Kapitel 28;1 - Letzte Worte blinder Richter
Rhun erkannte in den alten Steinen sein verlorenes Zuhause. Er hatte die Hafenstadt nie verlassen, bis es zu der Katastrophe gekommen war.
Und nun würde er Brus das erste Mal mit richtigen Gefühlen durchlaufen können — wenn er denn wüsste, was er fühlen sollte...
Das aufgeregte Kribbeln von positiver Anspannung,
Oder ein Schauer der Furcht vor dem Hintergrund der Monster,
Melancholie, oder Freude, Einsamkeit und Wehleiden.
Es gab eine solche Brandbreite an menschlichen Erfahrungen, dass er fürchtete, nicht alles kennenlernen zu dürfen.
Vor allem, da er stattdessen nichts fühlte — als sei die bedrückende Ausstrahlung von Brus in der Lage, alles aus ihm herauszuspülen und nur den leeren Cruoren zu lassen, der er im Kern war.
Rhun fühlte die Leere in seiner Brust — und alle Erinnerungen, die er nie gemacht hatte, kamen auf. Wenn er früher entdeckt hätte, was er war... Er hätte einige Entscheidungen anders treffen können. Und möglicherweise hätte er damals auch verstehen können, wieso Declan ihn gequält hatte.
Immerhin wollte der verhindern, dass Rhun jemals mit den Monstern verhandeln würde.
Genau das würde Rhun immerhin gleich tun.
Er packte hinter sich, um einen Stab von seinem Rücken zu ziehen — im selben Augenblick leuchtete das Gerät in hellem, weißen Licht.
Brus wurde erschüttert von den schrillen Schreien der Monster. Die Wesen wirrten im Hintergrund herum, schauten direkt zu ihm, in den Schleier seiner Lampen.
Zorns Sohn gesellte sich zu ihm. »Veu Rhun«, sagte er — in einer Stimme, als sei ihm die Situation gänzlich egal.
Rhun setzte sich mit großen Schritten in Bewegung. Einer der Leibwächter aus dem Dorf, der sich mit dem Namen Verde vorgestellt hatte, flankierte ihn.
Etwas zu seiner linken verdeckte einen Teil des Sternhimmels. Ein grauenhaftes Geräusch begleitete den Schatten dabei, in Rhuns Lichtkegel einzudringen. Er holte mit dem Stab aus, um das Wesen irgendwo zu treffen — am Hals, wie sich herausstellte, sobald die schwarze Kreatur auf dem Boden lag.
Verde sprang sofort auf das Monster und blendete es mit der Lampe, die er mit sich trug.
Etwas pfiff über seinen Kopf hinweg und landete direkt vor Harding, der laut schimpfte. Er taumelte zurück und ließ sein Schwert nach vorn gleiten.
Rhun tätigte einen großen Schritt nach hinten und huschte dann so schnell durch die Nacht, dass er fast rannte. Er kannte die Wege auswendig — musste er sich einreden — es war die gleiche Strecke, die er damals immer gegangen war.
Er erkannte die alten Laternen, Statuen und Gebäude. Nicht weit entfernt hatte er gewohnt — das edle Haus mit den Balkonen befand sich zur Grenze des Regierungsviertels. Es hatte nie mit dem Handwerkerviertel mithalten können, wo er mit Zorn gelebt hatte.
Es blieb keine Zeit, um über vergangene Tage nachzudenken.
Die Wucht eines Körpers riss ihn nach hinten. Rhun taumelte zur Seite, als er bemerkte, dass das, was er für eine der Statuen gehalten hatte, ein Mosnter gewesen war. Er wirbelte mit dem Leuchtstab; wollte es damit umreißen, doch die flinke Kreatur sprang nach oben und landete mit seinem verheerenden Arm fast in Rhuns Ellenbogen.
Er trat gegen das verdrehte Knie der Kreatur, schnappte das Schwert, was man ihm gegeben hatte, und verteidigte sich blind.
