In stiller Trauer
›Bleib in deinem Zimmer, Tania‹, dröhnte Snapes Stimme in ihrem schmerzenden Kopf.
›Ich will nicht‹, erwiderte sie tapfer.
›Bleib in deinem Zimmer!‹
›Ich will aber nicht in meinem Zimmer bleiben!‹
›Du musst in deinem Zimmer bleiben.‹
»NEIN!«, schrie Tania lautstark in ihr Kissen, bäumte sich auf und rang schweißüberströmt nach Luft. Die schützende Blase, die sie seit Tagen umhüllt hatte, zerplatze. Es war, als würden die zurückgehaltenen Emotion in einer gewaltigen Welle über ihr zusammenbrechen. Trotz ihrer tränenden Augen überwog der Triumph darüber, dass es ihr gelungen war, den Imperius zu brechen. Snape konnte nicht über sie herrschen.
Zu ihrer eigenen Verwunderung verspürte sie keine Wut. Es beruhigte sie, dass Snape aus seinem Repertoire an Flüchen ausgerechnet den Imperius gewählt hatte, um sie einzuschüchtern. In ihren Augen war es der Beweis dafür, dass er ihr nicht hatte wehtun wollen. Ein Cruciatus hätte sie deutlich mehr beeindruckt.
Auch wenn der Imperius als unverzeihlich galt, war sich Tania sicher, dass sie Snape verzeihen konnte. Sie war entschlossener denn je, ihn zu retten. Die Memos in seinem Nachtschrank und die Karten von Dumbledore waren Beweis genug, dass mehr in ihm steckte als ein gewalttätiger Todesser. Sie schwor sich, alles daran zu setzen, zu verstehen, warum Dumbledore sterben musste.
Zitternd zog sie sich ihre Decke bis zur Nase und sank in einen unruhigen Schlaf.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, durch die menschenleere Schule zu laufen. Tania begegnete keinem Lehrer und selbst die Gespenster schienen wie vom Erdboden verschluckt, ganz so, als hätte Dumbledore ganz Hogwarts mit in sein Grab genommen.
Entschlossen klopfte Tania an Snapes Gemächern und legte die Hand auf den Türknauf, nachdem er ihr nicht öffnete. Das Schloss klickte und die Tür sprang auf. Als sie eintreten wollte, traf die Tür auf einen menschlichen Widerstand und federte zurück.
»Das Nichtöffnen einer Tür nach mehrmaligem und penetrantem Klopfen ist in der Regel ein Hinweis darauf, dass man unerwünscht ist«, schnarrte Snape abfällig und stieß die Tür so ruckartig auf, dass Tania das Holz an der Nasenspitze spürte und gezwungen war, zurückzustolpern.
»Und das Eintreten ohne Aufforderung ist in der Regel ein Hinweis darauf, dass der Gast darauf pfeift, ob er erwünscht ist oder nicht«, äffte sie ihn nach und reckte wütend das Kinn.
»Was willst du hier?«, knurrte Snape.
»Arbeiten«, erwiderte sie kühl. »Mir war nicht bewusst, dass unsere Vereinbarung diesbezüglich nicht mehr gilt.« Snape starrte sie an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen.
»Nein«, antwortete er ruppig.
»Doch«, zischte Tania. »Vergiss nicht, dass du ohne mich längst Hippogreifenfutter wärst.« Sie warf einen abschätzenden Blick auf seinen Arm, an welchem ihn die Krallen gestreift hatten und versuchte sich an ihm vorbei durch die Tür zu drängeln. Snape packte sie an der Kapuze und zog sie zurück.
»Hau ab!« Seine Augen blitzten bedrohlich.
»Nein«, fauchte Tania und stach ihm ihren Zauberstab in die Brust. »Du hast genügend Mittel außer dem Imperius, um mich loszuwerden, wenn du das willst. Also nutze sie oder tritt zur Seite!«
Er schaute sie schweigend an und machte keine Anstalten, seinen Zauberstab zu heben.
