Kapitel 9 - Ewige Nacht
Unsanft wurde Castor aus dem Land der Träume gerissen. Er widerstand dem Verlangen das unliebsame Gerüttle mit Alchemie zu beantwortet. Stattdessen murmelte er gähnend: „Dir auch einen schönen guten Morgen, Evane." Blinzelte. Zwei Tatsachen hatten diesem so vielversprechenden Tagesbeginn einen bitteren Beigeschmack verpasst: Erstens trug Evane wieder die lächerliche Knabenverkleidung und zweitens war es noch stockfinster. „Evane", stöhnte Castor, „die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen. Hab Erbarmen mit mir!"
„Es ist neun Uhr."
Castor wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Aber die Ernsthaftigkeit in der Stimme der jungen Frau ließ ihm keinen Zweifel an ihrer Aussage. Das Holz ächzte, als der Alchemist aufstand um sich das Gesicht in der kleinen Keramikschale zu waschen. Seelenruhig entwirrte er mit den Fingern seine Haare. Schob die Enden seines Hemdes ordentlich in den Saum seiner Hose. Castor spürte den stechenden Blick von Evane in seinem Nacken. Kostete ihre Aufmerksamkeit genüsslich aus. Die Mischung aus Verachtung dafür, dass er sich so selbstverständlich in ihren Räumen bewegte und gleichzeitig eine gewisse Faszination. „Soll ich aufhören und mich lieber ausziehen oder reicht es dir, das mit den Augen zu machen?"
Der Alchemist schenkte ihr ein schelmisches Grinsen, warf dabei den Kopf leicht geneigt in den Nacken. Er wusste genau, dass so die edle Linie seiner Wangenknochen betont wurde, die kleinen Grübchen aufblitzten. Doch Evane verdrehte nur gelangweilt die Augen und murrte: „Mir egal. Das, was dich schneller zum Gehen bewegt."
Ohne Castor noch eines Blickes zu würdigen, tastete sie systematisch ihre einzelnen Waffen ab. Prüfte den Sitz und die Anzahl der Patronen, wobei sich ihre Augenbrauen leicht kräuselten. Kopfschüttelnd wand der Alchemist sich dem kleinen Fenster zu. Ihm bot sich ein schauriges Bild: Durch die dunklen Straßen schlichen unsichere Männer, hielten ihre Laternen fest umklammert, während ihre Beine im Nebel versanken. Der Lichterschein fasste kaum einen Meter weit. Castor verdrehte den Kopf und versuchte einen Schnipsel Himmel ausfindig zu machen. Doch die düsteren, massiven Häuserwände verschmolzen mit der eisernen Wolkendecke.
„Hast du so etwas schon einmal gesehen?" Der Artist schüttelte den Kopf. Er hörte das metallene Klacken einer sich öffnenden und wieder schließenden Taschenuhr. Evane seufzte. „Ich werde zum Polizeipräsidium gehen. Mach was du willst." Offenbar ihre Art zu fragen, ob er mitkommen würde. Castor verkniff sich eine stichelnde Bemerkung. Stattdessen antwortete er: „Dann haben wir wohl den gleichen Weg. Ich kann heute meine Bescheinigung abholen."
Evane nickte, während sie einen Fussel von ihrem Mantel klaubte. „Gut, wie treffen uns dann unten." Und ehe Castor noch etwas erwidern konnte, stürmte die junge Frau in Knabenkleidung aus dem Zimmer. Der Alchemist schüttelte den Kopf, während er seine Jacke von der Stuhllehne angelte und sie sich über die Schultern warf. Als würde er seinem zukünftigen Schwiegervater so leichtsinnig offenbaren, dass die Ehre seiner Tochter in Gefahr schwebte! Klarer Anfängerfehler.
