Kapitel 6;2 - Von Totgeglaubten
Frost versiegelte am nächsten Morgen die Bäume. Eine Glocke aus Nebel hatte sich über die Wipfel gelegt und dämpfte alle Geräusche.
Selbst das Gras war von Frost bedeckt und knirschte unter ihren Stiefeln.
Eos spürte die kalte Aura von Aramis, die ihren gesamten Körper umfasste.
Beweis mir, dass du es wert bist, dass ich dich als Wächter empfehle, hatte er gesagt.
Sie hatte ihn zu einem sofortigen Kampf aufgefordert, woraufhin er die Wangen aufgeblasen hatte.
Eos nahm an, ein Zweikampf sei der schnellste — und offensichtlichste Weg — ihre Fähigkeiten zu beweisen. Doch Amaris hatte es so lange herausgezögert, dass sie ihn dazu zwingen musste. Seither grummelte er nur noch.
Sie stieß die Luft aus, während Aramis die Leiter nahm. Die Holzplanken quietschten unter seinen Schuhen. »Es regnet ja.«
»Nur ein wenig.«
Er gab einen gequälten Laut von sich. Gerade als sie befürchtete, er würde wieder ins Haus zurückkehren, deutete er ihr an, ihm zu folgen.
Eos wusste sofort, was er ansteuerte.
Wenige Schritte von dem alten Wachturm entfernt lag ein alter Übungsplatz. Es war eine leergeräumte Fläche, aus der einige Holzpfeiler hervorragten. Abgebrochene, splittrige Posten schossen gefährlich empor und Eos konnte den Gedanken nicht verdrängen, was geschah, wenn sie eines Tages auf einen stürzen würde.
Sie stieg darüber, um die Fläche zu betreten.
Die bronzene Statue eines Drachen tat sich zu ihrer linken auf. Die Bestie hob beide Schwingen empor. Sie ließen den Platz in Schatten fallen, wenn die Sonne schien.
Offensichtlich stammte die Statue von der Hand eines Amateurs. Eos vermutete, dass sogar Aramis selbst sie hergestellt hatte — und der Gedanke, dass er an Drachen glaubte war beschämend.
Der Glaube an sie, war wie der, an jeden anderen Gott. Nur, dass ihre Anhänger sich einbildeten, jeder Gegenstand in ihrer Umgebung sei aus der Seele — oder ein Teil — eines Drachen. Normalerweise waren die Anhänger dieses Glaubens respektvoll mit jedem Sandkorn, dass ihren Weg kreuzte und hüteten die Objekte, die sie besaßen, wie Schätze — immerhin steckte überall der Atem der Weltenschöpfer.
Ironisch war es daher, dass gerade ein Adliger daran glaubte. Dabei waren es doch eben die, die nichts wertschätzen wussten.
In der Ferne grollte Donner. Das Unwetter war noch weit genug entfernt, um nicht zur Gefahr zu werden.
Aramis tippte missbilligend mit dem Schuh in eine Pfütze. »Nur ein wenig«, wiederholte er in verzerrter Stimme.
»Sag nicht, du bist wasserscheu? Ich dachte, dass Wachmänner immer kämpfen können.«
»Ja. Sollen wir. Aber wenn es ums Kämpfen geht, besteht ein großer Unterschied zwischen können und sollen.«
Eos blickte ihm in die Augen — wusste, dass er eine Reaktion erwartete, doch zog die Mundwinkel nur künstlich hoch.
Etwas in seiner Haltung veränderte sich; der Blick wurde intensiver. »Möchtest du das wirklich?«, fragte er. »Die Wachmann-Sache im Allgemeinen, meine ich?«
»Bleibt mir etwas anderes?«
»Die Cruoren würden dir eine ruhige Arbeit beschaffen können.«
»Nein, danke. Deren Willkür will ich nicht so unmittelbar ausgesetzt sein. Ich will mich verteidigen können.«
»Nur weil Wächter eine Waffe in der Hand halten, sind sie nicht in der Lage, sich vor höheren Mächten zu schützen.« Er jagte sein Schwert in den Schlamm hinein und drehte es langsam. Mit der Spitze holte er Erde an die Oberfläche, als sei es eine Schaufel. »Das, was du in Brus getan hast, sind andere Konflikte, als die, die wir führen. Ebenso düster und tödlich, ja. Aber sie sind anders. Und sie haben ganz andere Priorität. Es geht nicht nur um dein Leben und das deiner Freunde.«
Eos ballte die Hand zur Faust und schnaufte. Sie wollte nicht bleiben — unter keinen Umständen. Und egal wohin sie ging; es würde immer so sein, wie in Brus. Sie wollte die Kontrolle über wesentliche Entscheidungen nicht erneut an die Cruoren abgeben. Dieses Mal würde sie selbst entscheiden; selbst, wenn sie mit der Entscheidung unzufrieden sein würde. »Lass uns einfach anfangen.«
»So stur warst du damals nicht.«
»Und du nicht so verbissen.« Sie schenkte ihm ein bitteres Lächeln. »Zeit ändert sich.«
»Die Zeit ändert sich nie. Menschen ändern sich.«
Eos biss die Zähne zusammen. So philosophisch war er damals nicht gewesen — innerhalb der letzten Woche hatte er ihr hingegen genügend moralische Lehren verpasst, dass sie die Hälfte wieder vergessen hatte. »Gut, dass wir Nachtschwärmer sind.«
Er lehnte sich auf seinem Schwert vor, sagte langgezogen: »Haha.«
Sie zog ihren Mantel aus, um diesen an die Füße des Drachen auf den Sockel zu legen. Dass dafür missmutige Kommentare von Aramis kamen, überhörte sie großzügig.
