Kapitel 3;2 - Kalte Umarmung
Dolunays Herz lag noch am Abend schwer in ihrer Brust.
Es war eine Erfahrung, wie man sie nur durch Leid erhalten konnte. Sie hatte zu der Erkenntnis kommen müssen, dass alle Schätze — jede Ehre, jedes Wissen, die loyalste Freundschaft — vergänglich war. Irgendwann würde alles scheitern, und alles, was als Unvergesslich galt, würde ausgelöscht werden.
Am Ende der Zeit war Gewalt so viel Wert wie Liebe und Hass wie Zuneigung. Werte verloren ihre Bedeutung, wenn es niemanden gab, der sie einschätzte.
Oder Dolunay redete es sich ein, um sich nicht mehr schuldig zu fühlen.
Chase' Gruppe hatte sich am Feuer versammelt. Essen war serviert worden; es war warm; Lebendigkeit erleichterte die Gemüter und für einen Moment schien es fast, als sei alles beim Alten. Eine düstere Stimmung schwebte zwar noch zwischen ihnen, doch Dolunay war bemüht, es auszublenden.
Die Leute von Asche trieben sich im Hintergrund herum, kochten dabei; andere summten Lieder. Nicht eine Person wagte sich zu ihnen.
Es war eine strikte — wenn auch unausgesprochene — Trennung vorgenommen worden.
Sie wurden umgangen, als seien sie gefährlich.
Daher blieben die Gespräche in der Gruppe. Und so unangenehm wie das Gerede begonnen hatte, hatte Dolunay schnell beschlossen, nicht mehr zuzuhören. Stattdessen ließ sie ihren Blick in die Ferne schweifen.
Abseits vom Schein der Feuer stand Rhun. Der Cruor hatte die Arme vor dem Körper verschränkt, während er mit dem Kind redete.
»Das ist eine elendige Ratte«, unterbrach Chase die Diskussion, die frisch entstanden war.
Der Abend war von Gesprächen durchzogen, in denen die Themen schnell gewechselt wurden:
Brus, Folter, der Priester, die Cruoren, Asche und ihre Gruppe, Hardings Verbrechen... bis sie schließlich bei Eos angelangt waren.
Auf Hardings Stirn pulsierte eine Ader, sobald ihr Name gefallen war. Niemand durfte über die Nachtschwärmerin reden — das Vertrauen war wackelig. Seitdem sie ihm in den Rücken gefallen war, hatte sich seine gesamte Gruppe aufgelöst.
»Ich will nichts mehr hören«, fügte er hinzu. »Ich hoffe, dass ich ihr nie wieder begegne. Ich hoffe noch mehr, dass sie es nicht aus dieser verfluchten Stadt rausgeschafft hat.«
Asche tauchte hinter ihm auf. Im Schein des Feuers sah die Frau um einiges älter aus. Die Falten wurde deutlicher — doch sprachen keinesfalls von einem verbitterten Gemüt. Sie hatte etwas Mütterliches an sich.
Mit einigen kurzen Bewegungen wuschelte sie durch Chase' Haare. »Dein Wutausbruch ist immer noch nicht abgeklungen, wie es aussieht. Geht's wenigstens deinen Wunden besser?«
»Lass mich in Ruhe, Sichel. Ich hab-«
»Chase« Sie zog seinen Namen spielerisch lang und lehnte sich auf seinen Schultern vor. »Beruhige dich.«
»Ich bin nur-«
»Verzweifelt«, ergänzte sie.
»Nein, ich bin-«
»Verzweifelt«, sagte sie erneut. »Ich kenn' dich nicht anders. Aber das ist auch verständlich.« Sie ließ sich neben ihn auf den Baumstumpf fallen. Sie klopfte sich Staub von der Hose. »Aber sieh's positiv, du bist nicht alleine. Du hast deine Freunde noch.«
»Habe ich das?« Harding sah zwar nicht zu Dolunay, aber sie wusste, dass diese Frage ihr galt.
