Nathan Nokturn
Der Oktober brachte Sturmböen und den ersten Schnee des Winters. Tania machte das schlechte Wetter nichts aus. Sie war gern im Schloss, wenn der Wind gegen die Mauern peitschte und sich Regentropfen an den Fensterscheiben sammelten.
Mittlerweile war sie bei zwei Treffen des Slug-Klubs gewesen, die wöchentlich stattfanden. Professor Slughorn hatte ihr bei beiden Treffen einige Fragen zu ihrer Familie und ihren Zukunftsplänen gestellt. Er war ganz entzückt davon, dass ihre Mutter eine leitende Position im Ministerium bekleidet hatte.
Das Beste an den Treffen des Slug-Klubs war das Essen. Es gab mehr Eisbomben, Törtchen und kandierte Früchte, als sie essen konnten. Tania machte sich einen Spaß daraus, die Köstlichkeiten mit Michael zu verkosten, während sie vielsagende Blicke tauschten. Einigen Mitgliedern des Klubs schien Slughorns Aufmerksamkeit nicht gut zu bekommen. Besonders die Slytherins prahlten mit den Karrieren ihrer Eltern und schleimten sich bei ihm ein.
Mit Michael Corner verstand sich Tania viel besser, als sie es erwartet hatte. Trotz ihrer unterschiedlichen Interessen führten sie gute Gespräche. Der Quidditchspieler strahlte eine Leichtigkeit aus, die Tania als angenehm empfand.
»Begleitest du mich am Wochenende nach Hogsmeade?«, fragte Michael, während er sich einen Pancake in den Mund schob. Es war Samstag und sie saßen beim Frühstück.
»Ich denke nicht«, murmelte Tania geistesabwesend. Sie hatte ihre Augen auf den Lehrertisch geheftet. Snape war bisher nicht zum Frühstück erschienen.
»Schade«, bemerkte Michael enttäuscht. »Sag mir wenigstens, was ich dir aus dem Honigtopf mitbringen kann.«
»Mir fällt bestimmt was ein.« Tania riss den Blick los und schaute ihn an. »Hast du heute Training?«
»Ja«, antwortete Michael, »Was machst du? Am Samstag bist du immer wie vom Erdboden verschluckt!«
»Ich muss in die Bibliothek«, wich Tania aus und sprang auf. »Viel Spaß beim Training!« Bevor er weitere Fragen stellen konnte, verschwand sie mit federnden Schritten. Sie freute sich auf einen weiteren Samstag im Labor.
»Er ist nicht da«, tönte es schnippisch aus dem Porträt von Nathan dem Nervtötenden, als Tania an ihm vorbeieilte. Nathan stand mit verschränkten Armen auf seinem römischen Sockel.
»Wer ist nicht da?«, fragte Tania. Nathan schob seine Lippe schmollend hervor und betrachtete sie auffordernd. Die Ravenclaw seufzte leise. »Es tut mir leid, Nathan, dass Professor Snape Sie mit einem Schweigezauber belegt hat. Allerdings werde ich mich nicht mit einem Porträt auf ein Glas Wein treffen. Verzeihen Sie!«
Nathans Miene hellte sich auf.
»Ich verzeihe Euch, junge Dame«, verkündete er großzügig. »Ich habe Bekanntschaft mit ›Anabelle der Anmutigen‹ aus dem dritten Stock gemacht und bin ohnehin nicht mehr an einer Liebelei interessiert.« Er warf ihr einen bedauernden Blick zu. »Wie gesagt, Eure düstere Begleitung ist nicht da.«
»Snape?«, fragte Tania. »Warum ist er nicht da?«
»Er ist in der Nacht aufgebrochen. Hat uns alle aus dem Schlaf gerissen. Unerhört! Sah ziemlich verstimmt aus und war in Begleitung«, erwiderte Nathan erfreut über ihr Interesse.
»Warum war er verstimmt?«, hakte Tania nach, »und wer hat ihn begleitet?« Sie trat näher an das Porträt.
»Er wirkte aufgewühlt, aber nicht so sehr, wie der junge Mann, der ihn begleitet hat. Es muss ein Schüler gewesen sein«, plapperte Nathan munter drauf los, »Blonde Haare und ein blasser Typ, dafür aber in edler Kleidung. Jemand mit Geschmack. Die beiden haben sich gestritten.«
»Danke, Nathan«, erwiderte Tania.
Probeweise klopfte sie an die Tür zu Snapes Gemächern. Niemand öffnete. Missmutig starte sie die Tür an, als könne sie sie mit bloßer Willenskraft dazu bewegen, sich zu öffnen. War Snape von Dem, dessen Namen nicht genannt werden darf, gerufen worden? Wenn ja, wer hatte ihn begleitet?
