Kapitel 10 - Stumme Drohung
Der flackernde Schein einer Öllampe warf tiefe Schatten in das verkrampfte Gesicht von Evane. Ihre Finger zitterten, während sie die Zigarette an ihre Lippen führte. Immer wieder wanderte ihr Blick zu den trüben Augen ihrer Freundin. Es fiel Evane schwer Rose so zu sehen, doch hätte sie die Tänzerin in Unwissenheit über die dämonischen Wesen aus dem Nebel gelassen, hätte dies ihren sicheren Tod bedeuten können.
Castor lehnte nachdenklich mit verschränkten Armen vor der Brust an der Wand. Die Gruppe hatte sich eine abgelegene Ecke in dem improvisierten Großraumbüro der ehemaligen Eingangshalle des Präsidiums gesucht. Zwei metallene Treppen führten in die obere Etage, die sich am Rande der Halle erstreckte. An der Kopfseite thronte das Büro des Polizeichefs.
Normalerweise befand sich im Erdgeschoss lediglich die Anmeldung, ein paar Arbeitsplätze für bürokratische Angelegenheiten und durch die eingelassenen Deckenfenster fiel ein warmer Lichterschein. Doch nun hatte man die Büros der Polizisten in Verhörzimmer umfunktioniert und die Schreibtische nach unten getragen, um Herr über die Masse an Menschen und Vermisstenanzeigen zu werden. Die entzündeten Öllampen scheiterten kläglich daran, die Dunkelheit aus ihrer Mitte zu vertreiben. Und so erinnerte die Szenerie mit den verzweifelten Gesichtern und der beklemmenden Stille an eines der alten Kriegsgemälde.
"Lakerfield", wiederholte Evane die Aussage der Tänzerin, "Das ist ein ziemlich edles Viertel." Rose nickte. Ihre grazilen und doch starken Finger kneteten den steifen Stoff der Uniformjacke. "Und wann soll der Gastgeber zu dem Verschwinden der beiden Frauen befragt werden?"
"Dazu konnten sie keine Auskunft geben. Ich hatte gehofft, dass du vielleicht dem Mann einen Besuch abstatten könntest. Ich habe ein wirklich ungutes Gefühl bei der Sache." Evane nickte, sah sich kurz um und fragte einen vorbeieilenden Kriminalbeamten nach einem Tintenschreiber. Sie zog ihren Ärmel zurück und begann, sich die Adresse auf dem Unterarm zu notieren.
"Ein Zettel wäre wohl zu naheliegend gewesen", kommentierte Castor ihr Verhalten mit hochgezogener Augenbraue.
"Den kann man verlieren. Bei der eigenen Haut wird es dann schon schwieriger."
"Ist aber auch nicht unmöglich." Seine weißen Zähne blitzten in dem breiten Grinsen auf. Evane verdrehte die Augen, während Rose gluckste. Ihre Freundin mit einem viel zu amüsierten Lächeln musterte.
"Ich habe ihn nur zufällig draußen getroffen und mich bereit erklärt ihn rein zu bringen." Im Anbetracht dieser Lüge runzelte Castor die Stirn.
"Mein Täubchen, sind dir unsere gemeinsamen Nächte unangenehm deiner Freundin gegenüber?"
"Täubchen?", wiederholte Evane zischend.
"Wirklich, das ist der Punkt, der dich an seiner Frage stört?" Rose schüttelte den Kopf. "Ich glaube, du hast mir heute noch einiges zu erzählen." Evane hob abwehrend die Hände.
"Du verstehst das vollkommen falsch!"
"Tust du nicht", betonte Castor an Rose gewandt.
"Castor!", blaffte Evane, während der Alchemist und die Tänzerin in schallendes Gelächter ausbrachen.
"Was ist das hier für ein gackernder Hühnerstall?", donnerte der tiefe Bariton des Polizeichefs. Er stand hoch oben auf dem eisernen Balkon vor seinem Büro. Doch es war nicht sein griesgrämiger Blick, die große Narbe in seinem Gesicht oder die imposante Gestalt, die Evane zusammenzucken ließ. Es war der Mann, der wie ein Schatten hinter Mr. Graham aufragte. Walker.