Langsam drehte sich Castor in der Mitte des Raumes. Nachdenklich kratze er sich am Kinn. Dann hielt er auf die kleine Kommode zu. Strich über den hölzernen Kamm, bewunderte die fein gearbeiteten Muster. Seine Finger wanderten weiter. Wählten eine mit Federn verzierte Haarklammer. Grinsend ließ der Alchemist sie in seinem Ärmel verschwinden. Eine weitere Lebensweisheit seiner Mutter: Hab immer einen Grund deine Liebste erneut zu besuchen.
Zufrieden knackte Castor mit den Fingergelenken, ehe er aus einer Jackeninnentasche ein unscheinbares Stück vergilbtes Papier mit schwarz verblichenen Symbolen zum Vorschein brachte. Er drückte mit der flachen Hand das Blatt gegen eine freie Wand. Unter seinen Fingern leuchtete es golden auf. Er spürte wie die gespeicherte Alchemie sich mit seiner Energie verband, wuchs und sich tief in das Mauerwerk eingrub. Mit einem zufriedenen Lächeln drückte Castor gegen die Fassade. Als wäre sie eine federleichte Tür, schwang sie auf und gab den Blick auf eine verlassene Gasse frei. Eine Katze musterte den Alchemisten argwöhnisch aus ihren grünen Augen. Castor neigte den Kopf zum Gruße und trat ins Freie. Sofort schloss sich der Durchgang hinter ihm.
Neugierig verfolgten die Augen des Schaustellers den Nebel hin zur Hauptstraße. Sanft strich Castor mit den Fingerspitzen über die wabernde Oberfläche. Kleine Funken sprühten und seine Haut prickelte unter der Berührung. Interessant. Die Katze auf der Mülltonne fauchte. Kluges Tier, dachte der Alchemist, ehe er seine Hände in den Hosentaschen vergrub und tänzelnd auf die beleuchtete Hauptstraße zuhielt.
Evane erwartete ihn bereits. Sie gab das klägliche Bild eines miesgelaunten Gentlemans ab: In der einen Hand hielt sie eine Laterne, um ihr Handgelenk baumelte ein Beutel und mit der anderen führte sie leidenschaftslos immer wieder eine glimmende Zigarette an ihre Lippen, während ihre Augen hin und her sprangen. Jeden Winkel, jede Bewegung mit Missbilligung straften.
Als sie Castor erkannte ließ Evane die Zigarette fallen und trat sie zügig aus. „Alte Angewohnheit", bemerkte sie.
„Hab nicht gefragt", erwiderte Castor mit einem Schulterzucken. Aus Evane's Augen flogen Blitze. Ihr Griff verstärkte sich um die Laterne und der Schausteller wusste nur zu gut, dass sie ihm das Ding gern über den Kopf gezogen hätte. Aber stattdessen atmete die junge Frau einmal tief durch und reichte ihm das Bündel. Ein süßlicher Duft stieg Castor in die Nase. Verblüfft besah er sich den Inhalt. „Für mich?"
„Bis auf das Erdbeercroissant." Der Artist gluckste zufrieden, als er sich genüsslich über ein Quarktörtchen hermachte. „Der Nebel steht ganz schön hoch." Intuitiv berührte die junge Frau das besetzte Halfter an ihrem Gürtel.
„Ich denke, wir sind vorerst sicher." Evane schien nicht gerade zufrieden mit dieser Aussage, aber sie fragte nicht weiter. Wieder war Castor hin und her gerissen. Zum einen zufrieden, dass Evane so schnell lernte und gleichzeitig enttäuscht, dass sie nicht nachbohrte.
Während sie gemeinsam beinahe lautlos die Straße entlang schlichen, grüßte Evane hin und wieder ein paar sorgsam dreinblickende Herren, die selbst Castor ein gequältes Lächeln schenkten. Er hatte beinahe vergessen, wie es war, wenn man sich dem Einheitsbrei der Menschen anpasste.
Verwundert folgte der Alchemist Evane in eine leere Seitengasse. Die junge Frau klemmte sich den Henkel der Laterne zwischen ihre Zähne und begann mit geübten Handgriffen, sich an der Mauer hochzuziehen. "Was wird das?"
"Ich will mir einen Überblick verschaffen."