Er wünschte, er dürfte einen Revolver führen, doch aufgrund der Dunkelheit hatte der Aart-Priester ihnen davon abgeraten. Man wolle keinen Gleichgesinnten verletzen. Rhun würde jedoch alle der Anwesenden opfern, wenn es hieß, dafür seine Mission zu beenden.
Er musste dem Arm des Monsters ausweichen, und krachte dafür ungerschickt auf dem Boden.
Jemand baute sich über ihm auf — Kenga, der das weiße Geschöpf mit einem Schnitt zum liegen brachte.
Rhun sprang mit Schmerzen auf die Beine und lief zu Dolunay, die einen geradlinigen Weg geradeaus ging. Der blaue Schleier ihres Lichts zuckte über die sauberen Steine, zwischen denen erstes Unkraut wucherte. Jedes Leuchten explodierte in seinem Kopf. In jedem verdächtigen, dunklen Fleck vermutete er Monster — oder Declan, der in Rhuns Vorstellungen noch überall war.
Zwei Kreaturen zischten aus der nebenliegenden Gasse hervor, wo Dolunay stand.
Rhun packte die Aart am Arm und zog sie zur anderen Seite, schaffte es noch, die Wesen mit dem Leuchtstab zu blenden, bevor er damit zuschlug; dieses Mal gezielt, direkt in das offene Maul des Nebelwesens.
Er schmeckte Blut — sein eigenes, wie er hoffte.
Erst dann fiel ihm seine eigene Verwundbarkeit auf. Er war bereits in Brus gebissen worden. Die Bisswunde, die ihm hier zugefügt wurde, würde sich nun glühend in seinen Adern ausbreiten, bis sie ihn umbringen wurde. Und er konnte nicht schätzen, wie lang es dauerte.
»Wir müssen uns beeilen«, war alles, was er sagte.
Chase tauchte neben Dolunay auf; die Augen aufgerissen. »Wie schnell breitet sich deine Mutation aus?«, fragte er, als hätte er Rhuns Gedanken hören können.
»Einen Tag dauert es im Regelfall bis zum Tod.«
»Also haben wir genügend Zeit.«
»Nein, da die Zeit tagsüber stehenbleibt. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass die Krankheit sich währenddessen noch ausbreitet. Das bedeutet, wir haben bis zum Sonnenaufgang.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Harding.
»Ich würde es ungern herausfinden!« Er wirbelte zur Seite, da dort ein weiteres Wesen kam. Rhun leuchtete ihm in das Gesicht. Das Monster zog sich bereits selbstständig zurück.
Der Cruor wandte sich um. Er konnte noch immer den Ausgang zur Stadt — den Hafen — sehen. Sie kamen nicht schnell genug voran.
»Cruor«, knurrte Chase. »Wir brauchen trotzdem Pausen. Man kann nicht länger als einige Minute mit dem Schwert kämpfen. Dafür haben wir es zu lang nicht getan.«
»Wir können nicht alle zehn Minuten eine Pause einlegen«, widersprach Dolunay.
Rhun sah erneut ihre zurückgelegten Strecke an. »Wir könnten es, wenn wir uns in diesen zehn Minuten von der Stelle bewegen würden.«
Ein Licht segelte durch die Luft, als Verde sich wieder zu Rhun gesellte.
»Bis zum Rathaus sind es vielleicht zwanzig, oder dreißig Minuten«, beharrte Harding. »Eine Stunde also, wenn wir sehr langsam sind. Wir können nicht nur weglaufen, wir müssen die Monster auch abschlachten, wenn die uns nicht folgen sollen.« Er klang bereits außer Atem — laufen würde es defintiv nicht können.
Auch Rhun fehlte die Kraft dafür — seine Beine schmerzten schon von dem schnellen Schritt, den er die letzten Minuten gehalten hatte. »Ich weiß nicht, wie lang das Gespräch mit den Monstern dauern wird. Und anschließend werden wir hoffentlich alle den Rückweg antreten müssen.« Er wich zurück, als drei Monster sich vor ihm auftaten. Sie ignorierten das Licht, das er vor ihnen wandern ließ.
