Schachspielen
In den nächsten Wochen wurde Tania eine wahre Meisterin im Verbergen ihrer Emotionen. Keine einzige Träne erlaubte sie sich in Snapes Gegenwart, während das Fläschchen mit dem Gegengift beruhigend ihre Haut kühlte.
Mitte Februar taute der Schnee und die dicke Eisschicht auf dem See bekam erste Risse. Schwerfällig trieben die Schollen auseinander wie die Lager innerhalb der Schlossmauern. Die wenigen Bewohner von Hogwarts, die bisher Neutralität gewahrt hatten, wurden gezwungen, eine Position zu beziehen.
Mittlerweile hatte sich ein Viertel der Schülerschaft dem Widerstand angeschlossen und nahm nicht mehr am Unterricht teil. Einige Slytherins hingegen hatten sich zu einer Gruppe zusammengefunden, die mit Masken, gleich denen der Todesser, durch das Schloss jagten und unverzeihliche Flüche probten.
Zunächst hatte es nur Konflikte mit der Gruppe um Neville, Ginny und Luna gegeben, doch mittlerweile wurden Schüler, ganz gleich welcher Abstammung, angegriffen, wenn sie nicht offen ihre Sympathie für Voldemort äußerten.
Das Grauen lauerte in jeder Ecke und schließlich passierte, was passieren musste. Es war Vincent Crabbe, der einem Hufflepuff im siebten Stock auflauerte und die Kontrolle über seine sadistische Neigung verlor. Der Hufflepuff wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen, Knochenbrüchen und einem psychischen Trauma in den Krankenflügel und von dort aus ins St. Mungos gebracht.
Es war der Anfang vom Ende. Crabbe wurde nicht bestraft, sondern von Alecto zum Anführer des Inquisitionskommandos ernannt. Das war ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die geglaubt hatten, dass der Unmenschlichkeit Grenzen gesetzt waren, während andere jubelnd ihre letzten Hemmungen über Bord warfen.
Besonders hart traf es Tania, als sie hörte, dass Michael versucht hatte, einen Erstklässler aus dem Kerker zu befreien. Daraufhin war er übel von den Carrows gefoltert worden.
Obwohl Michael ihr aufgelauert hatte, betrachtete sie ihn noch immer als guten Freund. Er hatte es nicht besser gewusst und sie würde ihm seine Unwissenheit nicht nachtragen. Es war Tania keinesfalls egal, wie es Michael erging.
All die Vorfälle belasteten auch Snape. Er fühlte sich für die Geschehnisse verantwortlich und Tania sagte ihm immer wieder, dass er tat, was er tun konnte. Es war nicht seine Schuld.
Snape saß gekrümmt an seinem Schreibtisch, seine markante Nase streifte beinahe das Pergament und die Ringe unter seinen Augen gruben sich tief in sein blasses Gesicht.
»Du solltest ins Bett gehen«, bemerkte Tania und musterte ihn kritisch über den Rand ihres Buches hinweg. »Du hast es dringend nötig zu schlafen. Bitte, Severus.«
»Ich muss das noch fertig machen«, murmelte er.
»Ist das dein Ernst?«, fragte sie scharf und trat hinter ihn, um einen Blick über seine Schulter zu werfen. »Ist es so wichtig, einen Bericht über Hagrids ›Harry-Potter-Freundschaftsparty‹ für das ›ministerielle Kommando zur Verfolgung von gefährlichen Halbwesen‹ zu schreiben?«
»Nein«, erwiderte Snape gereizt. »Es ist nur so, dass -«
»Du nicht schlafen kannst«, vervollständigte Tania den Satz für ihn. »Weil dich fürchterliche Schuldgefühle für all diese Dinge plagen, die nicht in deiner Verantwortung liegen, Severus! Du kannst sie nicht alle beschützen.«
Snape schwieg und senkte den Kopf, um einen Tintenklecks zu begutachten, der in das Holz des Schreibtischs gesickert war.
