Kapitel 23 - Silberner Falke
Evane war wie zu Eis erstarrt. Bisher hatte man in der Dunkelheit der fortwährenden Nacht nur die Hässlichkeit dieser Kreaturen erahnen können. Der Schein der Laternen hatte finstere Schatten über ihre Körper geworfen. Doch nun, in dem beleuchteten Zelt, war jeder Fleischklumpen, jede blutende Wunde oder entstellte Gliedmaße deutlich zu erkennen.
Ihr kam Doyles Umschreibung der ersten Leiche wieder in den Sinn. Als wäre der Kopf einfach explodiert. Damals hatte sie ein leichtes Ziehen verspürt. Ein Phantomschmerz. Doch nun wusste sie, dass der plötzliche Tod ein Akt der Gnade gewesen war.
„Wir müssen etwas tun!" Die Detektivin zog instinktiv ihren Revolver. Sein Gewicht lag schwer in ihrer Hand. Die Kugeln reichen niemals. Während ihr Kopf bereits auf Hochtouren arbeitete, sie die Waffe auf das mittlere Wesen richtete, umschloss Castors Hand den Lauf und drückte ihn runter. Verwirrt wollte Evane protestieren, doch der Ausdruck in dem Gesicht des Artisten ließ ihr Herz stillstehen.
Sein Blick war nach wie vor auf die Loge gerichtet. Wahnsinn. Gier. Wut. All diese Begriffe beschrieben die Emotionen, die sich in den braunen Augen mit den blauen Tupfen spiegelten. Dunkel, wie der Rachen eines Löwen.
Über die Schreie hinweg trällerte eine amüsierte Stimme. „Aber, aber meine werten Damen und Herren. Wir wollen doch nicht in Panik ausbrechen." Während die Besucher von den Holzbänken sprangen, sich vor den versperrten Ausgängen drängten, betrat ein Mann mit Haaren wie Blut die Bühne. Der Nebel umschäumte seine Beine, die in dem silbern glänzenden, anthrazitfarbenen Anzug unendlich lang wirkten. Er warf den Kopf in den Nacken. Breite die Arme aus, als würde er im Sonnenlicht baden. Doch es war der bläuliche Schein, der seine Haut gespenstisch blass wirken ließ.
„Wer ist das?", flüsterte Evane mehr zu sich selbst.
Doch Castor antwortete knurrend: „Ihm verdanke ich die Kugel in meinem Bauch." Wie zur Bestätigung fixierten blaue Augen den Privatbalkon. Die Detektivin drückte die Schultern gerade. Erwiderte ungeniert den Blick. Der gesamte Körper des Fremden war mittlerweile in vibrierende Lichterpartikel gehüllt. Die Farbenflut machte es Evane schwer den Anzugträger zu fixieren. Ein stechender Schmerz in der Schläfe breitete sich aus.
Der rothaarige Mann umkreiste die Gestalten, während er die gelichteten Reihen der Besucher eingehend musterte. Ein stetiges Lächeln auf seinen Lippen. "Wertes Publikum, liebe Gefährten. Es ist mir eine Ehre das neue Zeitalter der Alchemie einzuleiten. Zu lange haben wir zusammengescharrt in Ghettos gelebt, unterdrückt von menschlichen Narren. Verraten von Unseresgleichen."
Der Fremde beobachtete die Wirkung seiner Worte. Die Angst wich Verwunderung. Teilweise vernahm Evane zustimmendes Gemurmel. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Das ergab alles überhaupt keinen Sinn! Warum sollten die Kreaturen Alchemisten jagen, wenn ein Aufstand das eigentliche Ziel war?
"Sie haben uns Jahrhundertelang klein gehalten. Geschwächt und damit ihre Position gefestigt. Doch damit ist nun Schluss. Wir erheben uns mit neuer Macht. Von Sirenford bis in die ganze Welt. Doch wie in jeder Schlacht müssen Opfer gebracht werden. Bedauerliche Umstände. Aber wisset, dass sie einem edlen Ziel dienen."