Nach einigen Minuten entschied sie, dass es nicht ratsam war, im Kerker herumzulungern. Widerwillig lief sie in die Bibliothek und erledigte ihre Hausaufgaben.
Die Stunden zogen sich in die Länge wie Druhbels bester Blaskaugummi. Tania konnte sich kaum auf ihren Aufsatz für Kräuterkunde konzentrieren.
Ihre Laune verschlechterte sich, als Snapes Platz am Lehrertisch auch beim Abendessen leer blieb. Erneut lief sie in den Kerker, doch Nathan versicherte ihr mit einem mitleidigen Blick, dass Snape nicht zurückgekehrt war.
Sie fühlte sich, als hätte sie jemand mit dem Incarcerus belegt. Es war, als würden sich feste Seile um ihren Brustkorb spannen und ihr die Luft zum Atmen nehmen.
Tania kam nicht zu Ruhe. Kurz nach Mitternacht hatte sie noch kein Auge zugemacht und tigerte unruhig durch ihren Schlafraum.
Immer wieder erinnerte sie sich an die Nacht im verbotenen Wald. Was, wenn Snape wieder verletzt war? Was, wenn er Hilfe brauchte? Sie ertrug es nicht.
Ertrug die Vorstellung, von dem, was Der, dessen Name nicht genannt werden darf, ihrem Lehrer antun konnte, nicht. Genauso wenig, wie sie sich mit dem abfinden konnte, was Snape womöglich tun musste. Sie hasste die Vorstellung, dass er im Auftrag seines Lords jemanden verletzte oder gar töten musste. Doch machte nicht ebendies die Tätigkeit eines Todessers aus?
Ihre Mitschüler waren mittlerweile zu Bett gegangen. Es drangen keine Geräusche aus dem Gemeinschaftsraum. Tania warf sich entschlossen einen Umhang über und rauschte aus ihrem Schlafraum.
Die Abkürzung durch das Porträt von Nathan konnte sie nicht nehmen, da dieser bevorzugt im Kerker schlief. Also huschte sie im Schatten der Nacht durch die Gänge, immer auf der Hut vor Filch und seiner Katze.
In dieser Nacht zauberte das Mondlicht, welches durch die Fenster fiel, eine nahezu märchenhafte Atmosphäre in die kühlen Gänge. Die Schritte der jungen Ravenclaw hallten leise von den Wänden. Unentdeckt erreichte sie den Kerker.
»Nathan«, wisperte sie und klopfte sachte gegen sein Porträt, »Nathan, wachen Sie bitte auf.«
»Junge Dame?«, brabbelte Nathan verschlafen. »Es ist mitten in der Nacht. Ist es möglich, dass ich träume?«
»Nein, Sie träumen nicht. Können Sie mir bitte sagen, ob Professor Snape zurück ist?«, fragte Tania hoffnungsvoll.
»Ich muss Euch enttäuschen, junge Dame. Allerdings war der blonde Junge, der ihn begleitete, schon mehrmals -«, begann Nathan und verstummte. »Bei Merlins Bart, junge Dame, ich höre Schritte! Schnell, rein mit Euch!« Er ruderte wild mit den Armen und das Porträt schwang knarrend auf.
Tania, die ebenfalls Schritte gehört hatte, verlor keine Zeit und schlüpfte durch den schmalen Eingang. Sofort schloss sich der Gang wieder und Nathan schnaufte laut. Mit pochendem Herzen lauschte sie den Schritten auf dem Gang. Es war nicht Snape. Die Schritte waren leise und zögernd, als wollte jemand nicht entdeckt werden. Ein leises Klopfen drang an Tanias Ohr.
»Er ist nicht da, junger blonder Mann«, ertönte Nathans flötende Stimme. Tania hätte der Rückseite seiner Leinwand am liebsten einen Tritt verpasst. Auffälliger hätte er ihr wirklich keinen Hinweis darauf geben können, wer da im Gang vor Snapes Gemächern stand. »Er ist weg, seitdem Ihr gestern den kompletten Korridor mit Eurem Streit geweckt habt. Heinrich der Hinterlistige ist immer noch sehr, sehr erbost darüber.«
»Was Sie nicht sagen«, ertönte Draco Malfoys gewohnt herablassende Stimme. Tania konnte sich bildlich vorstellen, wie er bei Nathans Anblick die Nase rümpfte. Kurz herrschte Stille.
»Einen sehr edlen Überwurf tragt Ihr, junger Mann. Man sieht selten jemanden mit so viel Eleganz und Geschmack«, schmeichelte Nathan dem hübschen Slytherin. Tania musste einen aufsteigenden Brechreiz unterdrücken.