Er rief: »Willst du dir nicht vorher die kleinen Blümchen aus dem Haar machen?«
Sie hob eine Hand, ließ ihre Finger über die robusten Blätter tanzen. Einige Blüten aus dem Laden ihrer Mutter waren das einzige, das sie aus Brus mitnehmen konnte. »Die halten mehr aus, als du denkst.«
Er schloss die Lider — für einen Moment schien er eingeschlafen zu sein. Seine beiden vorderen Hörner waren abgeschnitten worden. Eine feine Kante — fast schon medizinisch. Vielleicht durften Offiziere keine Hörner haben.
Aramis schob sein Schwert in die Glasvorrichtung, die man für Übungszwecke verwendete. Die Klinge war noch immer schlammig. Das schien er oft zu machen — geschätzt daran, wie dreckig die Glasplatte schon war. »Bereit?«
»Nett, dass du fragst.« Sie huschte vorwärts, rutschte über den Schlamm.
Er trat einen großen Schritt zur Seite. Eine Hand am Schwert; die verwundete Schulter zur Seite gedreht.
Eos schnappte ihr Laken-bewickeltes Messer. Sie trat zur Seite — traf sein Schienbein. Gerade als sie nach ihm ausschlagen wollte, musste sie ausweichen, da sein Schwert zu ihrem Hals sauste. Etwas surrte neben ihrem Kopf.
Sie schlitterte über dem Boden, an ihm vorbei — überlegte, ob sie in der Lage wäre, ihn mit sich zu ziehen.
Aramis bewegte sich schneller, als sie realisieren konnte. Er war neben ihr aufgetaucht und sein Schwert raste neben sie.
Sie duckte sich unter seinem Arm — konnte sogar spüren, wie die Klinge durch ihre Haare fuhr.
Eos ließ ihr Schwert in die Luft wirbeln. Sie krallte sich in seinen Arm, zog sich vom Boden hoch.
Aramis trat in ihren Bauch; packte ihr Handgelenk.
Sie ließ die Klinge nach vorne schnellen — doch etwas hinderte sie. Sein Griff war fest und hielt nicht nur ihr Handgelenk, sondern auch das Messer selbst.
Sie ballte die freie Hand zur Faust und holte aus, um unmittelbar zwischen Brust und Bauch zu schlagen. Trotzdem er panisch nach Luft rang, bemerkte sie wieder, wie das Schwert sich bewegte.
Sie bückte sich herunter, während er weiterhin hustete. Eos riskierte einen unüberlegten Sturz in den Schlamm und rollte sich von der Hand weg, die wieder nach ihr packte.
Doch sein Fuß schlang sich unter ihren Oberkörper. Sie hing über seinem Bein, wie Wäsche auf der Leine.
Aramis fasste an ihre Taille und zog sie hoch. Gerade als sie ihr Messer auf ihn richten wollte, spürte sie das kalte Glas an ihrer Kehle. Mit der anderen Hand schnappte Aramis drückte ihr Kinn zusammen. Sein Blick war nicht selbstüberzeugt — mehr abschätzend.
»Das ist ungerecht. Du hast auch ein Schwert«, hauchte sie gegen sein Ohr. Sie war gezwungen halb an ihm vorbei zu sehen.
»Du wolltest keins.« Er ließ sie los, um einige Schritte Abstand zu nehmen.
Er ließ ihr keine Zeit, sich auszuruhen.
Er huschte bald wieder voran und diesmal konnte sie seinem Schwert ausweichen. Sie drückte ihn mit der Hand von sich.
Eos lief um ihn herum und trat gegen sein Handgelenk. Er riss die Lider erstaunt auf, doch hielt die Waffe fest im Griff.
Sie wich zurück, noch ehe er einen Angriff landen könnte.
Aramis hob eine Hand. »Worauf wartest du?«
Sie inhalierte die Luft. Der Regen prasselte mittlerweile kräftiger über ihnen nieder. Fast hätte sie ihn nicht gehört. »Was?«
»Wieso greift du denn nicht an?«
»Weil ich- du bist so groß!«
Der Nachtschwärmer schaute zu ihr. Amüsement erhellte sein Gesicht. »Groß?«
»Ich bin-«
»Du bist einfach nur unsicher«, unterbrach er. »Du traust dich vieles nicht, weil du denkst, dass du es nicht kannst. Deswegen fliehst du mehr, als auszuteilen. Aber du könntest mehr austeilen, als du denkst.«
Eos ließ die Schultern hängen. Sie starrte ihre schwarze Hose herab, auf der sich mittlerweile Erde abgezeichnet hatte. »Gegen dich komme ich aber nicht an.«
»Musst du auch nicht. Es gibt viele Arten von Wachmännern. Einige haben noch nie das Schwert schwingen müssen — aber sie würden es sich trauen.«
Er ließ keine weitere Zeit vergehen und hob einmal mehr das Schwert.
