Kapitel 6 - Schweigen ist Gold
Während Evane grummelnd den Schal bis knapp unter die Augen zog, die Hände tief in den Taschen vergrub, schlenderte Castor fröhlich pfeifend neben ihr her. Mit bebender Stimme zischte Evane: „Kannst du auch mal eine Sekunde lang still sein?"
„Könnte ich", sinnierte Castor. Hüpfte elegant vor Evane und plusterte sich auf wie ein stolzer Hahn. Während er die Hände in die Hüfte stemmte, grinste er sie breit an. „Will ich aber nicht." Evane seufzte und schob den Schausteller unsanft zur Seite. Sie spürte die Blicke der feinen Damen in ihrem Rücken. Ihre Abscheu. Sie wusste, was für ein bizarres Bild Castor und sie abgaben.
Evane sah aus, als hätte sie zu tief ins Glas geschaut: der Mantel vollkommen zerknittert, dunkle Augenringe. Und Castor wie ein Schwerenöter, der sich zu viel herausgenommen hatte. Seine Lippe war seitlich geschwollen, die Haare standen ihm zu Berge. Und trotzdem tanzte er sich durch die geschäftigen Leute, als wären sie alle nur Teil eines abstrusen Bühnenbildes.
Tüchtige Damen begutachteten die Waren der verschiedenen Läden. Kauften duftendes Brot und frisches Fleisch, während Geschäftsleute mit ihren hohen Zylindern und den eleganten Gehstöcken über das Straßenpflaster flanierten. An einer Ecke brüllte sich ein Zeitungsjunge die Seele aus dem Leib. Die Schlagzeile – das Mordopfer. Und das alles auf nüchternen Magen.
Ich will Kaffee!
„Benimm dich wenigstens wie ein normaler Mensch!", flehte Evane. Castor schmunzelte, schlug eine Pirouette und hakte sich bei ihr unter. Hastig wollte die junge Frau den Alchemisten abschütteln, doch mit fast schon übernatürlicher Kraft hielt er sie fest. Zwang sie zum Stehenbleiben und hauchte in ihr Ohr: „Das heißt?" In seinen Augen glitzerte ein bedrohlicher Funken.
Evane schnaubte. Trat ihm mit voller Kraft auf den Fuß. Castor jaulte extra laut auf. Theatralisch warf er den Kopf in den Nacken. „Du bist so peinlich!", brach es aus Evane heraus, ehe sie wütend von dannen stapfte. Hoffnungslos versuchte sie Abstand zwischen sich und den Schausteller zu bringen, doch der Alchemist war so hartnäckig wie eine Schmeißfliege.
„Okay, es tut mir leid. Das war ein wenig zu viel des Guten."
„Ich rede nicht mehr mit dir."
„Ah ja." Evane brodelte. Noch nie hatte jemand sie so in der Öffentlichkeit blamiert. Geschweige denn als Luke! Dieser Idiot! Und während die Leute einen großen Bogen um das groteske Paar machten, hatte Castor die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Ihm schienen die Blicke gar nichts auszumachen.
„Hey Evane."
„Luke, verdammt nochmal!"
„Schön, Luke. Soll ich Doyle eigentlich sagen, dass wir die Nacht gemeinsam verbracht haben oder machst du das?"
Evane starrte den Alchemisten einfach nur fassungslos an, während die Damen neben ihnen sich ziemlich aufgeregt die Luft zufächelten. „Was? Das ist doch totaler Schwachsinn!"
„Ach echt?"
„Ja! Und außerdem, warum solltest du das machen? Ich wäre nicht die einzige, über die sie reden würden!"
„Der einzige, wenn du schon so viel Wert auf deine Tarnung legst. Und jetzt bin ich doch ein wenig enttäuscht. Ich habe dich nicht für einen dieser verklemmten Stehpinkler gehalten, die Schnappatmung bekommen, wenn sich zwei Männer lieben."
„So war das ja auch nicht gemeint." Evane verdrehte die Augen.
„Und was soll ich stattdessen machen, wenn du mit klimpernden Augen versuchst den Arzt zu bezirzen?"