Der Cruor bewegte sich zu ihnen. Seine Schritte waren staksig-groß und so musste der Bursche laufen, um mithalten zu können.
»Du hast doch was auf dem Herzen. Nun hau's raus.« Asches große Augen hatten etwas treues, wachsames. Sie konnte zwischen ihren Persönlichkeiten springen, wie niemand anderes.
Mal war sie ernst, ruhig und durchdacht; dann gefühlvoll und aufgedreht und ab und an erkannte man etwas anderes — das Dolunay nicht benennen konnte.
Es war unmöglich zu schätzen, was Asches wahre Persönlichkeit war. Daher erschien es logisch, Distanz zu wahren.
»Das ist-« Harding seufzte lautlos. »Es ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«
»Eos — also, die Nachtschwärmerin mit den schwarzen-«
»Ich weiß wer«, unterbrach sie.
»Sie hat uns verraten. Sie hat gegen uns ausgesagt, um ihre Tante aus dem Gefängnis rauszuholen. Sie hat uns vor die Cruoren gestellt.« Chase zog die Lippen ein. »Caden hat seine Schwester an die Experimente geschickt — du bist dafür übrigens ein verdammter Idiot, Caden, sie wird nie so werden, wie früher. Und jetzt will er natürlich wieder nach Brus zurück. Und Dolunay hat...« Er hielt inne. »Der Aart-Priester vom Nachbardorf lebt.«
Asche konnte mit seinen gestammelten Sätzen scheinbar etwas anfangen, auch, wenn ihre Stirn Wellen schlug. »Ich weiß.«
»Und du hast es mir nicht gesagt?«
»Hätte es dich interessiert?«
»Ja, immerhin haben wir ihm ein Auge rausgeschossen und seine Leute umgebracht.« Chase hatte keinen Sarkasmus in der Stimme; stattdessen bebte sie vor Wut. Es gab auch keinen Grund für Scherze. »Fakt ist, Dolunay macht mit ihm gemeinsame Sache. Sie hat zugesagt, mit dem Priester nochmal ein Wort zu wechseln. Und dieser verdammte Idiot will uns ins Gedächtnis starren, in der Hoffnung, Brus retten zu können.«
Die Frau nickte und wickelte ihre Haare um den Finger. Mit der anderen Hand klopfte sie auf Chase' Oberschenkel. Sie murmelte etwas vor sich hin, ehe sie zu klaren Sätzen fand. »Das ist mir alles ein wenig zu hoch. Und zu viel. Aber wieso bist du vor Gericht gelandet? Ich dachte, die Wachmänner lassen dich in Ruhe?«
»Weil ich gelernt hab', unauffällig zu sein. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Eos mich verrät.« Er winkte ab. »Das ist aber unwichtig. Immerhin existiert Brus jetzt nicht mehr. Wir haben andere Probleme. Wir haben den Priester als Problem.«
Asche schwieg einige Sekunden. »Hm, ja, zugegeben. Das ist echt eine beschissene Aktion von Dolunay.«
Etwas anderes hatte diese auch nicht erwartet. Dabei hatte Dolunay das Thema für sich mittlerweile abgeschlossen. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass Harding sich einmischen würde.
Der Fakt, dass sie durch Zufall in Oryn hineingerannt waren, hatte alles ruiniert.
Niemand hätte von der heimlichen Vereinbarung erfahren müssen. Es wäre nur Dolunay, Oryn und den Priester etwas angegangen.
Doch jetzt war die Stadt untergegangen. Und der Aart wollte alles daran setzen, das Schicksal rückgängig zu machen.
»Nach reiflicher Überlegung finde ich die Idee des Priesters allerdings nicht mehr allzu unattraktiv. Zumindest, solange ich meinen Kopf nicht hinhalten muss.« Der Cruor richtete den Blick auf Harding.
Er nahm Platz, ohne die Augen von ihm zu nehmen.