Der Fremde hielt inne, stützte die Arme in die Hüfte. Legte den Kopf schräg und sah aus, als würde er gleich ein unerzogenes Kind tadeln. „Doch bevor wir in unsere gemeinsame Zukunft schreiten, muss ich mich noch um eine winzige Angelegenheit kümmern." Ein Schauer lief Evanes Rücken hinunter. Jetzt erst bemerkte sie die Nebelschwaden, die wie Fühler ihre Beine berührten. "Lasst uns spielen."
Noch während er die letzte Silbe sprach, hockte Castor bereits auf der Rückenlehne und zog Evane auf die Beine. Strauchelte mit ihr durch den Vorhang. Verwirrt blieben sie stehen. Statt in dem sporadischen Gang im Zelt, standen sie in einem gemauerten Tunnel. Lediglich ein paar Fackeln durchbrachen die Finsternis. Ehe Evane verstand, was hier passierte, zog der Schausteller sie mit sich.
Ihre Schritte hallten zwischen den engen Wänden wider. Das Gemäuer war feucht und von tiefen Rissen durchzogen, während sich dunkle Pfützen auf dem Boden sammelten. Die Luft war modrig und biss in der Nase, während eine unangenehme Bitterkeit die Zunge gefangen hielt. Wo sind wir hier?
In dem Kopf der Detektivin pochte es schmerzhaft. All die Eindrücke prasselten auf sie nieder. Blendende Lichter, schrille Töne. Castors viel zu lauter Atem. Es geht wieder los. Die Nebenwirkungen der Droge zerfraßen ihren Körper.
"Dieser Mistkerl."
"Du kennst ihn?", stieß Evane schwer atmend aus, während sie versuchte, mit Castor Schritt zu halten.
"Sozusagen. Wir haben so unsere Differenzen."
Schlitternd kamen der Alchemist und Detektivin zum Stehen. Vor ihnen baute sich das Muskelpaket mit den vier Armen in einer Weggabelung auf. Castor beschwor die Flammen. Doch ehe sie den grotesken Mann erreichten, formten unzählige funkelnde Lichter eine undurchdringbare Wand. Der Artist schnaubte verächtlich, wodurch kleine Rauchsäulen aus seiner Nase hervorstiegen.
Während der Vierarmige mit einem gigantischen Hammer ausholte, zog Evane Castor in einen abzweigenden Gang. Ihr Gegner war zwar groß, aber auch schwerfällig. Hoffte sie zumindest. In dem Labyrinth aus Wegen und Abzweigungen hatte die junge Frau keine Orientierung. Doch irgendwie schien dieser Ort noch immer das Zirkuszelt zu sein, denn der Geruch nach Zuckerwatte und kandierten Äpfeln schwoll an.
"Definiere Differenzen", forderte Evane den Alchemisten auf, um einen klaren Kopf zu bekommen.
"Ein Auf und Ab zwischen Ignoranz und dem Wunsch eines qualvollen Todes."
"Was hast du angestellt?"
"Warum muss ausgerechnet ich daran schuld sein?"
"Castor."
"Schön, ich habe ihm vielleicht Mal ein Mädchen ausgespannt. Aber dafür hat er mich damals mit einem Messer fast durch die ganze Stadt gejagt."
"Was?" Evane war vollkommen verwirrt.
"Ich hätte vielleicht gleich damit anfangen soll: Dir ist ja sicher sein gutes Aussehen nicht entgangen. Liegt wohl in der Familie."
"Castor!"
"Ja, schön, er ist mein Bruder."
Evane blieb abrupt stehen. Starrte den Alchemisten entgeistert an. "Dein Bruder?", wiederholte sie schockiert. Sie hatte das Gefühl, dass auch ihr Verfolger über diese Antwort stolperte.