„Die Klappe halten?"
Castor wand sich schmunzelnd wieder der Straße zu. Evane atmete erleichtert aus. Sie hatte keine Ahnung, warum diese Reibereien mit dem Alchemisten sie so nervös machten. Doch nun galt es, all ihre Aufmerksamkeit auf das unscheinbare Gebäude vor ihnen zu richten: das Polizeirevier. Sie hatte nicht den blassen Schimmer, wie sie das Geschehene glaubhaft darbieten sollte. Und die Gesellschaft von Castor machte es sicher nicht leichter. Man würde denken, dass sie unter den Einfluss von irgendwelchen sinnesbetrübenden Substanzen gestanden hatte.
Evane startete einen kläglichen Versuch ihren Mantel glatt zu streichen, richtete ihr Revers und ordnete den Schal. „Meinst du, ich sollte auch einen Knopf mehr schließen?" Evane schenkte Castor einen vernichtenden Blick, welcher mit unschuldiger Miene auf seine freie Brust deutete. Aber Evane schüttelte nur den Kopf. Sie hatte keine Lust sich schon wieder auf eine Diskussion mit Castor einzulassen.
Ruckartig flog die Tür des Polizeipräsidiums auf. Eilig hasteten bewaffnete Beamte auf die Straße. Bildeten Gruppen und schwärmten aus. Evane entdeckte Doyle. Der Arzt warf einen gehetzten Blick zum Kommissar und nickte dann zu einer Seitengasse. Mit etwas Abstand folgten sie ihm. Eine gestreifte Katze putzte seelenruhig ihr Fell, während Doyle nervös auf und ab lief. Einen finsteren Schatten auf das karge Mauerwerk der Häuserwand warf.
„Was ist passiert?", platze es aus Evane heraus.
„Sie haben zwei weitere Leichen gefunden. Eine bereits heute Nacht und die andere gerade eben. Schrecklich." Doyle schüttelte den Kopf. Er schien auch kein Auge zugetan zu haben. „Und dass, obwohl wir Patrouillen geschickt haben. Die erste Frau ... es war meine Straße. Nicht mal eine halbe Stunde nachdem wir sie passiert hatten." Der Arzt schluckte. „Wieder keine Zeugen. Niemand hat etwas gehört. Es sah so aus, als hätte sie sich die Augen ausgekratzt." Evane erschauderte.
„Ist dir etwas Ungewöhnliches aufgefallen?" Castor musterte den Polizisten.
„Etwas Ungewöhnliches?", wiederholte Doyle fassungslos. Verständlich, schließlich war er der Kriminalbeamte.
„Ja, sowas wie ein besonders dichter Nebel. Eine verräterische Stille?"
Bevor Doyle's Sprachlosigkeit in Wut umschlug, erklärte Evane: „Wir haben gestern etwas gesehen. Ich weiß, es klingt verrückt, aber es war grauenhaft. Ein wirklich mächtiger Alchemist muss am Werk sein!"
„Was habt ihr gesehen?" Doyle's gesamte Aufmerksamkeit ruhte auf Evane. Ihr Herz schlug unmerklich schneller und sie spürte wie ihre Wangen sich rosig färbten.
„Es war eine zierliche Frauengestalt. Sie stand in einem dichten Nebelmeer. Und da waren plötzlich diese Kreaturen, wie die Überreste von riesigen Hunden mit elendig langen Zungen." Evane's Stimme brach. Sie schüttelte sich.
„Das Problem ist", ergänzte Castor, „ich habe keine Alchemie gespürt." Doyle musterte Castor, als würde er den Artisten zum ersten Mal richtig sehen.
„Dir ist schon klar, dass ich Polizist bin, oder?", fragte Doyle mit hochgezogener Augenbraue. Evane legte verwundert den Kopf schräg.
„Und?" Castor zuckte mit den Schultern.
„Alchemisten müssen sich beim Stadteintritt melden . Uns liegen aber keinerlei Informationen über einen Neuankömmling mit derartigen Fähigkeiten vor. Der Zirkus hat bei der Antragstellung auf den Stellplatz auch keine Angaben über solche Besonderheiten gemacht." Doyle's Blick huschte kurz zu Evane und wieder zurück zu dem Artisten. Oh Castor, wo ziehst du mich da mit rein?
