht im Nebel wirken ließ.
Ein Hüter. Genau das, was ich jetzt am wenigsten gebrauchen konnte.
"Was geht dich das an?", gab ich unfreundlich zurück, während ich versuchte, die wenige Magie zu greifen, die in meinem Inneren wie ein kleines Rinnsal dahinsickerte. Normalerweise riss mich der brausende, schwarze Strom, der in meinem Inneren tobte, jedes Mal fast mit sich, doch diesmal spürte ich nichts davon. Stattdessen realisierte ich beunruhigt, dass das Leuchten nun einem Feuer glich, das seinem Schatten eine rötliche Färbung verlieh.
"Lass sie einfach nur in Ruhe." Eigentlich hatte ich schon beim ersten Anblick des Hüters gewusst, dass er mir gefährlich werden konnte, doch in dem Moment, in dem er vor mir stand, war mir klar, dass ich keine Chance gegen ihn hatte. Er war zwar nur ein Hüter und demnach deutlich schwächer als ich, doch schon seine Körpergröße war respekteinflößend. Ich reichte ihm nur etwa bis zum Kinn. Und es war ein verdammt ungutes Gefühl, wenn man ständig den Kopf in den Nacken legen musste, nur, um in zwei gefährlich glühende Augen zu sehen, die jede meiner Bewegungen verfolgten.
"Geh' einfach deinem Jagdinstinkt nach, hol' dir meinetwegen eine verdammte Seele, Dämon. Aber sieh' endlich ein, dass die Menschen, die du in die Unterwelt führst, dem Tod geweiht sind!" Fast schon meinte ich, den Anflug von Verzweiflung in seinen Augen zu erkennen, doch während er sich mir näherte, legte sich ein emotionsloser Ausdruck wie ein Schatten über sein Gesicht. Mit jedem Meter, der zwischen uns verschwand, wurde seine Magie stärker, bis ich sie schließlich als ein elektrisiertes Knistern in der Luft wahrnahm.
"Solltest nicht lieber du hoffen, dass du hier lebendig rauskommst? Dass du unversehrt zu deinem vermaledeiten Pack zurückkehrst?" Ein leichtes Knurren kroch über meine Lippen, als auch ich meinen Fuß nach vorne setzte. Ich hätte allen Grund gehabt, um jetzt den Rückzug anzutreten, doch diese Genugtuung wollte ich diesem Typen nicht bieten. Ich war ein Dämon, ich hatte einen gewissen Stolz. Und ganz sicher würde ich mir diesen nicht verletzen lassen, schon gar nicht von einem Halbblütigen. "Immerhin bist du nur ein verabscheuenswerter Bastard."
"Du bist nur ein fehlerhafter Dämon. Niemand, der mir ernsthaft gefährlich werden könnte.", konterte der Hüter sofort und brachte mich damit völlig aus der Fassung. Seine Stimme klang keineswegs aufgebracht oder erregt, wenn überhaupt etwas angespannt. Ganz im Gegenteil zu meiner Angriffshaltung, die ich sicherheitshalber eingenommen hatte. Denn Wesen wie er, in deren Adern menschliches und magisches Blut floss, waren die einzigen, die meiner Art Konkurrenz machten. Die einzigen, die überlebt hatten, in dem jahrhundertelangen Kampf zwischen der Unterwelt und der Himmelspforte. Und leider auch die einzigen, die jederzeit unberechenbar werden konnten.
"Vielleicht bist du auch nur ein einfacher Mensch? Ohne übernatürliche Kräfte, ohne besondere Fähigkeiten?" Mit einem ungehaltenen Schnauben fuhr ich herum, hielt aber sofort inne, als ich nichts als lautlose Leere vor mir erblickte. Gleichzeitig hätte ich mich für meine eigene Dummheit ohrfeigen können. Den Hütern war es aufgrund ihres menschlichen Körpers nicht gestattet, Magie in sich heraufzubeschwören, doch sie waren in der Lage, die Kraft ihres Gegners in sich aufzunehmen. Sie konnten sie nutzen, reflektieren und sie dann gegen den Feind richten. Um ihn zu attackieren, aber gleichzeitig auch, um ihn zu schwächen. Sie konnten sein Innerstes herausreißen. Die Quelle der Magie.
Genau in diesem Moment spürte ich, wie meine Magie tief in meinem Körper versiegte, wie sie in aus mir herausgezogen wurde und mich gleichzeitig frontal traf. Ohne dass ich es steuern konnte, keuchte ich auf, während mich eine unsichtbare Hand von hinten zu Boden drückte. Für einen kurzen Moment blieb mir die Luft weg, dann schlug ich um mich, wie ein kleines Kind, das sich mit aller Kraft zur Wehr setzte. Zwar war mir durchaus klar, dass man eine unsichtbare Person nicht verletzen konnte, doch ich hoffte, dass dem Hüter meine Magie bald nicht mehr ausreichen würde. Denn so schwach wie ich mich fühlte, konnte ich nur noch einen kleinen Funken der grenzenlosen Kraft in mir tragen, und selbst dieser würde irgendwann zu Staub zerfallen.
"Na, da hat wohl jemand keine Ausdauer, was?" Noch immer hatte er diesen leicht provokativen, aber dennoch ruhigen Tonfall aufgelegt, der mich mit jeder Sekunde nur noch aggressiver werden ließ. Einem Dämonen gegenüber zu stehen, war eine ganz andere Liga als das hier. Zwar konnte ein Artgenosse durchaus gefährlich werden, doch Dämonen beherrschten sich selbst längst nicht so gut wie die Hüter. In ihren Augen, ihrer Mimik konnte man ihre Reaktionen meist ablesen, oder wenigstens ihre Kraft einschätzen. Selbst Daniel, der es perfekt beherrschte, seine Emotionen zu verbergen, war um einiges durchschaubarer als der Typ, der jetzt direkt hinter mir stehen musste. Sein Atem strich mich im Nacken wie ein leichter Windhauch.