Tania hatte mit dem Finger mal wieder in die Wunde gedrückt, doch es musste sein. Die Prophezeiung ließ sie nicht los.
Wie sollte Snape so etwas wie Vergebung finden, wenn er vor lauter Selbsthass keinen Schlaf fand? Warum hieß es in der Prophezeiung, dass er Buße tat? Wofür und weshalb? Was hatte es mit dem Seelenheil auf sich, von dem Trelawney gesprochen hatte?
In Tania war eine neue Angst entflammt. Es ging nicht mehr nur darum, sein Leben zu retten. Sie hatte Zweifel daran, ob er dieses Leben überhaupt wollte. Was, wenn er den Tod herbeisehnte? Ihn als einzigen Ausweg aus seiner grausamen Lage betrachtete? Als Erlösung von all dem Schmerz?
Während sie Snape betrachtete, verfestigten sich die negativen Gedanken in ihrem Kopf. Er sah nicht gut aus. Überhaupt nicht. Wann hatte er zum letzten Mal gelacht? Sie vermisste das tiefe Vibrieren seiner Stimme und das Funkeln in seinen Augen.
Er musste Ablenkung finden von den finsteren Gedanken, die auch durch Tanias Geist spukten. Doch wie, wenn Tania es kaum schaffte, ihm ein ehrliches Lächeln zu schenken? Sie hatte furchtbare Angst, wann immer sie ihn betrachtete. Angst, ihn zu verlieren oder einen schrecklichen Fehler zu begehen.
Die Prophezeiung hatte besagt, dass es im fünften Monat geschehen sollte. Sie hatten Zeit, doch die Wochen rannen wie Wasser durch Tanias Hände. Ihre gemeinsame Zeit war bemessen und doch schaffte sie es nicht, das Beste aus ihnen herauszuholen.
»Ich habe einen Vorschlag«, fasste sie sich ein Herz und nahm Snape seine Feder aus der Hand. »Du schuldest mir eine Revanche im Schach – wenn ich gewinne, schläfst du in deinem Bett und nicht am Schreibtisch. Wenn du gewinnst, gehe ich dir nicht mehr damit auf die Nerven. Was meinst du?«
»Ich meine«, antwortete Snape, »dass du keine Chance hast.« Mit einem Schnippen seines Zauberstabes erwachten die Schachfiguren zum Leben und bezogen ihre Positionen auf dem Schachbrett.
»Das werden wir sehen«, erwiderte Tania und beobachtete aus zusammengekniffenen Augen, wie Snape sich die Stirn rieb, als hätte er hämmernde Kopfschmerzen.
Es dauerte keine halbe Stunde, da war Tanias König von schwarzen Spielfiguren umzingelt. Verbissen knabberte sie auf ihrer Lippe, während sie die möglichen Spielzüge durchging.
Snape lehnte sich herablassend in seinem Sessel zurück und nippte an seinem Glas Pfefferminztee.
»Du musst dich mehr anstrengen«, tadelte er.
»Dann sei still«, fauchte Tania und deutete mit den Fingern die Spielzüge an, die alle unweigerlich zur Enthauptung ihres Königs führten. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie musste -
»NATHAN NOKTURN!«, donnerte plötzlich Phineas Stimme durch den Raum. »GEBEN SIE MEINEN HUT ZURÜCK!«
»Holt ihn Euch doch!«, trällerte Nathan, der den schwarzen Spitzhut von Schulleiter Black an die Brust gepresst hatte und soeben in Dilys Porträt sprintete.
»Nathan - Seien Sie nicht so kindisch!«, schimpfte Phineas und fuhr sich fahrig durch sein schütteres graues Haar.
»Schämt Ihr Euch Eurer Geheimratsecken, Phineas?«, feixte Nathan und stülpte sich den Hut bis zur Nase über den Kopf. »Schaut her Dilys, meine Schöne, ich bin Black, der unsympathische, kleinkarierte und über alle Maßen schlecht gelaunte -«
Der Rest seiner Worte ging unter, als Phineas in Dilys Porträt hechtete und Nathan zu Boden riss. Dilys suchte mit einem spitzen Schrei Schutz hinter ihrem Sessel, während die beiden Männer lautstark über den Boden polterten.