Fast zu spät bemerkte Rhun das Wesen, das seinen Nacken zu ihm renkte. Er wirbelte mit seinem Stab zur Seite, rammte ihn in den gierig aufgeschlossenenen Schlund und tiefer in die Kehle des Wesens hinein.
Rhuns Rücken bestrafte ihn sofort mit brennenden Schmerzen, die bis in seinen Nacken jagten.
Er brauchte seinen Gehstock, doch hatte diesen beim Priester gelassen. Es wäre ihm nur eine Hürde, wenn er kämpfte.
Rhun bedachte seine Bewegungen, als ihm bewusst wurde, dass mehrere Augen auf ihn gerichtet waren, die zu viel Verstand hatten.
Das letzte Mal, als sie Brus verlassen hatten, hatten die Monster die Aufgänge bewacht. Sie waren mehr, als leichtsinnige Jäger. Sie waren hungrig — und sie waren in der Lage, eine Taktik auszuführen.
Jeder Muskel zitterte plötzlich in seinem Körper. Das Herz drohte ihm aus der Brust zu springen und Rhun musste sich auf den leuchtenden Stab stützen, um nicht erbärmlich auf die Knie zu sinken.
Ob es Einbildung war, die menschliche Panik, oder der Monsterbiss, der sich von seiner Schulter ausbreitete und seinen Körper einzunehmen versuchte — Rhun wollte nicht wissen, wieso er plötzlich so kraftlos war.
Doch der Cruor spürte, wie bei dem letzten Gedanken immer mehr Schwindel über ihn herfiel.
Eine weiße Gestalt tauchte hinter ihm auf — er erkannte ihre seelenlosen, kalten Züge nur im Augenwinkel. Er krachte auf den Boden, sprang zur Seite, wirbelte mit dem Schwert herum und hackte in die zähe Masse, aus der das Geschöpf bestand. Sie taumelte vorwärts; streckte dabei ihren grässlichen Arm nach Oryn aus.
Rhun brüllte eine Warnung, die in seiner Kehle schmerzte.
Der blaue Lichtkegel des Aart brach kurz in sich zusammen, bevor Oryn nach rechts sprang. Der Arm des Monsters striff ihn — traf ihn vielleicht.
Er hatte keine Zeit darauf zu achten, da Rhun sich wieder auf die Beine stellen musste.
Die Gesichter der schwarzen Monster verzerrten sich. Durch das Licht der Sterne verzerrt, starrten sie ihn an. Trotzdem sie keine Augen hatten — man spürte ihre Faszination.
Kenga hatte sich schräg vor Rhun gestellt. Der Nachtschwärmer hielt sich seitlich den Brustkorb. »Eine Pause!«, rief er kläglich.
Rhun blickte erneut zurück — auf die fünf Minuten Fußweg, die sie erst zurückgelegt hatten. Für einen Moment stand er regungslos da, dann rang er sich ein Nicken ab und bog zur Seite — dort, wo sich ein kleiner Drogerie- Laden befand, der damals sehr beliebt gewesen war.
Er wusste, dass das Geschäft nur eine Tür hatte, ebenerdig gebaut war und dass das obere Stockwerk über keine Fenster verfügte, da dort angeblich der Stamm als Heilmittel verwendet worden war.
Er trat gegen das Holz, das sofort nachgab.
In der Dunklehiet des Raums musste er blinzeln. Sein weißes Licht wanderte im leeren Verkaufsraum, dessen Duft noch so stark war, als sei er am gestrigen Tag erst verlassen worden.
Die anderen folgten ihm hinein. Als erster Kenga, dessen Hemd an der Stelle blutig war, wo er nicht durch Eisen geschützt war.
»Ein Monster?«, fragte Chase, der sich im selben Augenblick auf die Treppe fallen ließ.
Rhun stellte sich an die Tür und presste diese mit dem Rücken zu. Seine Miene zuckte zwischen Panik und Erleichterung — und er hasste, dass er es nicht kontrollieren konnte. Den Rausch, den er fühlte, ließ ihn voller Unbehagen erstarren.
Wenn alle Menschen so waren, wunderte es ihn nicht, wieso sie einen Krieg im Westen führten.
