Kapitel 22 - Vorhang auf
Evane genoss im Halbschatten des Trubels eine Zigarette. Beobachtete aufmerksam den Eingangsbereich ohne zu neugierig zu wirken. Sie nahm den letzten Zug und drückte den glühenden Stummel an einem Laternenpfahl aus. Mit selbstsicheren Schritten bahnte sie sich einen Weg durch die schaulustigen Zirkusgäste. All in.
Ohne zu zögern griff Evane nach dem kleinen Umschlag mit dem Siegel. Hielt es sporadisch dem Einlasser vor die Nase und wandte sich bereits zum Gehen. „Entschuldigen Sie Sir, wir benötigen Ihre Einladung, um Sie zu Ihrem Platz geleiten zu können."
Evane warf dem Spargeltarzan einen vernichtenden Blick zu. „Wie bitte?" Ihre Stimme glich einem drohenden Brodeln. Augenblicklich wich dem überrumpelten Rotschopf die Farbe aus dem Gesicht. Er richtete mit zittrigen Fingern den Sitz seiner Fliege, ehe er erneut nach der Einladung fragte.
Ohne mit der Wimper zu zucken starrte Evane den armen Mann in Grund und Boden. Befahl: „Bringen Sie mir Ihren Vorgesetzten." Er hob beschwichtigend die Hände.
„Das wird doch sicher nicht nötig sein."
Evane fiel ihm ins Wort: „Ob etwas nötig ist oder nicht, entscheide ich. Das ist so erniedrigend. Wo ist Walker? Ich bin noch nie so herabwürdigend behandelt worden."
Ein Mann mit schwarzem Zylinder – offenbar der Zirkusdirektor – trat in Evanes Sichtfeld. Er hatte dieses schmierige Grinsen aufgesetzt, welches die Leute gerne nutzten, wenn sie mit überdramatisierenden Hochgeborenen sprachen. „Entschuldigen Sie Sir. Hier liegt offenbar ein Missverständnis vor. Stone, mein Name. Ich bin Inhaber dieses Geschäfts. Ich führe Sie selbstverständlich zu Ihrer Privatloge."
Evane setzte ein zufriedenes Gesicht auf, nicht ohne vorher dem armen Einlasser ein triumphierendes Grinsen zuzuwerfen. Dann folgte sie dem Direktor in das Zelt. Die billigen Papiergirlanden waren kitschigen Kronleuchtern gewichen. Springbrunnen plätscherten vor sich hin, während leichtbekleidete Damen mit Federn statt Wimpern Champagner reichten.
Die Detektivin nahm ein Glas, während Mr. Stone sie bereits zu einer abgesperrten Treppe führte. Sie hinauf begleitete. Die Schritte wurden von einem protzigen, roten Teppich gedämpft. Eine weitere Dame in einem perlenverzierten Kleid zog einen Vorhang beiseite und Evane nahm wie selbstverständlich auf dem samtenen Sofa Platz. Rief: „Davon nehme ich eine Flasche." Und mit Blick auf die Angestellte: „Und davon vielleicht auch gleich zwei." Das junge Ding errötete. Flüchtete, während sich der Direktor in vollkommener Höflichkeit empfahl.
Evane zählte bis drei, ehe sie die Maskerade fallen ließ. Den kleinen Balkon nach irgendwelchen Ungewöhnlichkeiten absuchte. Gleichzeitig unterdrückte sie das triumphale Gefühl jubeln zu müssen. Sie hatte es geschafft! All die unzähligen Abende in den lausigen, angeblich besseren Kreisen hatten sich doch noch für etwas Nützliches erwiesen. Ach könnte Rose sie doch sehen! Sie wäre so stolz gewesen.
Gut gelaunt nahm Evane wieder auf dem Zweisitzer Platz. Von hier oben aus hatte sie einen hervorragenden Blick auf die Bühne und die unteren Gäste, ohne selbst allzu gut beobachtet werden zu können. Auch die anderen Logen waren dank den Vorhängen verhüllt. Ein Ärgernis, aber sie würde sich schon etwas einfallen lassen.
Vielleicht passiert heute gar nichts. Vielleicht ist es wirklich einfach nur eine Showeinlage für Partner von Walker. Doch der Blick nach unten zu den einfachen Holzbänken und den aufgeregten Bürgern Sirenfords trübte Evanes Stimmung. Sie alle umgab ein buntes Lichtermeer. Alchemisten.