"Ja, ich habe schon vermutet, dass er da irgendwie mit drinsteckt. Der Nebel trägt seine Handschrift. Aber ich wollte nicht die Pferde scheu machen, ehe ich nichts Genaueres weiß."
Die Detektivin las einen herumliegenden Kieselstein auf und feuerte ihn gegen den Rücken des Artisten.
"Ich kann es nicht fassen, dass du mir das verschwiegen hast!"
"Wir waren wohl beide nicht ganz ehrlich miteinander an dem Tag." Auf Evanes Stirn pochte eine Ader. Castor grinste sie spitzbübisch an. Irgendwie musste er sie ja davon ablenken, dass sie geradewegs umzingelt wurden. Der Alchemist suchte nach einem Ausweg. Er kannte seinen Bruder. Wusste, dass er seinen Opfern immer ein Hintertürchen offenließ. Man musste es nur finden.
"Ach Cassie. So macht das doch gar keinen Spaß", trällerte die bekannte Stimme. Der Rotschopf tauchte wie aus dem Nichts in dem kleinen Raum mit den unzähligen Abzweigungen auf. Unzählige Abzweigungen aus denen traubenweise seine Anhänger strömten. Anhänger, ausgestattet mit Mr. Crowlings Revolvern.
"Du brauchst nur diese Ketten zu sprengen, Daniar", antwortete der Artist.
"Aber dann läufst du doch nur wieder weg und ich weiß dich gerne sicher in deiner Zelle." Evane hatte keine Ahnung, worüber die Alchemisten sprachen. Doch sie wusste genau, dass hinter den lächelnden Fassaden der unbändige Wunsch nach Blutvergießen lauerte. Das Blut des eigenen Bruders. Der Schauder ließ sie erzittern.
Doch vielleicht war genau diese Besessenheit ihr Glück. Ohne weiter darüber nachzudenken. Ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne Emotion. Der Knall schallte ohrenbetäubend von allen Wänden wider, während Blut aus dem hässlichen, schwarzen Loch zwischen den Brauen des Fremden sickerte. Castors Bruder mit seinen weit aufgerissenen Augen leblos zusammensackte. Die kleine Rauchfahne aus dem Lauf des Revolvers empor stieg.
Für den Bruchteil einer Sekunde stand die Zeit still. In Castors Gesicht wechselten Unglaube und Schock. Männer stürzten zu dem reglosen Körper. "Hol uns hier raus!", schrie Evane. Es konnte sich nur um Minuten handeln, ehe der Rothaarige sich von der Kugel erholen würde. Denn eines war ihr mittlerweile klar. Diese Familie war hartnäckiger als Unkraut.
Castor kam endlich zu sich. Ein Atemzug und deckenhohe Flammen loderten in einem Kreis wie ein Schutzschild um sie herum. Aber würde das Feuer die Kugeln abhalten können? Der Artist kramte hektisch nach einem vergilbten Stück Papier unter seiner Jacke. "Nimm meine Hand." Evane tat wie ihr geheißen und beobachte verblüfft, wie sich ein goldener Schimmer ausgehend vom Papier durch die Rillen zwischen den Steinen ausbreitete. Der Boden bebte. Die Detektivin verlor das Gleichgewicht. Fiel auf die Knie. "Nicht loslassen!", brüllte Castor über ein dumpfes Dröhnen. Ein Schrei löste sich aus Evanes Kehle, als der Boden aufbrach. Sie im freien Fall die Dunkelheit umfing.
So, ich melde mich zurück aus der Versenkung. Ich kann leider noch nicht versprechen, dass ich wieder regelmäßig bis Dezember hochlade, da ich mich aktuell auf den Nano und das entsprechende Schreibprojekt vorbereite. Aber ich versuche parallel so gut es geht Seelendieb weiter upzudaten. Die Story möchte ich dieses Jahr definitiv noch beenden ;) Also ganz zur Not kommen ab Dezember wieder 2 Kapitel pro Woche.
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