Phineas schlug Nathan, dessen Sicht durch den Hut eingeschränkt wurde, gegen den Kopf und nahm ihn in den Schwitzkasten.
»Zu Hilfe!«, krähte Nathan. »Zu Hilfe! Schulleiter Snape, helft mir, ein geistig Verwirrter trachtet mir nach dem Leben -«
»Halten Sie den Mund oder Sie spüren -«
»Ruhe!«, donnerte Snape und erhob sich mit flatterndem Umhang. »Sind Sie noch bei Sinnen?« Er atmete tief ein, um seinem Ärger Luft zu machen, als eine Bewegung in den Augenwinkel Tanias Aufmerksamkeit weckte.
Dumbledore hatte sich unauffällig in das Porträt eines schlafenden Mönches geschlichen und ruderte mit seinen Armen durch die Luft. Verwirrt legte Tania den Kopf schief.
›B3 auf F5‹, formte er mit den Lippen und unterstrich seine stummen Worte, indem er die entsprechende Anzahl an Fingern in die Höhe hob. Als Tania begriff, nickte sie ihm flüchtig zu und erntete ein verschwörerisches Augenzwinkern.
»- wenn Sie sich nicht zusammenreißen«, knurrte Snape derweil Phineas und Nathan an, »dann werde ich ihre Porträts eigenhändig ins St. Mungos bringen und zwar in die Abteilung für unheilbaren, abnormen Schwachsinn!«
Die beiden Streithähne nickten synchron mit den Köpfen und musterten ihre Schuhspitzen. Kaum das Snape sich abgewandt hatte, klopfte Nathan Phineas grinsend auf die Schultern und reckte den Daumen in die Luft. Eine Geste, mit der Phineas ganz offensichtlich nichts anfangen konnte.
Snape ließ sich kopfschüttelnd gegenüber von Tania nieder und schwieg, während sie ihre Augen auf das Schachbrett gerichtet hielt. Es verstrichen einige Sekunden, ehe sie ein erfreutes Quieken ausstieß und ihren Springer von B3 auf F5 setzte.
»Schachmatt«, verkündete sie unschuldig.
»Wie bitte?«, stutzte Snape und beugte sich über das Schachbrett.
»Du hast richtig gehört«
»Ich habe dich gewinnen lassen«, erklärte er, als ihr Springer seinem schwarzen König den Kopf abschlug.
»Wie zuvorkommend von dir«, feixte Tania. »Aber an deiner Stelle würde ich es mir auch nicht entgehen lassen, mit mir in einem Bett zu schlafen!« Sie erhob sich von ihrem Stuhl, nicht ohne ihre Haare dabei elegant über die Schultern zu werfen.
»Mit dir?«, fragte Snape und runzelte die Stirn.
»Natürlich«, antwortete sie, während sie die Treppe hinaufeilte. Auf der letzten Stufe hielt sie inne und schaute mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen zu Snape hinab. »Oder zierst du dich, Severus?«
»Sei nicht albern«, murmelte er und bedachte Nathan und Phineas mit einem misstrauischen Blick.
Als seine Schritte auf der Treppe ertönten, war Tania bereits im Badezimmer verschwunden. Nervös betrachtete sie sich im Spiegel. Sie hatte ein schwarzes Nachthemd gewählt, welches keusch geschnitten war. Ob sie ihm gefiel?
Tania seufzte. Was spielte das für eine Rolle? Sie sehnte sich nach seiner Nähe und nach Berührungen, doch nichts davon würde geschehen. Manchmal bildete sie sich ein, seine Blicke zu spüren, doch sobald sie sich umwandte, sah er in eine andere Richtung.
