Kapitel 17 - Zwischen Eimern und Tassen
Mit hochgeklapptem Kragen schlurfte Evane durch die verlassenen Straßen. Das spärliche Licht ihrer Laterne flackerte. Die Nässe kroch unter den schweren Wollstoff und in ihre Stiefel. Sie brauchte dringend neue. Der dichte Nebel dämpfte das Klackern ihrer Absätze über den Pflasterstein. In dem Kopf der jungen Frau pochte ein stechender Schmerz und ihre Augen zeigten ein verzerrtes Bild der Stadt.
Sie hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Beunruhigend beruhigend wirkte das Fingerspiel mit dem kleinen Samtbeutel, der die Kapseln mit der goldenen Flüssigkeit beherbergte. Evane schluckte. Die Worte des Alchemisten brannten in ihren Gedanken, ließ ihr kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen.
Die Vorahnung drohte sie in den Wahnsinn zu treiben. Und dann waren da noch die Schuldgefühle gegenüber ihrem Vater. Er musste krank vor Sorge sein. Unter anderen Umständen hätte die Polizei die ganze Stadt nach ihr durchkämmt, doch in Anbetracht der sich häufenden Vermisstenmeldungen war er sicher alleine aufgebrochen. Hoffentlich hatte er nicht Mr. Crowling um Hilfe gebeten!
„Kannst du endlich Mal still sein!", zischte Evane, während sie sich genervt die Schläfen massierte. Castor tänzelte um sie herum. Pfiff eine schiefe Melodie. Doch am schlimmsten war das selbstgefällige Grinsen in seinem Gesicht. Und der Artist war offensichtlich nicht gewillt ihren Wunsch in die Tat umzusetzen.
Stattdessen kam er dichter, schlenderte mit hinter dem Kopf verschränkten Händen neben Evane her. Trällerte direkt neben ihrem Ohr. Fast schon intuitiv schlug die Detektivin nach dem Schausteller. Doch er wich reflexartig aus. Mit gespielt entsetztem Gesicht rief er aus: „Hast du gerade etwa auf die Schusswunde gezielt?"
Hatte sie. Und sie fühlte sich dafür elend, doch ihr stolz befahl das Kinn zu recken.
„Und wenn es so wäre?"
Theatralisch drückte Castor den Handrücken gegen die Stirn und mimte eine in Ohnmacht fallende Frau. „Oh, dieser Schmerz." Evane schüttelte genervt den Kopf. Großer Fehler. Sofort tanzten unzählige Sterne und sie kam ins Wanken. Instinktiv war der Artist zur Stelle. „Vorsichtig" flüsterte er sanft. Strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
Evane drückte Castor von sich. Erbrach sich die Seele aus dem Leib. Castor klopfte ihr mit gemischten Gefühlen auf den Rücken. Presste die Lippen fest aufeinander. Als Evane sich beruhigt hatte, wagte sie es nicht dem Artisten ins Gesicht zu blicken. Zum Glück verdeckte der Nebel ihre Schande.
Schweigend kämpften sie sich durch die Straßen. Der Weg fühlte sich unendlich lang an. Irgendwann standen sie endlich vor der Tür zur Konditorei. Aus den Fenstern drang ein warmes Licht. Evane schluckte. In diesem Moment wurde ihr wieder das ganze Ausmaß bewusst. Sie war für mehrere Tage während einer teuflischen Mordserie in absoluter Finsternis verschwunden. Sah aus, als hätte sie wie eine Hure gedient. Und stank nach Rauch, Alkohol und Erbrochenem. Die Erklärung, dass sie sozusagen entführt wurde, machte die Sache nicht besser.
Die junge Frau seufzte, als sie die Tür aufdrückte und eine kleine Glocke ihr Kommen verkündete. Hastige Schritte rannten die Kellertreppe empor. „Habt ihr etwas gefunden?", hallten die Worte ihres Vaters. Er Bog um die Ecke. Erstarrte. Seine Miene schwankte zwischen Erleichterung und Wut. Evane biss sich auf die Lippe. Flüsterte: „Es tut mir leid." Tränen rannen über die Wangen von Mr. Brend, als er auf sie zueilte und seine Tochter fest an sich drückte.
„Vorsicht!", stieß Evane hervor. Erschrocken ließ ihr Vater von ihr ab. Sie drehte sich weg. Vor ihr hielt Castor einen Eimer, den die junge Frau sofort entweihte. Castor nickte dem entsetzten Mr. Brend mit einem gequälten Lächeln zu. „Das passiert wohl noch ein paar Mal." Evanes wütender Blick bohrte sich in den Alchemisten. Wie hatte sie Castor vergessen können? Wieso war er überhaupt mit reingekommen? Sie wäre gerne im Erdboden versunken. Hätte sich gerne in ihrem weichen Bett verkrochen. Doch nun musste sie ihrem Vater auch noch erklären, warum ein Gaukler seine Tochter nach Hause brachte und vor allem – warum seine Tochter dessen Hose trug. Denn das grüne Ungetüm mit den bunten Kreisen und goldenen Verzierungen war offensichtlich nicht ihre eigene.
„Mr. Brend", begann Castor. Evane wollte ihn unterbrechen, doch ihr Magen ließ das nicht zu. „Es ist mir eine Ehre euch kennenlernen zu dürfen!" Natürlich, während du den Eimer hältst, in den sich seine Tochter gerade erbricht! „Ich unterstütze Ihre Tochter bei der Ermittlung in der Mordserie, jedoch kam es zu Komplikationen." Komplikationen, welch passende Erklärung.
Mr. Brend schien wie versteinert. „Meiner Tochter", wiederholte er. Erst jetzt wurde Evane die Tragweite dieser Aussage bewusst. Niemand, außer Rose und ihrem Vater, wusste von ihrer Doppelidentität. Welches Bild warf dies auf ihr Verhältnis zu dem Artisten in den Augen ihres Vaters?