Die Art, wie Rhun sich bewegte, hatte etwas surreales an sich — fast mechanisches. Es war kein militärischer Drill; aber auch nicht die weichen Bewegungen, die man von Adligen gewohnt war. Trotzdem sein roter Mantel zwei Löcher aufwies, hatte er etwas eindrückliches an sich.
Chase feuerte sofort zurück: »Ich bin der Meinung, dass du dich da raushalten solltest, sonst schneide ich dir die Kehle auf. Ich habe keine Lust auf die dämlichen Entscheidungen der Cruoren. Ihr habt uns doch erst in diese Scheiße gestürzt, wenn ich mich richtig erinnere.«
»Ich versuche euch lediglich zur Vernunft zu bringen. Es gibt keinen Anlass, mich zu hassen. Ich verstehe nicht, wieso du dich in deine Wut hineinsteigerst. Rationales Denken würde dir nicht schaden. Früher oder später musst du Fuß fassen.«
Es war gerade einmal ein Tag seit ihrer Flucht vergangen — von Fuß fassen sollte noch keine Rede sein.
Doch Dolunay sprach diesen Gedanken nicht aus.
Stattdessen gab Asche zu Bedenken: »Mutig, mit Chase zu diskutieren, aber es ist auch sehr dumm. Mach es nicht. Mit Chase will man keinen Streit. Er ist schon provoziert genug« Sie lächelte aufmunternd, als ihr Blick sich mit Dolunays kreuzte. Es war wie ein stummes "Aber wir wissen, das wird wieder". Nur, dass der Trost auf Leere stieß.
Rhun ließ nicht davon ab: »Ich will mit niemandem Streit. Ich wollte lediglich meine Meinung kundtun. Ich dachte, so funktionieren Konversationen.«
»Ich weiß nicht, ob-«
»Ich werde mich etablieren müssen, wenn ich meinen Kopf nicht verlieren will. Ich möchte wie ein gesitteter Mensch sprechen können, auch, wenn du ein Mörder bist.« Rhuns Stimme klang zornig — auch wenn Dolunay sich nicht sicher war, was diesen Eindruck erzeugte. Weder wurde er lauter, noch verzog er die Silben. Es musste die Weise sein, wie er seine Wörter wählte. »Harding, anstatt deine Probleme mit Gewalt zu lösen, solltest du in Ruhe nachdenken.«
»Ich habe keine Zeit für Ruhe«, verteidigte sich dieser.
»Dafür hättest du Zeit, wenn du deine Stunden nicht mit Wutanfällen verschwenden würdest.«
»Cruor... Willst du sterben?«
Dolunay drückte den Rücken durch. Mit einem eindeutigen Blick versuchte sie, Rhun zum Schweigen zu bringen. Doch der Cruor würde nicht auf ihre Befehle hören.
»Ich würde tatsächlich höchst ungerne sterben. Ich versuche zu verstehen-«
»Du verstehst gar nichts. Du hast keine Gefühle!« Harding lehnte sich zurück, um durchzuatmen. Erstmals schaute er zu Dolunay. »Und du auch nicht mehr. Zumindest nicht, wie es scheint.«
Ihre Brust verkrampfte sich, doch sie lächelte — auch wenn es in keiner Hinsicht passte.
Er wusste nicht, was er sagte; er meinte nicht, was er sagte.
Er war nur wie ein Kind, das alles verloren hatte.
»Meine Gefühle haben mit alldem nichts zu tun, sondern deine«, berichtigte Rhun. »Du musst bald entscheiden, was mit euch passieren soll. Denn ich bezweifle, dass ihr euch auflösen werdet. Nimm meine Worte bitte nicht als Angriff.«
»Und was schlägst du vor?«
Rhun schwieg lange — so lange, dass Dolunay durch den Klang ihrer eigenen Atmung unruhig wurde.