»Wusste ich es doch!« Die junge Hexe stieß ihn grob zur Seite und marschierte schnurstracks ins Labor.
»Du weißt, welche Tränke aufgefüllt werden müssen«, bemerkte Snape. Er ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und zog einen Stapel Unterlagen heran, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Durchaus«, schnappte Tania. Sie hatte die Tränke eigenhändig aus seinem Vorrat entwendet.
Routiniert setzte sie einen Aufpäppeltrank an und beobachtete den Tränkemeister aus den Augenwinkeln. Dieser machte keinen Hehl daraus, dass er misstrauisch ihre Schritte überwachte.
Vielleicht dachte er, dass sie ihn mit seinen eigenen Tränken vergiften wollte? Ob es eine Überlegung wert war, ihm Veritaserum in einen seiner Heiltränke zu mischen?
Tania schenkte Snape über den Rand ihres Kessels hinweg ein provokantes Lächeln. Mit einer ausholenden Bewegung zog sie ihren Umhang aus und warf ihn über einen der Sessel.
Sie trug eine kurzärmelige Bluse. Demonstrativ stellte sie sich an den Arbeitstisch, sodass ihr linker Oberarm in seinem Blickfeld war. An den Stellen, wo er sie gepackt gehalten hatte, leuchteten blaue und grüne Blutergüsse auf ihrer hellen Haut.
»Stolz darauf?«, fuhr sie ihn an.
»Nein«, antwortete er rau, bevor er das Labor verließ.
Die Wochen flossen zäh dahin und Tania verbrachte jeden Abend im Labor. Tagsüber vergrub sie sich mit ihren Büchern im Gemeinschaftsraum oder beobachtete wie der Regen gegen die Fenster prasselte. Gewitter zogen durchs Land und der wolkenverhangene Himmel spiegelte ihre Stimmung wider.
Sie war Snape nicht näher gekommen. Er leistete ihr selten Gesellschaft und wenn er es tat, wich er ihr aus, wie ein scheues Reh. Ihre unterschwellige Angst ihm gegenüber war mit den Dämpfen der Zaubertränke verpufft. Er verhielt sich derart defensiv, dass sie fast vergaß, dass er Dumbledore ermordet hatte. Sein Verhalten ließ keinen Raum für ihre Furcht.
Dennoch hatte sie das Gefühl, dass er etwas verbarg. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, provozierte sie ihn. Sie stichelte, strafte ihn mit Ignoranz und behandelte ihn, als sei er der Dreck unter ihren Fußsohlen, doch all ihre Gemeinheiten prallten an ihm ab. Schlimmer noch, er schien mit ihr übereinzustimmen.
Ihr fiel auch auf, dass Körperpflege auf seiner Prioritätenliste weiter nach unten gerutscht war. Seine Haare hingen in fettigen Strähnen in seinem teigigen Gesicht, während das Weiß um seine Pupillen einen unschönen Rotstich angenommen hatte.
Es war ein jämmerlicher Anblick und Tania hätte Mitleid empfunden, wenn er nicht darauf beharrt hätte, Dumbledore im Auftrag des dunklen Lords getötet zu haben.
Ihre Gedanken schweiften oft zu den Fotos in Snapes Nachttisch. Lily Evans ging ihr nicht aus dem Kopf, sodass sie in die Bibliothek schlich und die Jahrbücher zu Rate zog.
Zuerst suchte sie nach Snapes Mutter. Eileen Snape war als Slytherin in den Vierzigerjahren in Hogwarts zur Schule gegangen. Einige Jahre hatte sie den Koboldstein-Club geleitet. Bis auf eine Auszeichnung für besondere Leistungen im Fach der Zaubertrankkunst fand Tania keine Informationen über sie.
Über Lily Evans ließ sich in der Bibliothek mehr finden. Sie hatte die Schule zeitgleich mit Snape besucht und schien eine begabte Hexe zu sein. Lily hatte zahlreiche Auszeichnungen für ihr Engagement erhalten und war Schulsprecherin gewesen.