Es war lächerlich zu hoffen, dass er etwas für sie empfand oder jemals empfinden würde - und selbst wenn es so war, würde er es nicht zulassen. Er hatte sein Herz verschlossen, tief in seiner Brust, und es war das Beste, sich mit den wenigen ausgelassenen Momenten zufrieden zu geben, den Momenten, in denen sie den Eindruck hatte, dass seine Fassade bröckelte.
Und ging es hier nicht gerade darum? Um einen ausgelassenen Moment? Das Einzige, was Tania sich wünschte, war Zeit mit Snape zu verbringen. Sie wollte nicht von ihm weichen - weder am Tag noch in der Nacht.
Wie oft würde sie ihm wohl noch einen guten Morgen wünschen, bis der fünfte Monat anbrach? Wie oft mit ihm im Labor stehen oder über die Carrows lästern, während ihr der Duft frischer Minze in die Nase stieg?
Tania lächelte leise, reckte die Schultern und lief ins Schlafzimmer. Snape saß auf der Bettkante. Als sie eintrat, huschten seine Augen über ihren Körper, bevor er in eine andere Richtung sah.
Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Warum war sie nicht etwas mutiger? Schnell schlüpfte sie ins Bett und zog sich die Decke über die Brust. Snape sprang auf und lief unbeholfen umher.
»Sag nicht, dass du in diesen vielen Kleidungsstücken schläfst?«, neckte ihn Tania und legte den Kopf schief.
»Doch - Ich meine - Nein.« Er wirkte zerstreut, während er seinen Teil des Schrankes öffnete und darin herumwühlte. Mit einem grauen Stück Stoff in der Hand verschwand er im Badezimmer.
Als er zurückkam trug er ein Nachthemd mit leichtem Kragen und sah damit aus, als wäre er einem fernen Zeitalter entsprungen.
›Zu Dilys Zeiten als Schulleiterin wäre der graue Fetzen sicherlich fesch gewesen‹, schoss es Tania durch den Kopf, während sie das Gesicht angestrengt verzog, um ihre Heiterkeit zu verbergen.
»Was ist?« Snapes Augenbrauen trafen sich fast in der Mitte seiner Stirn, während er an sich hinabblickte. In seinem Schlafgewand wirkte er viel verlorener als in seiner eindrucksvollen Robe.
»Was ist das?«, fragte Tania und versuchte ernst zu bleiben.
»Was?« Er schaute sie verständnislos an.
»Das Ding, dass du anhast!« Bei seinem verärgerten Gesichtsausdruck prustete sie los.
»Ich -«, verteidigte sich Snape, brach jedoch ab, als fiele ihm keine passende Erwiderung ein. Mit hängenden Armen stand er vor ihr und sah aus, als wünschte er sich, im Boden zu versinken. Es war erstaunlich, wie schlecht er mit Spott umgehen konnte, auch wenn er ihn selbst kesselweise unter seinen Mitmenschen verteilte.
Tania rutschte an den Rand des Bettes und ergriff seine Hand.
»Bitte, komm!« Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Ich mache mich nicht über dich lustig. Es ist nur... süß!«
Snape warf ihr einen Blick zu, als hätte sie ihm offenbart, dass die Carrows sich der Anti-Snape-Allianz angeschlossen hatten und einen Kuchenbasar im Innenhof veranstalteten.
»Süß?«, stieß er ungläubig hervor, rutschte aber neben ihr ins Bett und lehnte sich gegen das Kopfende. »Falls es dir entgangen ist: Normale Hexen bezeichnen Dinge als süß, die sie in Entzückung versetzen. Zum Beispiel Babyniffler oder Einhornfohlen.«
»Vielleicht versetzt du mich in Entzückung, Sev«, murmelte Tania und erntete ein sarkastisches Schnauben.
Mit einem finsteren Blick löschte Snape das Licht, drehte sich auf die Seite, sodass Tania nur noch seinen Rücken sah, und zog die Decke bis zur Nase. So hatte sie sich das auch nicht vorgestellt!
Seufzend rollte sie sich zusammen und glitt in Träume, in denen er ihr weniger distanziert begegnete.
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