Angesichts der Totenstille in der Halle schien Mr. Graham zufrieden und wandte sich wieder seinem Gast zu. Seelenruhig reichte der Alchemist dem Kommissar die Hand. Auf seinen Lippen lag das übliche arrogante Lächeln. "Alles in Ordnung?", fragte Rose, die offenbar Evane's Anspannung bemerkt hatte. "Hm-mh."
"Wer ist das?"
"Jemand, der Ärger bedeutet."
"So gefährlich sieht der gar nicht aus", mischte sich Castor in das Gespräch ein.
"Da irrst du dich gewaltig. Ich habe keine Ahnung, was er will. Aber er ist aktuell meine einzige Spur um herauszufinden, was in dieser Stadt vor sich geht." Der Artist musterte Evane eindringlich. Sie mochte es nicht zugeben, aber Walker löste in ihr ein beklemmendes Gefühl aus. 'Gib dich nicht allzu oft mit diesem Abschaum ab. Ich rieche den Gestank seiner Möchtegern-Alchemie an dir.' Castor. Evane rückte von dem Alchemisten ab, während ihr Herz immer wilder schlug.
Elegant schlenderte Walker die Treppe hinab. Evane wäre am liebsten mit der Wand verschmolzen. Sie hielt die Luft an, als die goldenen Augen sich auf sie richteten. Sich die Lippen in dem schönen Gesicht zu einem trügerischen Lächeln verzogen. Mit langen Schritten steuerte Walker direkt auf die Truppe zu. Evane hatte das Gefühl zu ersticken. Eine warme Hand nahm ihr die Zigarette ab. Verblüfft beobachtete Evane wie Castor sich das glühende Genussmittel an die Lippen führte. Er wird doch nicht? Das Gesicht des Schaustellers wirkte vollkommen gleichgültig.
"Mr. Brend, was für eine Freude Sie so schnell wiederzusehen." Walker's tiefe Stimme ließ Evane's Blut gefrieren. "Mr. Archer, Ms. Glassburry." Woher kennt er ihre Namen? Eine stinkende Rauchwolke direkt im Gesicht des Alchemisten unterbrach dessen Ansprache. Evane fuhr zusammen. "Castor!" Erschrocken darüber, ihr eigenes trotziges Verhalten in dem Artisten wiederzuentdecken und gleichzeitig beunruhigt, was sein Handeln für Auswirkungen haben könnte, versuchte sie eine Regung in Walker's Gesicht zu erkennen.
Die Augen des Alchemisten blitzten. Er reichte dem Schausteller die Hand. Evane meinte, dass schwarze Schatten die Finger umtanzten, doch der Artist griff beherzt zu. Ließ sich nicht beeindrucken. Auch davon nicht, dass Walker ihn fast um einen Kopf überragte. Nahm einen weiteren Zug von der Zigarette und blies den Rauch leicht seitlich an dessen Gesicht vorbei.
"Ich mag es nicht, wenn jemand meinen Namen kennt, ich aber nicht seinen."
"Ethan Walker." Evane hatte das Gefühl, dass die Luft förmlich brannte.
"Sehr erfreut Mr. Walker."
"Die Freude ist ganz meinerseits."
"Ja, wir freuen uns alle sehr", unterbrach Rose den Starrwettbewerb der Alphamännchen. Evane meinte ein leichtes Verblüffen in Walker's Gesicht zu erahnen. "Mr. Walker, was führt Sie zu Mr. Graham?"
"Geschäftliches." Er hatte wieder die Maske eines charmanten Gentlemans aufgesetzt, als er sich Rose zuwandte.
"Faszinierend. Sie müssen uns nun allerdings entschuldigen. Mr. Graham hat sich bereit erklärt, sich höchstpersönlich um unser Anliegen zu kümmern und wir wollen Thomas, ich meine Mr. Graham, doch nicht warten lassen." Damit warf Rose dem Alchemisten ein entwaffnendes Lächeln zu. Zog Castor und Evane mit sich und steuerte die Treppe an. "Mr. Graham!" Der Polizeichef, der mitten in Gespräch vertieft war, drehte sich stirnrunzelnd nach der Stimme um. Evane meinte, dass beim Anblick der Tänzerin die Wangen des Mannes eine leicht rosige Färbung annahmen.