Verlegen kratzte sich der Schausteller am Kopf. Ein trockenes „Ups" und damit schien die Sache für ihn gegessen. Evane erkannte sofort, dass Doyle heute nicht zum Spaßen aufgelegt war. Vorsichtig schob sie sich zwischen die beiden Männer. „Können wir das nicht vielleicht noch machen? Er ist harmlos."
„Warum verbürgst du dich für ihn?"
„Weil er mich vergangene Nacht gerettet hat. Ohne ihn wäre ich sicher tot."
Doyle's Augen weiteten sich. Er raufte die Haare und begann wieder auf und ab zu laufen. „Heißt das, dass auch Männer das Ziel sind? Bisher sind wir davon ausgegangen, dass es der Serienmörder auf Frauen abgesehen hat. Aber damit schwebt ja wirklich jeder in Gefahr!" Evane spürte Castor's belustigten Blick. Doch es war gewiss nicht der richtige Zeitpunkt um Doyle über ihr kleines Versteckspiel aufzuklären.
„Vielleicht, sind das ja auch zwei unterschiedliche Fälle", mutmaßte Evane. Doyle schien nicht sonderlich überzeugt.
„Jedenfalls, möchte ich meine Dienste großzügigerweise der Polizei gerne zur Verfügung stellen." Der Artist deutete eine leichte Verbeugung an. Evane fragte sich, warum Castor so darauf bedacht war an diesem Fall mitzuwirken, sie nicht außer Acht ließ. Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Die junge Frau hatte das Gefühl, dass sich ein leicht bitterer Geschmack auf ihrer Zunge ausbreitete.
„Wir brauchen keine Hilfe von illegalen Alchemisten", zischte Doyle. Evane konnte seine Reaktion verstehen. Sie wünschte sich auch, dass Castor einfach wieder aus ihrem Leben verschwinden würde. Doch leider war er äußerst nützlich für diesen Fall.
„Okay, ich helfe Castor dabei sich anzumelden und du sammelst Informationen, ja?" Doyle schien nicht zufrieden. „Wir sprechen morgen über den Fall, allein. In Ordnung?" Während Castor Evane verwirrt von der Seite musterte, rieb sich der Arzt das stopplige Kinn. "Und danach lade ich dich zu einem schäumenden Bier ein." In Doyle's Augen flackerte kurz etwas auf, ehe sie sich wieder trübten.
„Schön", seufzte er und rieb sich die Schläfen, "Ich drücke heute ein Auge zu. Ihr meldet Castor an. Meine schroffe Art tut mir leid, es war eine harte Nacht. Jedenfalls sollte ich mich endlich bei dem zweiten Tatort blicken lassen. Sonst geben sie noch eine Fahndung nach mir raus. Komm morgen einfach in mein Büro, dann sprechen wir weiter." Doyle versuchte sich an einem Lächeln, welches seine Augen doch nicht erreichte. Ohne noch etwas zu sagen, kehrte er Evane den Rücken und ließ sie mit dem Alchemisten zurück. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie hatte Doyle noch nie so frustriert erlebt, wäre ihm gerne nach, doch das Gewicht auf ihrer Schulter hielt sie fest. Genervt schaute sie in Castor's Gesicht. Er gähnte, während er seinen rechten Arm auf ihrer Schulter abstützte.
„Ich hätte mit Doyle mitgehen sollen", flüsterte Evane mehr zu sich selbst.
"Hättest du", erwiderte Castor amüsiert.
So, endlich Kapitel 6! Ich freue mich wahnsinnig über die ersten 50 Reads :)
Die Geschichte entwickelt sich langsam. Mir machen die Beschreibungen der Charaktere sehr viel Spaß. Ich hoffe beim Lesen, wart ihr auch ein wenig von Castor genervt, sodass ihr Evane gut verstehen könnt. Seine Mitmenschen auf die Palme zu bringen, ist quasi sein Hobby. ;)
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