Während Tania die Namensliste des Jahrgangs überflog, sprangen ihr die Namen ›Remus Lupin‹ und ›James Potter‹ ins Auge. Ein leiser Verdacht keimte in ihr auf und einige alte Zeitungsartikel später wusste sie, dass Lily Potter eine geborene Evans war.
»Das ist ja ein Ding«, nuschelte sie und trommelte mit ihren Fingern auf die Tischplatte. Snape hat das Bild von Lily Potter in seinem Nachtschrank! Sie war mit ihm zur Schule gegangen! Drei Jahre später tötete Voldemort sie und ihren Mann.
Wie konnte Snape jemanden dienen, der die Frau getötet hatte, deren Fotos er in seinem Nachtschrank aufbewahrte? Tania hatte das Gefühl alle Puzzleteile zu besitzen und sie doch falsch zusammenzusetzen.
Als sie abends im Labor arbeitete, zerbrach sie sich noch immer den Kopf über Lily Evans. Snape ließ sich nicht blicken. Vielleicht hatte er sich in seinen Privaträumen verkrochen oder war von Dem, dessen Namen nicht genannt werden darf, gerufen worden. Beides passierte in letzter Zeit oft.
›Vermutlich ist Severus der neue Liebling seines Meisters‹, dachte Tania bitter und schlug auf eine Blutblasenschote ein, die mit einem widerlichen ›Plop‹ zerplatze. Der Saft verteilte sich nicht nur auf ihrem Umhang, sondern hinterließ auch unschöne, blutrote Spritzer an der Kerkerdecke.
Gegen Mitternacht verließ Tania das Labor. Es hatte keinen Sinn auf Snape zu warten, wenn sie nicht einmal wusste, ob er fort war. Sanft klopfte sie an Nathans Porträt.
»Schon so spät«, nuschelte Nathan im Halbschlaf. »Aber ein Glas Riesling geht noch -« Benommen hob er den Kopf und schwankte leicht, während er Tania schläfrig musterte.
»Nasenschleimhaut!«, nannte sie das Passwort, woraufhin sich der Zugang öffnete. Sie war noch nicht ganz durch die enge Öffnung geklettert, als das Porträt bereits zufiel und sie mit vollem Schwung im Rücken traf. Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst und mit einem gedämpften Laut schlug sie auf dem Boden auf, wobei sie sich die Haut von den Handflächen schrammte. Nathans leises Schnarchen drang an ihr Ohr.
Fluchend rappelte sich Tania auf. Ihr Kopf dröhnte schmerzhaft und alles um sie herum schien sich zu drehen. Sie brauchte einige Minuten, um ihre Orientierung wiederzuerlangen.
Gerade als sie den Aufstieg wagen wollte, vernahm sie, wie eine Tür ins Schloss fiel. Im Kerkergang vor Nathans Porträt ertönten Schritte. Sie lugte aus dem Geheimgang und erhaschte einen Blick auf Snape, der am Ende des Korridors um eine Ecke bog.
Hatte er sich also doch in seinen Räumen vor ihr versteckt! Wo wollte er hin? Es hatte des Anschein, dass er nur darauf gewartet hatte, dass sie endlich verschwand.
»Silencio Motus«, murmelte Tania, während sie mit dem Zauberstab ihre Schuhe antippte. Dann folgte sie Snape mit lautlosen Schritten durch den stockfinsteren Kerker.
Auf der Treppe, die hinauf ins Schloss führte, holte sie ihn ein. Er war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Mit wehendem Umhang eilte er durch das Portal hinaus aufs Gelände. Tania ließ ihm einen Vorsprung, bevor sie durch die Flügeltür schlüpfte.
Vor den Toren des Schlosses wehte eine frische Brise und leichter Nieselregen stob ihr ins Gesicht. Das Licht des Mondes fiel durch die Wolken, wie durch einen Schleier. Nervös hielt sie sich im Schutz der Mauern und suchte das Gelände nach Snape ab.