Schließlich jedoch lehnte er sich zurück und gab einen Laut von sich, der einem Seufzen sehr nah kam. »Nach reiflicher Überlegung frage ich mich, was wäre, wenn der Priester recht hat. Was, wenn wir — zumindest anfangs — mit dem Priester kooperieren?«
»Und wie kommst du auf einmal darauf? Wieso willst du jetzt doch nach Brus zurück? Hast du Heimweh?«
Rhun umging die Frage: »Ich habe darüber nachgedacht«
»Das kommt aber sehr plötzlich«, bemerkte Harding.
»Sind kurzfristige Entscheidungen nicht menschlich?«
»Für einen Menschen, ja«, zischte Asche. Sie zog ihre Hand von Hardings Knie zurück und schnappte sich eine Scheibe Brot. Sie gestikulierte damit mehr herum, als zu essen. »Wenn du der Meinung bist, Brus zu retten, dann kehre doch mit Dolunay zum Priester zurück. Vielleicht wird ein ausführliches Gespräch die Situation klären.«
»Wir haben schon mit ihm gesprochen. Der ist verrückt«, schnauzte Harding. »Aber von mir aus. Schließt euch zusammen.«
»Nun lass die arme Frau endlich in Ruhe«, murmelte Rhun. Er schaute leicht zu Dolunay herüber. »Sie hat mit mir nichts zu tun. Die Idee, zum Priester zu gehen, ist meine allein.«
»Aber sie wollte mit dem Priester doch einen Vertrag schließen. Meinetwegen, soll sie zu Ihresgleichen zurückkehren.«
Dolunay hoffte, dass ihr Blick genug war, um Chase zu signalisieren, dass er zu weit gegangen war.
»Es schadet nicht-«, wollte Kenga einschreiten.
Doch Asche fiel einmal mehr dazwischen: »Ihr seid immer noch verwundet und unzurechnungsfähig. Bevor ihr Entscheidungen trefft, erholt euch erst. Ihr sollt ja eh erstmal bei uns bleiben.« Sie stand auf und schaute kurz zu Dolunay, bevor sie eine Hand auf Chase' Schulter legte. »Ich habe entschieden, dass ihr länger bleiben dürft, solange ihr meine Gastfreundschaft nicht ausnutzt. Aber dafür befolgst du meine Regeln. Und genau deswegen wirst du jetzt mitkommen, damit ich mir nochmal deine Wunden ansehen kann, Chase.«
Gerade als Harding einen Protest brummen wollte, gab Asche einen eindeutigen Laut von sich.
Ohne sich nochmal umzusehen verschwanden beide zwischen den Zelten.
Kenga hob die Brauen. »Na, das kann ja heiter werden. Vielleicht sollten wir uns doch verpissen.« Der Humor in seiner Stimme klang wackelig — als würde er es zum Teil ernst meinen.
»Dazu äußere ich mich lieber nicht«, erwiderte Rhun.
Dolunay wandte sich sofort an ihn: »Das nächste Mal, bitte setzen Sie sich nicht für mich ein, Veu.«
»Bitte?«
»Das nächste Mal-«
»Nein. Das war nicht beabsichtigt. Ich habe lediglich meine Meinung geäußert.«
»Das war allerdings ein sehr ungünstiger Moment, die selbe Meinung wie ich zu haben.«
»Doch es ändert nichts am Fakt. Ich- ich kann nicht ohne Brus existieren. Und Sie vermissen Ihre Heimat mit Sicherheit auch.«
Dolunay wusste erst nicht, was sie erwidern sollte — wusste nicht einmal, ob sie Brus vermisste. »Aart-Priester sind hinterhältig. Und erst recht dieser.«
»Aber er wünscht Ihnen zu helfen. Und er hat das selbe Interesse wie ich.«
Caden biss sich auf die Wange. »Es ist zu früh, solche Entscheidungen zu treffen. Wir sollten Harding in Ruhe lassen.«
»Und ihm erst recht nicht wieder in den Rücken fallen«, fügte Kenga scherzend hinzu.
Dolunay war zu müde, um ihn für diesen Witz zu belehren.
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