»Kein Monster«, krächzte Kenga. Er presste seine Hand auf die Wunde, die heftig blutete. »Irgendjemand hat mich mal wieder getroffen. Was mache ich denn falsch?«
Ob es an seiner gräulichen Haut lag, am Licht, oder am Blutverlust — der Nachtschwärmer war zu blass.
»Das fängt ja ideal an«, sagte Oryn, dessen Stimme als einzige voll klang.
Rhun navigierte durch das Geschäft, um nach sauberen Tüchern zu suchen. Er nahm einen parfümierten Schal und eine Packung Reinigungstücher, bevor er sich zu Kenga kniete.
Der damalige Stadtwächter zuckte zur Seite, als habe er einen Geist gesehen. »Veu«, murmelte er verwaschen. »Sie sehen kaum anders aus, als diese Viecher. Erschrecken Sie mich doch nicht.«
»Binden Sie mir eine Glocke nächstes Mal um, wenn es Sie so stört, Kenga.« Rhun riss das Tuch auseinander.
Die anderen waren still — alle schienen zu lauschen.
Rhun verfluchte sich dafür, dass er noch immer am ganzen Körper zitterte.
Er fixierte die Wunde, die Kenga hatte. Es war ein sauberer Schnitt — an einer Stelle unheimlich tief — aber es würde nicht sein Leben gefährden.
Der Nachtschwärmer nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Der Geruch von Alkohol kroch heraus. Nachdem Kenga sich abgefüllt hatte, zischte er schmerzverzerrt, da Rhun die Wunde reinigte.
Ein Geräusch regte sich draußen. Schritte donnerten auf dem Holzweg außerhalb.
Dolunay, Chase, Oryn und Verde verließen das Gebäude, um nachzusehen.
»Wie sieht es mit Ihrer Bisswunde aus, Veu?«, fragte Kenga ablenkend.
»Ich kann nicht einschätzen, wie schnell sie sich ausbreitet«, gestand er. »Mein Unbehagen kann auch schlichtweg davon herrühren, dass ich Angst habe, weil ich mit den Monstern reden muss.«
»Wollen Sie mit denen nicht reden?«, fragte Zorns namenloses Anhängsel.
»Selbstverständlich nicht. Ich weiß, dass sie wollen, dass ich bei ihnen bleibe.«
»Wenn Sie wollen, kann ich für Sie bei den Monstern bleiben«, bot der Bursche an.
»Du bist scheinbar wenig interessiert daran, weiterzuleben.«
»Ich habe keine Angst vor dem Tod, Veu. Ich bin ein erwachsener Cruor im Körper eines Kinds.«
Rhun sah ihn an, lang genug, dass der junge Mann sich unwirklich anfühlte. »Ich wünsche nicht, dass du dich aufopferst, weil du dich beweisen möchtest.« Doch Rhun wollte selbst nicht sterben. Wenn sich dieser Cruor — wenn er wirklich einer war — für ihn opfern würde, würde er Allerick ewig danken.
»Ich bin ein Cruor, Veu, ich kann verantwortungsbewusst sein.«
»Kannst du vorweisen, dass du ein Cruor bist?«, fragte Rhun, während er Kenga verarztete.
Der Nachtschwärmer öffnete träger die Lider. »Sie meinen das doch wohl nicht ernst, Veu. Der Junge lügt Sie an.«
Rhun wollte dennoch, dass der Bursche seine Frage beantwortete. Die Monster wollten einen Cruoren — egal welchen. Wenn er Glück hatte, würden sie den Jungen tatsächlich akzeptieren.
»Ich habe den Stamm in mir in mir«, betonte der ruhig. »Zorn hat einige Experimente an mir durchgeführt. Ich bin sogar mehr ein Cruor, als Sie, befürchte ich.«
»Versprich mir, dass du es willst. Und dass du es nicht für mich tust.«
»Ich verspreche es Ihnen, Veu.«
Ebenso gut hätte man ein unedliches Gewicht von Rhuns Brustkorb heben können. Er atmete so tief ein, als sei es das erste Mal, dass er es könnte.
Er musste nicht sterben.
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