Ein dunkler Fleck huschte in Richtung des großen Sees davon. Flink nahm sie die Verfolgung auf. Mit jeden Schritt gewann das weiße Grabmal des ehemaligen Schulleiters an Kontur. Es strahlte ihr nahezu aus der Schwärze der Nacht entgegen.
Kurz verlor sie Snape aus den Augen, bis sie eine Bewegung am Fuße der Kiefer ausmachte, die ganz in der Nähe der Ruhestätte stand. Snape hatte sich auf den Boden niedergelassen. Er lehnte mit dem Rücken am Stamm des Baumes, sodass er Dumbledores Grabmal im Blick hatte.
Gebannt beobachtete Tania den Tränkemeister. Er zog eine Lichtquelle aus seinen Umhang, die sein Gesicht in ein goldenes Flackern tauchte. Es war, als tanzte eine winziges Feuer in seinen Händen. Eine immerwährende Flamme in einer gläsernen Kugel. Tania konnte ein freudiges Lächeln nicht unterdrücken. Er hatte ihr Geschenk sicher bewahrt.
Snapes Anblick versetzte sie in eine melancholische Stimmung. Es war eine Szenerie der Einsamkeit, wie er unter dem eindrucksvollem Grabmal kauerte. Vollkommen verschmolzen mit der Dunkelheit der Nacht, während der marmorne Stein durch die Finsternis leuchtete. Viel hatte sich nicht geändert.
Das Grabmal strahlte, wie auch Albus Dumbledore zu seinen Lebzeiten gestrahlt hatte, während Snape sein Dasein im Schatten fristete. Manche Dinge änderten sich nicht.
Tania wäre gern zu Snape hinübergelaufen. Sie wollte sich neben ihn setzen, ihre Schulter gegen seine lehnen und ihm tröstend die Hände reichen, doch es war der falsche Zeitpunkt.
Schweigend hing sie ihren Gedanken nach, bis Snape seinen Platz verließ und sich auf den Rückweg machte. Dann rappelte sie sich auf und streckte ihre eingeschlafenen Glieder.
Während sie sie Ruhestätte des Schulleiters beobachtet hatte, war der zarte Wunsch in ihr gekeimt, näher zu treten. Zögernd lief sie durch das feuchte Gras. Ihre Scham hatte sie bisher davon abgehalten sein Grab zu besuchen.
Es war ihre Schuld, dass sein Mörder ungeschoren davongekommen war. Selbst jetzt hatte sie nicht den Schneid dazu, dem Orden von Snapes Anwesenheit in der Schule zu berichten.
»Es tut mir leid, Professor«, flüsterte sie, während ihr eine Träne über die Wange lief. Sie fühlte sich bedeutungslos, wie sie vor den weißen Steinplatten stand, die hoch vor ihr aufragten.
Es war nichts als ein Grab, doch Tania fühlte dieselbe Ehrfurcht, die sie Dumbledore gegenüber empfunden hatte. Zitternd legte sie eine Hand auf den kalten Stein. Einen Atemzug später, begann die obere Marmorplatte zu schimmern. Schüchtern trat sie näher, als wie aus dem Nichts eine Gravur erschien.
›Ich vertraue Severus.‹
Tania griff sich mit ihrer Hand ans Herz, während sie zurücktaumelte. So mächtig Dumbledore auch zu seinen Lebzeiten gewesen war: Es war für einen Toten unmöglich, Kontakt zu den Lebenden aufzunehmen. Waren diese Worten ein Schatten seiner selbst?
Sie erinnerte sich an den zweiten Weihnachtsfeiertag, als sei es gestern gewesen. Es war das einzige Mal gewesen, dass Tania mit Dumbledore gesprochen hatte. Sie hatten über Snape geredet und sie hatte gefragt, ob der Schulleiter ihm vertraute.
›Ja, ich vertraue Severus. Ich würde ihm ohne zu zögern mein Leben anvertrauen‹, hatte Dumbledore geantwortet.
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