"Er ist weg", flüsterte Castor. Evane atmete aus, obgleich sie unschlüssig darüber war, ob sie erleichtert sein sollte. Ihre Freunde hatten sich gerade mitten in die Schussbahn begeben. Doch die beiden schienen sich nicht einmal ansatzweise von dem Alchemisten bedroht zu fühlen.
"Gut, was machen wir jetzt?", wollte Rose wissen.
"Die ganze Stadt spielt verrückt. Wir müssen dringend herausfinden, was hier passiert. Walker's plötzliches Auftreten kann nichts Gutes heißen."
"Gut, ich rede mit Mr. Graham und versuche herauszufinden, was es mit Walker auf sich hat." Evane nickte.
"Sei vorsichtig. Mit dem Alchemisten ist wirklich nicht zu Spaßen. Er ist wie ein Unheilbote und schreckt nicht davor zurück, seine Macht einzusetzen um seine Meinung zu unterstreichen."
"Verstanden. Ich sehe mich vor. Was ist dein Plan?"
"Ich werde Doyle nach dem Autopsiebericht fragen und kümmere mich anschließend um die Aussage des Krämers. Vielleicht gewinnen wir so neue Informationen. Und Rose." Evane sah ihre Freundin eindringlich an. "Geh nicht alleine auf die Straße."
"Ich pass schon auf mich auf." Evane wollte etwas erwidern, doch der stolze Blick der Tänzerin ließ sie innehalten.
"Das ist alles so aufregend!" Castor's Augen funkelten. "Wir sind wie diese Ermittlergangs aus den Kriminalromanen."
"Ach ja, und was willst du dazu beitragen?", höhnte Evane, obwohl ihr der Gedanke irgendwie gefiel.
"Ich? Ich begebe mich in den Untergrund Sirenfords und höre mich dort ein wenig über unseren Mr. Sunshine um. Die wissen sicher am besten, wo er sich so herumtreibt und mit wem."
Auch wenn es Evane widerstrebte den Artisten weiter in die Sache zu involvieren, war es sicher nicht verkehrt, jemanden mit seinen Fähigkeiten in der Nähe zu haben. Und wer könnte sich leichter in die Kreise der Alchemisten begeben, als einer von ihnen. "Gut, wir treffen uns heute Abend am Kai. Anlegerplatz 31. 22 Uhr. Sei pünktlich." Castor nickte und wandte sich zum Gehen. "Deine Bescheinigung!", fiel es Evane wieder ein.
Der Schausteller warf ihr über die Schulter ein anzügliches Grinsen zu. "Hab ich schon seit gestern Abend." Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, verschwand er durch die schwere Tür.
"Ich nehme an, wir gehen gemeinsam zum Kai?" Evane nickte geistesabwesend. "Sehr gut, dann haben wir ja genug Zeit, dass du mir das da ..." Rose deutete in die Richtung, in die Castor verschwunden war. "... in allen Einzelheiten erklären kannst."
"Da gibt es nicht wirklich was zu erklären. Er ist einfach nur eine penetrante Schmeißfliege, die nicht lockerlässt."
"Und darum schmachtest du ihm so hinterher?"
"Schmachten?", wiederholte Evane aufgebracht, doch Rose stupste neckend gegen ihre schlechte Schulter. Zwinkerte.
"Das heben wir uns für Später auf. Ich darf Thomas nicht länger warten lassen." Mit diesen Worten tänzelte sie die Stufen hoch und senkte verlegen ihr Haupt, als Mr. Graham sie begrüßte. Die beiden in seinem Büro verschwanden. Evane wollte nicht darüber nachdenken, wie Rose den Polizeichef zu einer ihrer Marionetten gemacht hatte. Sie schüttelte den Kopf und ging zielstrebig auf einen dunklen Flur zu. In metallenen Lettern stand über dem Bogen "Pathologie" geschrieben. Ein Schild verkündete "Zutritt nur für Befugte". Ohne zu zögern schlüpfte sie hinein.
Ich weiß, ich bin einene Tag zu spät. Nächstes Mal bin ich hoffentlich wieder pünktlich. Ansonsten hoffe ich natürlich, dass euch das Kapitel gefällt ;)
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