»Von meinem Vater«, kam es hochnäsig zurück.
»Wer ist Euer Vater, junger Mann?«, erkundigte sich Nathan.
»Lucius Malfoy. Mein Name ist Draco. Draco Malfoy.«
»Ohhh. Ohhhooo«, übertrieb es Nathan mit seiner Ehrfurcht. »Es ist mir eine Ehre, Mr. Malfoy! Oh, eine schier unfassbare Ehre, Sie kennenzulernen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Ihr Großvater Abraxas Malfoy durch diese Schule zog. Ich genoss stets die wunderbaren Unterhaltungen mit ihm. Darf ich mich vorstellen? Nathan Nokturn. Ha, da schaut ihr! Nun, nach meinem Vater wurde die Nokturngasse benannt. Ich bin wie Ihr ein Slytherin durch und durch, Mr. Malfoy.«
»Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen, Mr. Nokturn«, erklang es interessiert. Tania konnte nicht bestreiten, dass Nathan ein Gespür dafür hatte, wie er Draco um den Finger wickeln konnte.
»Wenn ich Euch fragen darf, wo Professor Snape ist, Mr. Malfoy?«, fragte Nathan betont gelassen.
»Wir hatten einen gemeinsamen Termin«, antwortete Draco und es hörte sich an, als fiele es ihm schwer das letzte Wort auszusprechen. »Es muss zu Komplikationen gekommen sein. Deswegen wollte ich mich von seinem Wohlbefinden überzeugen.«
Tania wurde übel, als sie überlegte, was das für ein Termin gewesen sein sollte. Die Familie Malfoy galt als den dunklen Künsten äußerst zugewandt und ihre Mutter versuchte seit Jahren, Lucius Malfoy als bekennenden Todesser zu enttarnen.
War das Familienoberhaupt mittlerweile derart abgebrüht, dass er sogar seinen Sohn in Voldemorts Kreise zog?
»Nun, ich muss Euch enttäuschen, Mr. Malfoy. Er ist nicht da«, fuhr Nathan fort. »Ihr wisst nicht, wann er zurückkehren wird?«
»Nein«, erwiderte Malfoy, »Ich gehe jetzt. Guten Abend.«
»Einen Guten Abend, Mr. Malfoy!«, rief Nathan den sich entfernenden Schritten hinterher. »Vielleicht schauen Sie mal wieder vorbei!« Als die Schritte verklungen waren, schwang das Porträt auf und Tania trat zurück in den Kerkergang.
»Danke, Nathan«, sagte sie ehrlich, »Das war grandios. Ist die Nokturngasse wirklich nach Ihrem Vater benannt?«
»Ja«, tönte es stolz aus dem Porträt. »Allerdings hatte ich nie ein gutes Verhältnis zu meinem Vater. Dennoch bin ich ein Slytherin und verstehe, wie Schüler wie Mr. Naseweis gestrickt sind. Ihr solltet Euch im Umgang mit Professor Snape eine Scheibe von mir abschneiden.« Er grinste und prostete ihr mit seinem Kelch zu.
»Ich soll Professor Snape Komplimente für seinen Umhang machen?«, fragte Tania skeptisch. Nathan prustete in sein Glas.
»Ihr habt nichts verstanden, junge Dame. Nichts!«, meinte er nur, »Was gedenkt Ihr jetzt zu tun?«
»Hierbleiben kann ich jedenfalls nicht«, antwortete Tania grimmig und richtete ihren Zauberstab auf Snapes Eingangstür. »Speculatorem!« Sie würde nun wissen, wenn jemand Snapes Gemächer betrat. Diesen Spruch verwendeten die meisten Magier, um ihre Häuser vor unerwünschten Besuchern zu sichern.
»Schlau sind Sie auch noch, junge Dame!«, lobte Nathan und gab sichtlich zufrieden den Geheimgang frei.
Der Sonntag verging, ohne das Snape zurückkehrte. Tania ließ ihre schlechte Laune derweil an Michael aus, der versuchte sie aufzumuntern. Als er beim Abendessen einen Strauß bunter Blumen erscheinen ließ und ihn in ihr Glas mit Kürbissaft stellte, wurde es ihr zu bunt. Sie packte wütend ihr Sandwich und verließ, nicht ohne Michael einen tödlichen Blick zuzuwerfen, den Tisch.
In ihren Turmzimmer verkroch sie sich trotz der frühen Uhrzeit in ihr Bett und starrte aus dem Fenster. Von hier aus hatte sie einen herrlichen Blick über das verschneite Gelände von Hogwarts.