Die Detektivin war vorbereitet, als die Bedienstete den Champagner brachte und sich zügig zurückzog. Kluges Ding, dachte Evane. Ihre Gedanken wurden von dem Einsetzen eines Streichquartetts unterbrochen. Die alchemistischen Lampen dimmten das Licht. Nur ein goldener Strahl war auf die Mitte der Bühne gerichtet. Dort stand Mr. Stone.
"Werte Gäste, ich begrüße Sie herzlichst zur größten Attraktion in ganz Sirenford. Lassen Sie sich verzaubern von fliegenden Tänzern, gefährlichen Bestien und grotesken Figuren. Genießen Sie diese einmalige Show. Jubeln Sie, schreien Sie!" Eine kurze Pause. "Geben Sie sich der Phantasie hin und fangen Sie an zu träumen."
Die Show begann mit goldenen Löwen, die lächerliche Kunststücke vollbrachten. Die Detektivin beobachtete wie auch schon bei den vorherigen Vorstellungen die dunklen Ecken. Versuchte etwas anderes Ungewöhnliches zu entdecken, als die Verrenkungskünste der Akrobatin. Nichts.
Frustriert ließ Evane sich tiefer in die Kissen sinken. War sie in einer Sackgasse gelandet? War es ein Fehler hierher zu kommen? Wusste Walker, dass sie hier war? Ich komme dich später holen, mein Engel. Die Worte wogen schwer in ihrer Mantelinnentasche.
Dunkelheit. Evane unterdrückte einen Aufschrei, als Finsternis sie verschlang. Ihre Finger tasteten nach dem Waffenholster. Ihre Haut kribbelte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Funkelnde Lichter zündeten und das Zelt glich einem Farbenmeer. Und im Zentrum stand der unverschämt gutaussehende Alchemist, dessen goldene Augen die junge Frau an ihren Platz fesselten. Überrascht und zornig zugleich. Castor beschwor die Flammen und das Publikum jauchzte entzückt.
Verdammte Scheiße! Das Herz der Detektivin pochte wild in ihrer Brust. Was macht er denn hier? Sie hätte sich gerne der Illusion hingegeben, dass er nichts von ihrer Nacht-und-Nebel-Aktion ahnte, doch es war unbestreitbar, dass sein Blick nach wie vor auf ihr ruhte.
Jonglierend bewegte Castor sich über die Bühne. Acht Säbel ließ er über seinem Kopf kreisen. Mit einer unglaublichen Präzision fing er einen nach dem anderen wieder auf. Ein Wimpernschlag und sie verwandelten sich in einen tobenden Feuerdrachen. Das schlangenartige Echsenwesen wandte sich über den Köpfen der Zuschauer, die ihre Hände nach der Alchemie reckten.
Der Drache flog zurück zur Bühne und explodierte in einem goldenen Funkenregen. Castor vollführte einen Salto, schlug ein einhändiges Rad, während Flammen ihn ringförmig umzüngelten. Der Artist kam zum Stehen. Ging in die Hocke und ein Feuertiger sprang über seinen Rücken nach vorn. Lief auf die Zuschauer zu. Spie Funken, die sich in leuchtende Falter verwandelten. Die Großkatze löste sich auf und zurück blieb der Schausteller, gehüllt in einen bunten Lichterumhang, während die Schmetterlinge goldenen Staub auf den Rängen verteilten.
Mit tosendem Applaus wurde Castor von den Besuchern verabschiedet. Der Direktor betrat die Bühne und verkündete, dass die Show nach einer kurzen Pause weitergehen würde. Evane war hin und her gerissen. Sie wusste, dass es hier kein Entkommen geben würde, doch sich einfach kampflos Castors Unmut auszusetzen widersprach ihrem Innersten. Noch während sie am Abwägen war, spürte sie einen warmen Atem in ihrem Nacken.
Evane schluckte. Versuchte ein möglichst schuldbewusstes Gesicht aufzusetzen, während sie über die Schulter blickte. Der Alchemist hatte beide Hände auf der Rückenlehne des Sofas abgestützt, beugte sich nach vorne und schien die junge Frau mit seinem stechenden Blick förmlich zu durchbohren.