Für einen Moment erkannte Eos in dem spielerischen Grinsen seinen kleinen Bruder.
Eos hatte mit Kenga schon oft gekämpft. Sie hatten auf dem Hof seiner Eltern einige Wettbewerbe ausgetragen, nach denen sich ihre Arme kraftlos und schlaff angefühlt haben, wie unter Betäubung.
Eine Narbe an ihrem Knie erinnerte an einen schmerzhaften Sturz auf einen Brunnen. Damals hatten Kengas Brüder ihn angefeuert. Eos' Kopf hatte vor Schmerzen schon gehämmert.
Er hatte sie mit dem Ellenbogen überrascht. Den Ratschlägen seiner Brüder folgte er schon immer aufs Wort.
Tatsächlich benahm sich Aramis genau so, wie er es Kenga eingebläut hatte. Es war fast schon vorhersehbar. Er blieb stets in Bewegung. Sein Fokus lag auf Beinarbeit; die Distanz, die er hielt, war groß genug um auszuweichen; aber zu klein, um weit auszuholen.
Das Schwert führte er nicht wie eine Waffe; mehr wie ein Instrument — wie einen Stab, den man im Tanz bewegte.
Eos fing seine Hand in der Luft ab und klammerte sich an ihr Messer.
Aramis erstarrte vollständig.
Sie schien zu lange zu überlegen, ob sie angreifen sollte, denn er flüsterte: »Du kannst das, Eos.«
»Wenn du der Meinung bist. Dann betrachten wir diese Übung als abgeschlossen.« Sie fasste in ihre nassen Haare. »Ich möchte wieder rein.«
»Nein, nein.« Er legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel emporzublicken. »Wir machen weiter. Wenn wir erstmal dabei sind, ziehen wir das durch.«
»Muss ich mich etwa noch beweisen?«
»Ja. Weil ein Wachmann kein Wachmann ist, wenn er kein Selbstvertrauen hat.«
Eos wirbelte mit dem Messer herum und wollte dieses an seine Kehle führen, doch sein verletzter Arm schnellte in letzter Sekunde nach vorne, um sie abzuhalten.
»Wenn du Angriffe immer mit diesem Arm abwehrst, ist es kein Wunder, dass du verletzt bist«, rief Eos über den strömenden Regen.
Aramis lachte gedämpft. »Danke.«
Die Kämpfe gingen weiter, bis Aramis erneut sein Schwert in die Erde rammte und sich darauf stützte. Er war vollständig durchnässt — und so dreckig, dass er ein angewidertes Gesicht machte, als er an sein Hemd fasste. Eos hatte es einmal geschafft, ihn umzustoßen, woraufhin er mit dem Rücken auf die Erde gefallen war.
»Habe ich mich- Ist das genug?«, fragte Eos und setzte sich hin.
»Eigentlich nicht. Aber ja.«
Das Unwetter rückte näher. Der Donner hallte mittlerweile laut über die Fläche.
Er ließ sich ebenfalls auf die Knie sinken; Hände immer noch am Griff seines Schwerts. »Ich will endlich reingehen.«
»Bist du jetzt wasserscheu?«
»Allmählich ja.«
Aramis legte den Kopf in den Nacken. Er strahlte enorme Ruhe aus. Von den Blitzen ließ er sich nicht ablenken — er schien sich sicher zu fühlen.
»Was, wenn du an die Front musst?«, fragte er plötzlich.
Erst nahm Eos an, er wolle sie von einem neuen Angriff ablenken... seine Miene hingegen blieb hart.
»Das musst du wahrscheinlich«, fügte er hinzu.
»Das würde nicht schlimmer sein können, als Brus.«
»Du hast in jungen Jahren schon zu viel sehen müssen. Ruhe würde dir gut tun.«
Eos ließ sich neben ihm nieder und zog die Knie an. Der Himmel über ihnen erhellte sich unregelmäßig. Die Wolken waren dicht und grau; noch war die Sonne nicht draußen.
Dienst an der Front war ein befremdliches Gefühl. Mittlerweile hingegen hatte Eos bereits alles verloren, dass einen Wert hatte. Nicht nur ihre Heimat — alles was dazu gehört hatte — oder ihre Familie, für deren Leben sie erst ihre verdammten Freunde verraten hatte.
Sie hatte ihre Tante aus den Fängen dieser hinterhältigen Cruoren befreit; dafür jene aufgegeben, die ihr das Gefühl von Zusammenhalt gegeben hatten. Seither waren alle Einheiten gesprengt und Einsamkeit hatte sie ausgehöhlt. Das war umsonst. Alles war umsonst gewesen.
Und nicht einmal mehr Scarlett hatte sie noch.
»Du weißt wahrscheinlich mehr, als ich.« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Weißt du, was mit den Formwandlern passiert ist?«
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