Castor band den Beutel mit dem restlichen Essen an seinem Gürtel fest. Machte sich daran, die mit Efeu bewachsene Fassade mit gespielter Anstrengung zu erklimmen - nicht ohne den Versuch unter Evane's Mantel zu spähen, den Anblick ihrer Rundungen in der eng sitzenden Hose zu genießen. Oben angekommen stützte er theatralisch die Hände auf den Oberschenkeln ab, stöhnte erleichtert. Aber Evane schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er verdrehte die Augen und schlitterte über die feuchten Dachziegel. Leichtfüßig sprang die junge Frau über eine schmale Gasse. Castor schnaubte missbilligend. Viel zu gefährlich für einen Nichtalchemisten.
Evane rannte mit vorgebeugtem Oberkörper eine Dachschräge hinauf und griff nach dem kleinen Vorsprung eines Lüftungskanals. Sie schluckte. Castor spürte ihr schnellpochendes Herz. Ihre Angst. Er rückte zu ihr auf und folgte ihrem Blick. Nichts als Finsternis. Nur vereinzelt trauten sich die Menschen schwach leuchtende Kerzen in die Fenster zu stellen. Ein trostloser Anhaltspunkt um das Ausmaß der Stadt zu begreifen.
Und dort unten in der Dunkelheit bewegten sich die Schatten unter der Nebeloberfläche. Suchten. Beobachteten. Töteten im Verborgenen. Castor's Blut pulsierte in seinen Adern. Es reagierte auf die mächtige Alchemie. Ein gefährliches Lächeln stahl sich auf die Lippen des Artisten. Doch binnen eines Augenblicks war es schon wieder verschwunden.
"Wir sollten uns besser beeilen", flüsterte Evane.
"Wir sollten besser zurück auf die Straße. Hier oben brichst du dir nur das Genick!" Evane sah Castor spöttisch an.
"Ich mache das schon, seitdem ich elf bin. Kein Grund beunruhigt zu sein."
"Ach ja? In der absoluten Finsternis auf rutschigen Dächern? Nervös?" Evane's Augenlid zuckte. Nicht gut.
"Ja!" Und damit ließ sie das kalte Metallrohr los, schlitterte die Schräge hinunter und nutze den Schwung für einen waghalsigen Sprung. Castor war sofort hinter ihr. Bereit sie festzuhalten. Evane zuckte unter der überraschenden Nähe zusammen. Rückte mit eng zusammen gezogenen Augenbrauen von ihm ab und folgte dann zügig in gebückter Haltung der Regenrinne am Häuserrand.
Plötzlich hielt sie inne. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Castor ihre Angst schmecken, die sofort in eiserne Entschlossenheit umschwappte. Und ehe der Schausteller begreifen konnte, hatte Evane bereits ihren Revolver gezogen und abgedrückt. Der Schuss hallte in der dunklen Gasse. Wurde übertönt von dem ohrenbetäubenden Schrei eines Monsters und dem angsterfüllten Klagelaut eines Kindes. Von dem Lichtfeuer der Pistole war Castor geblendet. Seine Ohren klirrten. Er taumelte, während sein Kopf endlich realisierte, was hier vor sich ging. Evane!
Die nächste Kugel fand ihr Ziel. Elegant wie eine Katze hatte die junge Frau sich von dem Dachgesims fallengelassen und war zwischen der Kreatur und dem Jungen gelandet. Ohne zu zittern richtete sie ihre Waffe in die Dunkelheit. Aus dem Nebel erhob sich eine schlangenähnliche Gestalt aus Knochen und den Überresten verwester Haut und Muskelsträngen. Aus den Einschusslöchern strömte Rauch. Was sind das für Kugeln?