„Ich bin ein Alchemist", erklärte Castor, der offenbar langsam verstand. Mr. Brend hingegen sah aus, als hätte man ihm gerade offenbart, dass seine Tochter kleine Welpen zum Frühstück verspeiste.
„Ich kann das erklären", stöhnte Evane. Ihr Vater nickte bloß. Marschierte um die Verkaufstheke und kam mit einem Tablett, drei Tassen und einer Kanne Tee wieder. Zu Evanes Schande holte er zusätzlich einen weiteren Eimer, während Castor bereits die Tassen füllte.
Schweigend rückte Mr. Brend seinen Stuhl zurecht und betrachtete eingehend das Gesicht des Schaustellers und das seiner Tochter. Als er an ihrem Hals einen verdächtigen Fleck entdeckte, wandte er sich ab und starrte auf den bräunlichen Inhalt seiner Tasse. Evane schluckte. Und dann begann sie zu erzählen. Mr. Brend hörte geduldig zu. Die Miene eines kummervollen Vaters war in sein Gesicht gemeißelt. Als die junge Frau geendet hatte, stand der Konditormeister auf und kniete sich vor seine Tochter. Schloss ihre zarten Hände in seine Bärenpranken. Evanes Schultern bebten, als die Tränen kamen.
Die Detektivin hatte keine Ahnung, warum sie in letzter Zeit so nah am Wasser gebaut war. Das Gefühlschaos nahm sie mit. Und die Vorstellung von dem, was passiert war und was mit ihr hätte passieren können – auch wenn es nicht die erste Gefangenschaft war und auch sicherlich nicht die letzte bleiben würde, nicht die erste Berührung, nicht die letzte – daran gewöhnte man sich nie. Sie konnte ihn noch immer an sich riechen. Walker.
Castor blieb unten, als Mr. Brend seiner Tochter oben das Wasser erwärmte. Vor der Tür wartete, wie es Evane am liebsten war. Der Alchemist starrte auf die leere Tasse. Beäugte die bräunliche Verfärbung, in denen manch Scharlatan eine Zukunft ahnte. In seinen Fingern kitzelte seine Macht. In ihm brodelte die Wut. Walker würde bezahlen. Walker würde ihr nie wieder wehtun. Niemand würde das.
Das Licht flackerte und dann zersprangen die Laternen. Erschrocken befahl Castor den Flammen zu erlöschen. Mr. Brend eilte die Treppenstufen hinab. Castor beschwor das Öl in den unberührten Eimer. Setzte das Glas wieder zusammen und beförderte das Öl zurück. Wandte sich zu Mr. Brend um. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe die Beherrschung verloren." Der Konditor betrachtete den jungen Mann. Finsternis schien nach seinem Körper zu greifen. Seine Augen funkelten golden. Ein Wimpernschlag, die Laternen brannten wieder. Und die Schatten waren verschwunden.
„Wir tolerieren hier keine Alchemie."
Das Knarzen der Holztür ließ die beiden Männer aufhorchen. Evane kam auf leisen Sohlen die Treppen hinunter. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid. Die nassen Haare hingen zu einer Seite über ihre Schulter. „Vater, ich muss mit Castor unter vier Augen sprechen." Widerwillig trat Mr. Brend zur Seite.
„Sollen wir die Tür auflassen?", fragte der Artist beiläufig. Mr. Brend presste die Lippen fest aufeinander. Er hätte dem jungen Mann gerne die Leviten gelesen, doch wusste, nein hoffte er auf das Ehrgefühl seiner Tochter.
Castor huschte an Evane vorbei in ihr Zimmer. Die Detektivin versuchte sich an einem Lächeln für ihren Vater. Dann schloss sie die Tür. Mr. Brend stieß den angehaltenen Atem aus, rieb sich über das Gesicht und machte sich daran, das Geschirr von dem Tisch zu räumen.
In dem Schlafgemach der jungen Frau brannte lediglich eine Kerze. Die tanzende Flamme warf eher tiefe Schatten, statt dem Raum Licht zu spenden. „Musstest du ihn auch noch provozieren?" Evanes Stimme war leise. Ihr gerötetes Gesicht zeugte von den Tränen. „Entschuldige, das war unangebracht", entgegnete Castor. Er schämte sich für seine Impulsivität.
Evane ließ sich auf ihr Bett fallen. Der Alchemist zog einen Stuhl heran. Er ahnte, worüber sie mit ihm sprechen wollte. Und er wusste, dass sie keine Ausreden akzeptieren würde. Doch das war es nicht, was ihn beunruhigte. Es war die Veränderung der jungen Frau. Ihre Finger zitterten nicht länger. Ihre Augen wanderten nicht mehr ruhelos umher. Er glaubte nicht an eine Wunderheilung, nicht daran, dass sie sich bloß einmal hatte richtig ausheulen müssen.
Sein Blick glitt zu dem Mantel, zu der Tasche, in der sich das Säckchen mit den Kapseln befand. „Als Beweismittel", hatte Evane gemeint, denn Castor hatte sie sofort verbrennen wollen. Doch nun meinte er in den Augen der Detektivin einen goldenen Schimmer zu erahnen.
Evane schluckte. Strich sich die Haare zurück. Zog die Beine nach oben und verschränkte sie zum Schneidersitz. Neben ihr auf dem Bett lag ein Notizbuch und ein Füllfederhalter. Nun ging es los. Und der Alchemist fragte sich unweigerlich, ob er nach diesem Gespräch noch jemals diese Frau berühren dürfte.
„Wer bist du? Was machst du hier? Und was weißt du über Walker und den Fall wirklich?"
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