"Wart's ab, bis du dich vor Schmerzen am Boden kugelst."
"Ach ja?", wurde ich unterbrochen, was mich rasend machte. Was erlaubte sich dieser Idiot überhaupt? Ich war ein verdammter Dämon, ich war jedem anderen Wesen um Welten überlegen! Wäre ich in der richtigen Verfassung gewesen, hätte ich diesen Hüter sogar töten können, mit nur einem einzigen Blick! Wütend richtete ich mich auf und starrte ich meinen Gegner an, dessen Umrisse langsam, aber sicher klarer wurden.
"Hat dir nie jemand gesagt, dass leere Drohungen nutzlos sind?" Mit einem schnellen Schritt nach hinten ließ er von mir ab, allerdings ruhte seine Hand noch immer auf meiner Schulter, als wolle er mich daran erinnern, dass ich der Schwächere war. "Und dass Hüter nicht zu unterschätzen sind?"
Mit einer eleganten Drehung umrundete er mich, bis wir uns direkt gegenüber standen. Seine Augen loderten so gleißend hell, mit dieser Überlegenheit, dieser Macht darin, die eigentlich mir gehörte. Doch das tat sie nicht mehr.
"Warst du naiv genug, um dich für den Helden zu halten?"
"Hör' auf!" Mit einem Satz nach vorne wollte ich den Typen packen, doch im selben Moment traf mich schon meine eigene Magie, die er wie durch einen riesigen Spiegel auf mich zurückwarf.
"Ich soll aufhören?" Aus seiner Stimme meinte ich ein Lächeln herauszuhören, doch seine Mundwinkel zeigten noch immer keine Regung. "Dann hör' du auf, unschuldige Menschen zu opfern. Hör' auf, die Menschen in die Unterwelt zu schleppen. Hör' endlich auf, sie so brutal zu töten!" Er hielt kurz inne, als würde er darauf warten, dass ich ihm widersprach. Doch ich konnte nicht. Mein Mund war staubtrocken, ich brachte nicht mehr als ein Krächzen heraus.
"Jeder Mensch, dem du die Seele nimmst, wird weiterleben. Zwar fehlt ihm immer ein Teil seines Herzens, doch er könnte leben, verdammt noch mal! Er könnte leben, und dennoch entscheidest du dich für den Tod!" Schwer atmend ließ er von mir ab, als hätte ihn diese Konversation jegliche Kraft gekostet. "Jeden Monat stirbt jemand durch deine Hand."
Betreten sah ich zu Boden, so als müsste auch ich diese Nachricht erst verdauen. Dabei hatte ich es eigentlich schon immer gewusst. Mir war klar gewesen, dass die Menschen, die ich Daniel brachte, niemals wieder das Tageslicht sehen würden. Doch...welche andere Möglichkeit hatte ich? Seit...damals...brachte ich es nicht mehr zustande, ein Dämon zu sein. Ich konnte einfach nicht mehr das tun, was für die anderen selbstverständlich war.
"Auf welcher Seite stehst du überhaupt?" Die Frage rutschte mir einfach so heraus, aber ich bereute sie nicht, auch wenn sich das Gesicht des Hüters kurzzeitig verdunkelte.
"Auf keiner. Hüter sind nur Beschützer, keine Krieger." Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wollte er sich bereits umdrehen, doch er schien selbst zu merken, dass ich seine unterschwellige Warnung nicht ernst genug genommen hatte. Jedenfalls nahm er sich erneut meine Magie, woraufhin ich scharf die Luft einzog.
"Allerdings sind wir dazu berufen, gegen die Dämonen zu kämpfen, die sich der kalten, tödlichen Seite ihrer Macht verschrieben haben. Die über Leichen gehen würden, die all das Leid in Kauf nehmen, nur um die ewige Herrschaft zu erlangen." Seine Augen blitzten golden auf, was seine ganze Gestalt in ein karamellfarbenes Licht tauchte.
"Warum ich?", presste ich heraus, auch wenn ich die Antwort längst wusste.
"Das fragst du noch?", kam es prompt zurück, was mich unsicher zurückweichen ließ. "Du dienst dem Teufel höchstpersönlich - und willst dann wissen, wieso tausende Hüter hinter dir her sind? Nun, vielleicht weil du aktuell der einzige seiner Diener bist, der immer noch nicht gecheckt hat, welche Rolle er in dem großen Ganzen spielt!" Mit einem sarkastischen Lächeln machte der Junge einen letzten Schritt auf mich zu und packte mich dann an den Schultern. Sofort jagte ein schmerzhaftes Feuer durch meinen Körper, das mich zum Aufschreien brachte.
"Vergiss' das Mädchen, das du zu deinem Herrn bringen wolltest, und verschwinde stattdessen von hier. Noch hast du die Möglichkeit zu fliehen, Devon."
1945 Wörter und damit das bisher längste Kapitel! :)
Nur hab ich keine Ahnung, ob das gut oder schlecht ist...vermutlich enthält es zu viel Infos auf einmal...oder das genaue Gegenteil: zu wenig Handlung für so ein langes Kapitel? :/
Was meint ihr?
Liebe Grüße, Lara <3
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