Mit einem Satz tauchte Castor vor Evane auf. Umschloss sie wie zu einer Umarmung. Vor Schreck drückte sie ab. Knochen zerschmetterten und das Monster brüllte. Castor zog eine Feuerwand hinter ihnen hoch und trennte sie so von dem Nebelwesen. Fixierte mit goldenen Augen den Satansbraten. Evane befreite sich aus seinen Armen. Als sie einen Schritt auf den Jungen zu machen wollte, hielt der Schausteller sie zurück. "Was soll das?", zischte Evane. Doch Castor platzierte sich mit dem Rücken vor ihr. Der Tag will auch einfach nicht besser werden. Hinter dem Feuer tobte die Ausgeburt der Hölle. Evane besaß eine tödliche Waffe gegen Alchemisten und dieser kleine Scheißer vor ihm wollte doch tatsächlich Ärger machen.
Castor's Nackenhaare stellten sich auf. Seine Haut kribbelte unter dem Einfluss der fremden Alchemie, als Blitze zwischen den Fingern des Jungen hin und her sprangen. Evane verstand endlich: Sie hatte sich direkt in eine Falle gestürzt. Ihre freie Hand krallte sich in Castor's Jacke. Angriff oder Flucht? Doch bevor er sich entscheiden konnte zischte ein gleißender Blitz an ihm vorbei.
Die Kugel traf den Jungen unvorbereitet direkt zwischen die Augen. Die vor Schreck geweiteten Pupillen verdeckten beinahe vollständig die goldene Iris. Blut rann aus der Wunde über die kleine Stupsnase. Dann sackte die Gestalt in sich zusammen. Castor hatte das Gefühl zu ersticken. Mit mechanischen Schritten bewegte er sich auf den leblosen Körper zu. Sie hat einfach ein Kind erschossen. Er streckte die Hand aus. Leere. Ein Trugbild. Sein Herz verkrampfte. Sein Mund war trocken. Er wagte es nicht sich nach Evane umzusehen. Woher sollte er wissen, dass sie nicht die Waffe auch auf ihn richten würde?
"Wir müssen weiter." Castor rührte sich nicht. "Castor, das war nur eine alchemistische Puppe." Verwundert wandte sich der Artist dem schlaksigen Möchtegernknaben zu, der seine Waffe wieder in einem der unzähligen Halfter verstaute. Einen Teleskop-Gehstock mit versteckter Klinge zum Vorschein brachte.
"Du wusstest es?"
"Natürlich, ich hätte doch kein Kind erschossen!" Der Schreck steckte noch immer in den Knochen des Alchemisten, als er fragte: "Woher?"
"Du hast deine Geheimnisse, ich meine."
In Castor's Kopf herrschte noch immer gähnende Leere, als Evane vor seine Augen schnipste. "Castor, wollen wir warten bis dieses Ding wieder auftaucht?" Mit klammen Fingern umschloss der Artist Evane's freie Hand und zog sie mit sich. Sie wollte protestieren, doch Castor erklärte nur: "Ich kann im Dunkeln sehen und du so?"
Es dauerte nicht mehr lange, da füllten sich die Straßen. Immer mehr Menschen strömten in Richtung des Polizeipräsidiums. Evane und Castor wanden sich durch die Menge. Widerwillig musterte der Beamte die beiden Männer. "Hinten anstellen", knurrte er.
"Ich bin's Mr. Brend. Kommen Sie schon, Sie kennen mich. Ich muss dringend mit Doyle sprechen."
"Und der da?"
"Ein wichtiger Zeuge", antwortete Evane für Castor. Der Polizist rieb sich über das griesgrämige Gesicht und trat zur Seite.
In dem Gebäude herrschte das absolute Chaos. Passanten forderten Antworten, klagten über Vermisste. So viele Menschen. Evane rückte dichter an Castor, der amüsiert die Lippen zu einem Lächeln verzog. Langsam wieder zu sich fand. Am liebsten hätte er "Komm kuscheln" gegurrt, doch sein Blick blieb an einer aufgewühlten Dame hängen, die ihre schmale Gestalt mit einer Uniformjacke umhüllte.
"Rose!"
Entschuldigt bitte das verspätete Kapitel. Ich war leider gesundheitlich angeschlagen und kam einfach nicht eher dazu. Nun geht es mir aber wieder besser. ;)
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