"Was machst du hier?", stieß Castor zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Evane legte den Kopf leicht schräg, überlegte hin und her, ehe sie seufzte.
"Es hätte dir klar sein müssen, dass ich mich nicht verkrieche."
"Ach, dann ist es also mein Fehler, dass ich so leichtgläubig war, dir die Zerbrechlichkeit abzunehmen?"
"So würde ich das vielleicht nicht formulieren." Castor schüttelte ungläubig den Kopf.
"Das war total manipulierend!"
"Sollte es ja auch."
"Aber warum?"
"Warum wohl? So langsam solltest du wissen, dass ich nicht jeder x-beliebigen Person blindlings vertraue."
"X-beliebige Person?", rief Castor aus. Evane wurde sichtbar kleiner.
"So ... so war das nichts gemeint."
"Nein, ist schon gut. Ich verstehe. Ein wahrer Geniestreich. Besonders das mit dem Kuss. Man bin ich naiv."
"Castor, bitte. Du bekommst das in den falschen Hals."
"Nein, Evane. Ich sehe jetzt alles vollkommen klar. Vielen Dank dafür." Das Lächeln im Gesicht des Alchemisten war so falsch wie der Pelz an seiner Jacke. Die junge Frau biss sich auf die Lippe und fühlte sich verdammt hilflos.
Castor schwang sich neben sie auf das Polstermöbelstück und angelte nach dem unberührten Champagner. "Du teilst sicher." Evane nickte stumm. Der Artist ließ den Korken knallen und goss sich großzügig ein Glas ein, während die Detektivin sich nervös am Unterarm kratzte. Die Lücke zwischen den beiden viel zu klein und gleichzeitig unüberwindbar empfand. Castor kippte sich vollständig den Inhalt des Glases hinter und schenkte sofort nach. Dann fixierte er die junge Frau wieder mit seinem enttäuschten Blick.
"Weißt du, was mich an der ganzen Sache am meisten ärgert?" Evane schüttelte den Kopf. "Dass ich nicht weiß, was ich von deiner jetzigen Reaktion halten soll. Spielst du mir immer noch was vor oder tut es dir wirklich leid? Die Evane, die ich kennengelernt habe, hätte verächtlich geschnaubt. Gesagt, dass ich froh sein kann, dass sie mir keine Kugel verpasst hat, nachdem ich ihr meine Informationen mitgeteilt habe. Hätte höchstens verwundert die Stirn über meine Empörung gerunzelt."
"Es tut mir wirklich leid. Ich hätte dir sagen müssen, dass ich nicht still herumsitzen und warten kann bis etwas passiert. Aber - wenn es dich beruhigt – mir geht es wirklich schlecht. Das war nicht gespielt. Zumindest nicht in dem Ausmaß, wie du vermutest."
Der Artist stieß frustriert die Luft aus und trank das zweite Glas leer. Lümmelte sich auf das Sofa, ohne daran zu denken, dass seine Körperschminke unter Umständen die Polster ruinieren könnte. Wiederholte leise mit verstellter Stimme: "Wenn es dich beruhigt." Lachte und schüttelte verständnislos den Kopf. Evane fühlte sich beklommen. Verschränkte die Arme. In ihrem Blickwinkel wurde es unangenehm dunkel.
"Castor?" Neben ihr, umringt von Schatten, saß wieder der halbwegs passable junge Mann, den der Artist abgeben könnte, würde er sich nicht immer so schlampig kleiden und sein markantes Gesicht mit bunter Schminke verunstalten. Mit einem Finger am Mund nickte er in Richtung Bühne. Die Laternen tauchten die Arena in ein unheimliches Licht. Nebel kroch über den Boden. Aus dem schwarzen Loch, das in der ersten Hälfte noch mit bunten Girlanden wie der Eingang zu einer phantastischen Welt gewirkt hatte, taumelten drei Gestalten auf die Bühne.
Und während sich die ersten Schreie aus den unteren Rängen lösten, griff Evane instinktiv nach Castors Hand.
Meine Cliffhanger werden auch immer gemeiner, oder? XD Spaß beiseite, ich hoffe, dass das neue Kapitel euch gefällt und freue mich über eure Kommentare :)
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