Sie verspeiste langsam ihr Sandwich, während düstere Gedanken durch ihren Kopf schweiften. Es brachte überhaupt nichts zu wissen, wann Snape seine Räume betrat, wenn er es überhaupt nicht bis dorthin schaffte.
Zögernd lief sie hinunter in den Gemeinschaftsraum und entdeckte Michael in einem Sessel. Er warf ihr einen scheuen Blick zu.
»Michael, ich bin heute schlecht drauf. Die Reaktion gerade war überzogen«, gab sie zu. »Tut mir leid.«
»Ich hätte Dir nicht auf die Nerven gehen sollen, Tania.« Der Quidditchspieler zuckte mit den Schultern.
»Du verzeihst mir also?« Tania schenkte ihm ein Lächeln.
»Klar.«
»Kannst du mir einen Gefallen tun, Michael?«
»Worum geht's?«
»Ich benötige ein Omniglas.«
»Ich kann dir eins borgen!«, rief Michael. »Ich habe es bei der letzten Weltmeisterschaft gekauft. Irland gewann mit 170:160 gegen Bulgarien. Du hättest den Wronski-Bluff von Viktor Krum sehen sollen. Es war einmalig -« Seine brauen Augen glitzerten.
»Bitte, Michael«, unterbrach Tania. »Kannst du mir das Omniglas bringen? Es ist wirklich wichtig.«
»Klar«, nuschelte der dunkelhaarige Mann verlegen. »Ich weiß, Quidditch ist nicht so dein Ding.« Dann stürmte er in sein Zimmer und kam mit einem goldenen Fernrohr zurück. »Behalte es so lang wie du willst. Ich brauche es eigentlich nicht.«
»Danke, Michael«, erwiderte Tania. »Ich möchte aber noch was über diesen... ähm... Wonsi-Bluff wissen. Wir sehen uns morgen beim Frühstück!« Mit diesen Worten verschwand sie, noch ehe Michael ihr erklären konnte, dass es der ›Wronski-Bluff‹ war.
Tania schreckte in der Gewissheit aus dem Schlaf, dass jemand Snapes Gemächer betreten hatte. Aufgeregt sprang sie aus ihrem Bett, wobei das zierliche Omniglas rumpelnd zu Boden fiel.
Sie hatte es bis weit nach Mitternacht an ihre Augen gepresst, die dunklen Ländereien von Hogwarts beobachtet und auf Snapes Rückkehr gewartet. Dann musste sie eingenickt sein.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach Vier war. Ihre Kleidung hatte sie noch an. Kurz fuhr sie sich durch die Haare, griff ihren Zauberstab und eilte durch den verlassenen Gemeinschaftsraum hinaus in die dunklen Gänge von Hogwarts. Nathan erwartete sie in seinem Rahmen.
»Er sah sehr schlecht aus, junge Dame«, murmelte er und blickte besorgt drein, ehe er den Geheimgang freigab. Tania sprintete die Stufen hinunter. Zitternd und mit pochendem Herzen hämmerte sie gegen Snapes Tür. Nichts geschah.
»Professor?«, rief sie, betätigte die Klinke und schlug erneut mit der Faust gegen die Tür. »Geht es Ihnen gut, Sir?«
Einige Sekunden vergingen, ehe Tania fortfuhr: »Nathan hat mir gesagt, dass er Sie gesehen hat. Wenn Sie kein Lebenszeichen von sich geben, werde ich zu Madam Pomfrey gehen oder Ihre Tür sprengen.« Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Körper. Ihren Umhang hatte sie nicht mitgenommen.
»Verschwinden Sie«, ertönte dumpf Snapes Stimme. Sie klang schwach, aber näher als erwartet. Ganz so, als würde er direkt hinter der Tür stehen. Tania atmete erleichtert aus.
»Bitte, lassen Sie mich rein«, rief sie und ihre Stimme hallte von den Kerkerwänden, doch Snape öffnete nicht.
»Es hat keinen Sinn, junge Dame«, sagte Nathan nach einigen Minuten in erstaunlich einfühlsamer Tonlage. »Gehen Sie ins Bett. Er ist nicht bereit, sich helfen zu lassen.«
»Ich mache mir Sorgen, Nathan.«
»Ich weiß. Geben Sie ihm Zeit.«
»Es war dumm, hierher zu kommen, nicht wahr?«
»Ja.« Nathan lächelte mitleidig. »Aber Ihr tut das Richtige. Davon bin ich überzeugt.« Knarrend gab er den Geheimgang frei. Tania warf einen letzten Blick zu Snapes Tür und verschwand mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend.
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